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Systemische Prämissen
ОглавлениеMenschliche Erlebnis- und Verhaltensweisen erfolgen immer in Zusammenhang mit und in Bezug auf andere Menschen und andere Umweltkräfte. Die relevante Grundeinheit, die es zu betrachten gilt, ist, über den individuellen Organismus hinausgehend, das ganze Ökosystem, in das er eingebettet ist. Das Ökosystem umfasst zumindest den Organismus und die ganze biosoziale und physikalische Umgebung, d. h. Menschen, Tiere, Pflanzen, geografische Faktoren usw. (Guntern 1984). Ohne diese ökosystemischen Umgebungsbedingungen ist ein Organismus nicht verstehbar, sein individuelles Sein nicht denkbar.
Vom ursprünglichen Wortsinn her bedeutet „System“ etwas, was zusammen- (syn) -steht (stamein) oder -liegt (histamein). Eine gängige Definition lautet: „ein Satz von Elementen und Objekten zusammen mit den Beziehungen zwischen diesen Objekten und ihren Merkmalen“ (Hall u. Fagen 1956). Hiermit wird intensiv auf Wechselwirkungen fokussiert und nicht auf den Elementen inhärente „Eigenschaften“. Es sind diese Wechselwirkungen, die den Zusammenhalt des Systems gewährleisten. Diese Organisation der Wechselwirkungsmuster sind genauso wesentlich wie die einzelnen Elemente des Systems. Diese Wechselwirkungen (oder auch Beziehungen) laufen nicht planlos und zufällig ab, sondern folgen bestimmten Regeln. Für lebende Systeme wird angenommen, dass die Regeln darauf ausgerichtet sind, das System dazu fähig zu machen und sein Bestehen auch ganz darauf auszurichten, dass es sich in sich selbst organisierender Weise selbst reproduziert (Autopoiese, siehe Maturana 1982). Leben reproduziert sich selbst, die wichtigste Aufgabe des Lebens scheint das (nach der Thermodynamik unwahrscheinliche) Produzieren von Leben zu sein. Dies wird durch den Aufbau von Negentropie-Ordnungsprozessen gewährleistet – so „trotzen Organismen gerade dem zweiten thermodynamischen Hauptsatz und produzieren Ordnung statt Entropie“ (Willke 1991, S. 98 f.). So schaffen lebende Systeme gegen die Wirkung starker Außenkräfte „über hyperzyklische, metabolische und schließlich Sinn konstituierende Prozesse … unwahrscheinliche Zustände und organisierte Komplexität“, die „Gesetzmäßigkeiten aufweist, welche sich nicht auf die Gesetz der Physik reduzieren lassen“ (ebd.).
Damit also ein lebendes System sein Leben sichern und sein Leben reproduzieren kann, entwickelt es selbstrückbezüglich Regeln, die seinen Aufbau auch erst wieder ermöglichen und die u. a. auch wieder dafür sorgen sollen, dass die Regeln weiter aufrechterhalten werden. Da dies aber wieder in Auseinandersetzung mit einer sich ständig fluktuierend ändernden Umwelt geschieht, reicht es nicht aus, die bisherigen Regeln alle starr zu belassen (Homöostase), sondern einen Teil der Regelungen muss das System auch immer wieder in Abstimmung mit der Umgebung verändern (Morphogenese), um gerade zu sichern, dass seine Stabilität weiter ermöglicht wird: „Wer eini-germaßen der Gleiche bleiben will, muss sich ständig verändern …“ Es geht also immer um die optimale Balance zwischen Homöostase- und Morphogenesetendenzen im Austausch mit der Umwelt.
Im sozialen Bereich weisen diese Fähigkeiten z. B. alle jene gewordenen Gruppen auf, die sich als funktionale Einheiten mit Zielen entwickelt haben und sich an darauf abgestimmten Regeln orientieren. Familien, aber auch andere Gruppen, ebenso z. B. Therapeut-Patient-Beziehungen können so als lebende soziale Systeme verstanden werden. Auch diese Systeme sind natürlich wieder in größeren Systemen vernetzt. Allerdings kann es bei sozialen Systemen auch häufig solche geben, die von vornherein darauf ausgelegt sind, für bestimmte Ziele zu wirken und sich dann auch gerade als Teil ihrer sinnvollen Organisation selbst wieder aufzulösen, z. B. Projektorganisationen, Hilfsorganisationen, die nur für die Abwicklung einer bestimmten Notsituation gegründet wurden, oder eben auch Therapeuten-Patienten-Systeme etc. Der Zweck des „Lebens“ solcher Systeme ist eben dann nicht der Selbstzweck, ihr Überleben auf Dauer zu sichern, genau das würde vielleicht eher Probleme schaffen. Dies stellt einen wichtigen Unterschied zu biologischen lebenden Systemen dar, sowohl im Hinblick auf das Verständnis der Organisation und Dynamik solcher Systeme als auch auf die Bildung eventueller Interventionen. Deshalb sollten biologische Systemmodelle (z. B. Homöostasemodelle aus der Medizin) nicht platt übertragen werden auf die Betrachtung sozialer Systeme.
