Читать книгу Liebesaffären zwischen Problem und Lösung - Gunther Schmidt - Страница 20
Potenzialhypothese
ОглавлениеDieses uns so vertraute, selbstverständliche Geschehen im Traum belegt nun aber auch eindeutig eine zentrale Annahme ericksonscher Arbeit. Wenn wir bedenken, welche enormen Veränderungen wir, je nach Trauminhalt und Beobachterposition im Traum, in unterschiedlichste Erlebnisrichtungen erzeugen können (üblicherweise allerdings, außer während des luziden Träumens, auf unwillkürlicher Ebene, denn wir träumen ja unwillkürlich), dann kann das nur klar heißen, dass wir in uns enorme Potenziale der Erlebnisgestaltung tragen. Genau diese Potenziale versucht die ericksonsche Hypnotherapie zu nutzen. So kommt sie auch zu einer entscheidenden Prämisse, die ich gerne die Potenzialhypothese nenne. Die ericksonsche Hypnotherapie geht von der Grundannahme aus, dass in praktisch allen Fällen die Grundkompetenzmuster, die für eine gesunde Lösung von psychischen, psychosomatischen und/oder interaktionellen Problemen verwendet werden, im Erfahrungsspektrum der Beteiligten gespeichert sind (Erickson u. Rossi 1981; Gilligan 1991; Schmidt 1992b). Jedem Menschen steht eine Vielzahl von Erlebnismustern – meist gespeichert in seinem unbewussten Erlebnisrepertoire – zur Verfügung. Jeder Erlebnisprozess fokussiert selektiv auf bestimmte Wahrnehmungsmöglichkeiten; mit diesen erlebt man sich als assoziiert, andere werden ausgeblendet oder treten in der Wahrnehmung zurück, sie werden dissoziiert. Dabei bleiben sie aber, selbst wenn sie „vergessen“ werden, als Potenzial verfügbar. Dies gilt auch für schon einmal erlebte Kompetenzmuster.
Ein weiteres kleines Beispiel soll diese These untermauern: Milton Erickson erzählte in persönlichen Begegnungen gerne, wie er die Wirkung solcher unwillkürlichen Fokussierung selbst in fast überwältigender Weise erlebt hatte (diese Episode wurde für ihn auch ein wichtiger Startimpuls zur späteren Entwicklung seiner Ansätze). Er war ja durch eine verheerende Polioinfektion im Alter von 17 Jahren (im Jahre 1918) völlig gelähmt. Über viele Monate hinweg lag er völlig ausgeliefert und hilflos im Bett. Seine Eltern, arme Bauern, konnten ihm nicht viel Unterstützung oder teure medizinische Versorgung anbieten. Sie bastelten ihm aber einen Schaukelstuhl, damit er wenigstens etwas Abwechslung erleben konnte. Dafür trugen sie ihn dann jeweils aus seinem Bett in diesen Schaukelstuhl und banden ihn mit Stricken darin fest, damit er nicht herausfiel (er konnte sich ja selbst nicht halten). Da die Familienmitglieder meist alle auf dem Feld arbeiten mussten, ordneten sie jeweils einige Male am Tag jemanden von ihnen ab, der zu Milton ins Wohnhaus ging und sich mit ihm unterhielt und ihn schaukelte. Eines Tages, Milton saß mit seinem Schaukelstuhl mitten im kleinen Wohnzimmer, kam niemand – wohl, weil alle wegen der Ernte so viel zu tun hatten. Milton erzählte mir noch im hohen Alter im Jahr 1979 so intensiv, als ob es erst vor kurzer Zeit geschehen sei, welch enorme Sehnsucht er empfunden habe, doch wenigstens am Fenster sitzen zu können, um hinauszuschauen. Aber es war ihm völlig klar, dass er dafür keine Chance haben würde, völlig gelähmt, wie er war. Mehrere Stunden saß er so da und war seiner Sehnsucht überlassen. Plötzlich schaukelte sein Schaukelstuhl. Zunächst war er sehr irritiert, da er dies ja nicht bewirkt haben konnte (er war ja gelähmt) und jemand anderer auch nicht da war. Dann aber begriff er sehr rasch, dass doch er es gewesen war, der den Schaukelstuhl zum Schaukeln gebracht hatte, allerdings nicht willkürlich. Denn er bemerkte nun auch bewusst, dass er als Ausdruck seiner Sehnsucht offensichtlich stundenlang unwillkürlich und vorbewusst imaginiert hatte, wie er sich zum Fenster „hinschaukelte“. Natürlich konnte er damit keine geschädigten Nerven und Muskelaktionen verändern. Aber diese Imagination hatte offenbar sehr wirksam alle unwillkürlichen Muskelaktionen und Bewegungsmuster, zu denen seine unwillkürliche Muskulatur noch fähig war, wie von allein aktiviert. Nachdem er dies verstanden hatte, fokussierte er konzentriert monatelang permanent auf alle Erfahrungen mit erfolgreichen Bewegungen, an die er sich erinnerte, ebenso auf alle Empfindungerfahrungen. Weiter beobachtete er genau seine kleine Schwester, die gerade laufen lernte, und imaginierte, wie er sich in ihren Körper begeben würde, um genauso laufen zu lernen. Nach mehreren Monaten hatte er so viel von seinen unbewussten und unwillkürlichen Potenzialen aktiviert, dass er tatsächlich wieder laufen konnte und mit intensiver weiterer Übung nach ca. einem Jahr nur noch einen leichten Krückstock rechts brauchte (M. Erickson, persönliche Mitteilung; Rossi 1991). Dass Milton nach diesen Erfahrungen sehr überzeugt war von dem enormen Kompetenzpotenzial in unserem unbewussten Erfahrungsrepertoire und dies auch sehr überzeugend weiter vermitteln konnte, dürfte kaum noch überraschen.
Sogar, wenn jemand lange Jahre sehr unter schweren Symptomen gelitten hat und sich selbst als völlig inkompetent für eine hilfreiche Entwicklung ansieht, trägt er dennoch alle relevanten Potenziale in sich, die für eine hilfreiche Lösung erforderlich sind. Diese wurden, so eben die weitere Annahme, aber offenbar massiv dissoziiert, sodass sie nicht mehr wahrnehmbar und zugänglich sind.
Aus dieser Sicht werden Menschen als „multiple Persönlichkeiten“ in einem sehr positiven Sinne gesehen (Schmidt 1986c), bei denen die jeweils gerade gelebte und erlebte „Persönlichkeit“ durch die Art der Aufmerksamkeitsfokussierung bestimmt wird. Je nachdem, wohin, d. h. auf welche der vielen möglichen Erlebnisbereiche, gerade fokussiert wird, wird man partiell zu jemand anderem, springt praktisch eine unserer vielen möglichen Persönlichkeitsvarianten ins Bewusstsein und „übernimmt die Regierungsfunktion“ (siehe auch Ornstein 1992). Quasi gibt es uns gar nicht als statische Wesen, wir er-finden und er-zeugen uns eigentlich Sekunde für Sekunde unseres Er-Lebens durch Fokussierung von Aufmerksamkeit. Auch Familien, ebenso Organisationen (Schmidt 1992a, b) zeigen eine Vielzahl von Organisations- und Interaktionsmustern und können daher auch als „multiple Familien“ beschrieben werden.