Читать книгу Liebesaffären zwischen Problem und Lösung - Gunther Schmidt - Страница 18
Unbewusste und unwillkürliche Prozesse als wertvolle Kräfte des Systems
ОглавлениеEin zentrales Grundprinzip ericksonscher Arbeit ist nun in ganz anderer Weise, dass solche unwillkürlichen Prozesse auf unbewusster Ebene quasi autonom (also auch ohne ein dabei aktiv beteiligtes bewusstes, gezieltes Wollen) wirksam werden können. Das so genannte unbewusste Wissen kann so verstanden werden als sehr wichtiger, vertrauenswürdiger Bereich, dessen hilfreiche Kompetenzen man wie eine eigenständig funktionsfähige „Abteilung“ nutzen kann. Perspektiven dieser Art drücken eigentlich nur aus, was jeder Mensch in seiner Alltagserfahrung ohnehin aus vielen Episoden kennt.
Oft erlebt man ja z. B., dass man sich nach dem Namen einer Person fragt oder nach einem bestimmten Buch, dies einem dann aber nicht „einfällt“ (dieser Begriff weist ja schon darauf hin, dass etwas offenbar von irgendwoher ins Bewusste hereinfällt). Je mehr man sich dann bewusst bemüht, sich an das Erfragte zu erinnern, desto mehr „entgleitet“ es einem. Man gibt dann vielleicht auf und wendet sich anderen Dingen zu. Nach Stunden, man hat vielleicht sogar schon wieder vergessen, dass man sich überhaupt gefragt hat, „fällt“ es einem dann doch noch spontan, „wie aus heiterem Himmel“, ein, obwohl (besser gesagt, gerade weil) man sich bewusst und willkürlich überhaupt nicht mehr darum bemüht hat, sich zu erinnern. „Es“ hat sich, ganz eigenständig und sehr kompetent, für einen erinnert.
Prozesse, die üblicherweise außerhalb der bewussten Wahrnehmung ablaufen, also von ihr dissoziiert waren (so genannte unbewusste Prozesse), äußern sich meist am ehesten durch unwillkürliche Impulse, die so, über den Weg der Unwillkürlichkeit, quasi Besuche mit Informationsangeboten im bewussten Wahrnehmungs- und Kommunikationszusammenhang darstellen. Will man ihren Wert verstehen und sie nutzen, setzt dies einen sehr wertschätzenden Umgang mit ihnen voraus. Dies heißt aber nicht, dass man jedem spontanen Impuls folgen müsste, ratsam ist aber, in respektvollen Dialog mit ihnen zu treten, um mit ihrer Energie zieldienlich für das Gesamtsystem kooperieren zu können.
Dafür wäre es gut, wenn ein Mensch mit seinem so genannten „Ich“, d. h. dem willkürlichen, bewussten Wahrnehmungsbereich, der unsere in unserer Kultur gewohnte Alltagsidentität repräsentiert, eine wertschätzende, kooperative Beziehung zu dieser Seite seiner unwillkürlichen Kompetenzen herstellen würde. „Ich“ und „Es“ (also dieser unwillkürliche, intuitive Bereich) sollten, metaphorisch gesagt, gestaltet werden wie ein kooperatives Team.
Wenn sich ein Mensch einseitig parteiisch macht für die Seite der kognitiven Funktionen, wenn ihre so genannte Rationalität zur vorrangig oder allein gültigen Entscheidungsbasis wird und das „Irrationale“ aus dem unwillkürlichen Erlebnisbereich tendenziell vernachlässigt oder abgewertet wird, blockiert er damit einen ganz entscheidenden Teil seiner Wahrnehmungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Die moderne Gehirnphysiologie kann überzeugend nachweisen, dass ohnehin praktisch jeder Entscheidungsprozess zunächst schon auf unbewusster Ebene in den Bereichen des Stamm- und Mittelhirns, insbesondere im limbischen System, vorentschieden ist, bevor er ins bewusste Wahrnehmen dringt (Roth 1997; Damasio 1997). Das Primat des aufgeklärten, rationalen, bewussten Denkens ist schlicht eine Illusion, die aber destruktive Folgen haben kann. „Die Erfahrung mit Patienten [mit Hirnschädigungen; G. S.] lässt darauf schließen, dass die kühle Strategie, die Kant und andere vertreten haben, weit eher der Art und Weise entspricht, wie Patienten mit präfrontaler Schädigung [des Gehirns; G. S.] an Entscheidungen herangehen, als der üblichen Verfahrensweise“ (Damasio 1997) gesunder Menschen. Die Großhirnrinde braucht also für erfolgreiche Entscheidungsfindung und Kommunikation dringend die „irrationalen“, entwicklungsgeschichtlich älteren Bereiche unseres „dreifältigen Gehirns“ (wie Paul MacLean, der Pionier der Erforschung des limbischen Systems, es nannte – das Stammhirn und das Mittelhirn, so MacLean, entsprechen dem Entwicklungsstand der Reptilien, z. B. des Alligators, und der frühen Säugetiere, z. B. der Kuh). „Auf das limbische System zu hören ist die klügste Verhaltensweise überhaupt. Die Ebene des Verstandes und der Vernunft [gemeint ist die rational-analytische Vernunft der Großhirnrinde; G. S.] bildet sich in der Hirnentwicklung erst sehr spät aus und erhält auch nie einen im wahrsten Sinne entscheidenden Einfluss auf das Verhalten. Das limbische System benutzt sprichwörtlich den Verstand, um komplexe Situationen differenziert bewerten zu können, gibt aber nie die Letztentscheidung ab“ (Roth 2003, S. 143). Der bewusste Verstand wirkt also höchstens als eine Art Berater, der sehr nützlich und wichtig ist. Aber: Der die Entscheidungen fällende „Vorstand“ des Systems sitzt im limbischen System, eine Willensfreiheit auf bewusster, willkürlicher Ebene haben Menschen nicht (Roth 2003, S. 145).
Dieses intuitive, vorbewusste Wissen repräsentiert sich dort aber auf andere Art, quasi mit einer anderen Sprache als das so genannte bewusste Wissen. Es drückt sich in einer anderen Form von Logik aus (mehr im Sinne von Sowohl-als-auch, also im Gegensatz zur aristotelischen Logik), in Bildern, Empfindungen, mehr oder weniger diffusen Gefühlen, eben in vorsprachlicher, sinnlicher Weise („Der Alligator und die Kuh in uns haben eben noch keine Sprache“). Für unsere rationale, bewusste Denkwelt wirkt dies oft fremd und unverständlich, meist werden die aus der irrationalen Welt kommenden Botschaften in unserer Kultur nicht so ernst genommen oder sogar als Grundlage von Entscheidungsprozessen verpönt. Die moderne ericksonsche Sicht plädiert nun keineswegs dafür, dass dieser intuitive Bereich allein dominieren sollte und die Kompetenzen des bewussten, rationalen Denkens übergehen sollte. Vielmehr stellt sich die Aufgabe, eine wertschätzende Kooperationsbeziehung zwischen diesen verschiedenen Seiten menschlicher Kompetenz aktiv herzustellen und zu nutzen. Dies erfordert den Aufbau und die systematische Beachtung einer Art innerer Moderatorenfunktion im Menschen für diese unterschiedlichen Kulturprozesse in uns, die immer gleichzeitig ablaufen. Nur dann können wertschätzende Verhandlungen und Übersetzungsleistungen zwischen diesen Teilbereichen unserer Kompetenz entstehen und eine ganzheitliche Integration unserer Kompetenzbereiche gewährleistet werden.