Individuelle Erlebens- und Verhaltensprozesse werden also auch aufgefasst als Phänomene, die sich in Interaktionsnetzwerken ereignen und auf die solche Regelungen einwirken. Sie können nicht mehr nur aus Betrachtungen des „Ich“, „Selbst“ usw. beschrieben werden. Dabei üben alle an einer Interaktion Beteiligten wechselseitig (oft synchron) Einfluss aufeinander aus, sie bestimmen auch immer wechselseitig die jeweiligen Bedingungen der anderen im Interaktionsfeld. Sie wirken mit all ihren Beiträgen ständig als intensives Feedback füreinander. Linear-kausale Zuschreibungen im Sinne vom „Dies war die Ursache, dies die Wirkung“ (z. B. eines Verhaltens) stellen eine willkürliche und verzerrende Interpunktion dar (Watzlawick, Beavin u. Backson 1967), die sofort auch wieder rückbezüglich das Geschehen beeinflusst (z. B. eine Schuldzuweisung). Bei Prozessen, in denen die „Wirkungen“ auf die „Ursachen“ zurückwirken und so aus den „Ursachen“ wieder „Folgen“ werden und umgekehrt, spricht man von zirkulären Prozessen (Bateson 1982).
Noch einmal zusammengefasst, sind für systemisch orientiertes Arbeiten in Therapie und Beratung wichtige Aspekte:
Zirkularität: Nicht nur der individuelle Zustand einzelner Mitglieder ist wichtig, sondern besonders die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen ihnen sind es. Jedes Verhalten jedes Beteiligten ist gleichzeitig Ursache und Wirkung des Verhaltens der anderen Beteiligten (Zirkularität). So ist es auch wenig sinnvoll, bestimmte „Charaktereigenschaften“ zu definieren, zu sagen, eine Person „sei“ so, sondern ihr „Sosein“ wird verstanden als Teil eines Wechselwirkungsprozesses, einer Interaktion in ihrem systemischen Sinnzusammenhang.
Kommunikation: Eine wichtige Betrachtungs- und Gestaltungsebene ist die Art, wie Kommunikation wechselseitig geregelt wird, ebenso die Art, wie diese Kommunikation psychische und biologische Abläufe beeinflusst und wie diese wiederum die Kommunikation beeinflussen (Feedbackschleifen). Hierbei muss besonders berücksichtigt werden, wer wie wann mit wem als zum relevanten System gehörend oder nicht dazugehörend betrachtet wird (System-Umwelt-Grenzen).
Kontext: Alles gewinnt seine Bedeutung, seinen Sinn und seine Wirkung erst in seinem Situationszusammenhang, seinem (ökosystemischen) Kontext. Werden verallgemeinernde, aus den jeweiligen Kontexten gerissene Beschreibungen vorgenommen, etwa bei psychopathologischen oder Organisationsdiagnosen, erscheinen viele Phänomene in ihrem Sinn als nicht mehr verstehbar.
Dies hat gravierende Folgen für die Beteiligten selbst, aber auch für Berater, die Aufträge erhalten, die auf der Basis solcher aus dem Kontext gerissenen Verallgemeinerungen und Individualisierungen erteilt werden. Ob zum Beispiel etwas als Kompetenz, als verstehbarer, womöglich wertschätzbarer Lösungsversuch oder gar als adäquate Lösung für bestimmte Ziele unter bestimmten Situationsbedingungen verstanden werden kann oder ob genau das gleiche Phänomen eher als Inkompetenz, Krankheit, Versagen gesehen wird, hängt ausschließlich vom Kontextrahmen ab, in den man es stellt und in dem man es sieht. Erlebte (oder erlebt zu unserer Zeit) beispielsweise jemand als Mitglied einer Kultur mit dionysischen Ritualen, in der zum Zweck religiöser, „höherer“ Ziele (ekstatische Erfahrungen) intensivster Alkoholkonsum (oder der Konsum anderer Hilfsmittel zum Erreichen von Ekstase, z. B. Peyote, Ayahuasca etc.) praktiziert wird, einen enormen Kontrollverlust, so gilt dies als beglückende und bereichernde Erfahrung, die den Erlebenden ehrt und ihm in seiner Gemeinschaft eine bedeutsame Position sichert. Praktiziert jemand in unserer Gesellschaft einen physiologisch völlig identischen Kontrollverlust aber in einer Kneipe (also in einem anderen Kontext), die offensichtlich nicht einen gleichwertigen rituellen Sinnzusammenhang repräsentiert wie ein tief in der Tradition eines sozialen Systems verwurzeltes religiöses Ritual, dann gilt dies eher als ekelhafte, beschämende, ja kranke Verhaltensweise, die den Erlebenden tendenziell sogar aus der Gemeinschaft der als gleichwertig Geltenden ausgrenzt.
Deshalb ist es für kompetenzorientiertes systemisches Arbeiten von überragender Bedeutung, dass die relevanten Beobachter alle Phänomene so beschreiben und so mit Zielaspekten und Kontextbedingungen in Zusammenhang stellen, dass sichtbar werden kann, wofür (z. B. für welche Ziele, für welche Situationen) ein bestimmtes Verhalten überhaupt als Kompetenz verstanden werden könnte (Prinzip der Kontextualisierung und der Utilisation).
„Krankheit“ wird, insbesondere auch psychische und psychosomatische, dies folgt aus solchem Verständnis, nicht als „wirklich wahres“ Phänomen angesehen, sondern ebenfalls als Konstrukt. Aber: Gerade das Konstrukt „Krankheit“ kann eminent wichtiges Organisationselement eines Systems werden, deshalb sollte aus dieser konstruktivistischen Sicht keineswegs zwangsläufig geschlossen werden, man solle z. B. in einer Therapie das Konstrukt „Krankheit“ zielgerichtet auflösen, um so die Menschen zu unterstützen, aus dem Erleben herauszukommen, ausgelieferte Opfer zu sein (wie dies heute noch häufig in der systemischen Therapie praktiziert wird – übrigens gerade von unserer Heidelberger Gruppe vorgeschlagen, siehe z. B. Retzer 1991). Darüber wird später noch mehr zu reden sein (siehe die Kapitel über Sucht bzw. Depression).
Konstruierte „Wirklichkeit“ (= wirksames Erleben): Wirklichkeit wird durch die Art konstruiert, wie etwas von etwas anderem unterschieden wird, wie es bezeichnet, wie es erklärt und wie es bewertet wird (Spencer-Brown 1969). Wird etwas zum Beispiel als Defizit bewertet und wird in erster Linie darauf geschaut, was fehlt, was sich an Unerwünschtem abspielt, ohne dass auf Ausnahmen davon hingewiesen würde (z. B. auf Fälle, in denen etwas Gewünschtes, „Erfolgreiches“ ablief), oder wird es mit vielen Verallgemeinerungen versehen („immer“, „nie“ etc.), wird damit das Bewusstsein aller Beteiligten auf diese Sichtweisen hin eingeengt, quasi „hypnotisch gefärbt“, auch das der Berater. Dann können vorhandene Kompetenzen und erfolgreiche Lösungsversuche nicht mehr gesehen oder viel undeutlicher werden; dies bewirkt dann auch ein Erleben von weniger Kompetenz und Selbstvertrauen.
Muster und Regeln: Werden in einem System solche Wirklichkeitskonstruktionen gestaltet durch miteinander verkoppelte Beiträge, die sich regelhaft wiederholen, wird die Beschreibung dieser Verkoppelungen von Beiträgen in Wechselwirkung „Muster“ genannt. Typische „Bausteine“ solcher Muster sind z. B. die Art, wie ein Phänomen beschrieben wird, wie ihm Bedeutung gegeben wird, z. B durch Erklärungen, Bewertungen, Schlussfolgerungen, welche Lösungsversuche daraus abgeleitet werden und welche Reaktionen darauf wieder gewählt werden, welches Verhalten, welche emotionale Reaktion usw. Dies sind Ebenen der Musterbildung, die auch in den interaktionellen Austausch einfließen. Ich nenne sie „Makromuster“.
Gleichzeitig läuft aber immer im internalen Erlebnissystem der Beteiligten eine Vielzahl von Prozessen ab, auch in regelhafter Weise. Diese sind für die Wahrnehmung und Verarbeitung all dieser Außenreize zentral, ich nenne sie „Mikromuster“. In der Diskussion der hypnotischen Prozesse erlangen gerade diese „Mikromuster“ größte Bedeutung.
Jedes System zeigt Tendenzen, Muster stabil zu halten (Homöostase), da dies Orientierung und offensichtlich auch Sicherheit gibt. Jedes System braucht aber auch in einer sich ständig ändernden Umwelt Musteränderungen (Morphogenese), da es sonst nicht überleben kann. Die Regelungen in sozialen Systemen wirken auf das Erleben der Beteiligten, und dies wirkt wieder auf die Regelungen zurück.
Typische Regelungsbereiche, die wir in lebenden individuellen und sozialen Systemen immer wieder finden, sind z. B. Definition und Auswahl der Beteiligten (wer gehört dazu, wer nicht?); Zielentwicklungsprozesse; die Art, wie Ziele kommuniziert werden; Entwicklung der Schritte zum Ziel; wie und worüber wird kommuniziert bzw. darf kommuniziert werden? Grenzbildungen innen, zwischen den Teilbereichen des Systems; Nahtstellen – Koordination intern, wie verbinden sich die abgegrenzten Innenbereiche wieder? Aspekte der Wertschätzung, Förderung, Motivation der Beteiligten; Abspracheregelungen; Rollenverteilung; Entscheidungsregeln bzw. Hierarchieprozesse; Feedbackregelungen; Konfliktregelungen; informelle Begegnungsrituale; Grenzbildung nach außen; Nahtstellen – Koordination nach außen (z. B. Nachbarn, Freunde, Kunden, andere Teams).