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Der Weg durch wichtige Spielarten der Praxis
von systemischer Therapie und Beratung

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Die hier aufgeführten Grundprämissen systemischer Konzepte sagen noch nicht, quasi sich selbst erklärend, was sie nun für die therapeutische Praxis heißen. Die komplexen systemtheoretischen Konstrukte müssen übersetzt werden auf praktisches Handeln in Therapie und Beratung. In diesen Kontexten geht es in aller Regel eben nicht darum, schöne akademische Metabeschreibungen zu entwerfen in Bezug darauf, wie man die Dynamik von Systemen verstehen könnte. So etwas wäre in Therapie oder Beratung allenfalls einmal ein Mittel zum Zweck. Vielmehr sind dies immer Kontexte, in denen Menschen in aller Regel mit spezifischen Anliegen kommen und eine professionelle Dienstleistung in Auftrag geben. Diese Kunden und Kundinnen (in manchen Kontexten wie z. B. dem „Gesundheitswesen“ – welches wohl besser „Krankheitswesen“ genannt würde – werden sie immer noch z. B. „Patienten“ und „Patientinnen“ genannt) kommen mit der berechtigten Erwartung, dass dann auch von den Auftragnehmern (Therapeuten und Therapeutinnen, Berater und Beraterinnen) spezifisch etwas geleistet wird, das ihren Anliegen dient. Alle Maßnahmen und Angebote an die Kunden sollten konsequent daraufhin geprüft werden, ob sie diesen Anliegen effektiv dienen, die Güte eventueller Interventionen sollte auch daran abgelesen werden. Wir brauchen also eine auftragseffektive Umsetzung systemischer Theorie in die Praxis.

In den meisten Fällen werden an Therapeuten bzw. Berater Aufträge mit Veränderungserwartungen herangetragen. Wie dann damit umgegangen wird, hängt wieder davon ab, wie man sich a) die Entstehung und Aufrechterhaltung von Problemen und Symptomen und b) die Entwicklung von Veränderung und, daraus folgernd, c) die Rolle und Aufgaben von Therapeuten bzw. Beratern vorstellt.

In den diversen „traditionelleren“ Therapieverfahren gibt es typischerweise bestimmte Annahmen darüber, was für eine hilfreiche, gesundheitsförderliche Entwicklung in der Therapie nötig sei. Diese heben je nach Konzept auch sehr unterschiedliche, teilweise sich auch widersprechende Aspekte hervor, z. B. die Idee, man müsse zunächst im therapeutischen Prozess die „Übertragung“ sich entwickeln lassen, die man dann zu analysieren habe, um die Genese der Probleme im geschichtlichen Kontext zu „verstehen“ und „durchzuarbeiten“, emotionale Prozesse müssten aktiviert, eventuelle emotionale „Blockaden“ aufgelöst, Lerndefizite aufgefüllt werden etc.

In der systemischen Arbeit aber geht man davon aus, da ja jede Realität ohnehin als jeweils konstruiert verstanden wird, dass ein Problem Ausdruck von ungünstig wirkenden Realitätskonstruktionen (individuell und interaktionell) in bestimmten Kontexten ist. Hinzu kommt als wichtiges Kriterium, wie man sich aus systemischer Perspektive das Erzeugen von Information vorstellt. Information entsteht aus dieser Sicht jeweils durch das Bilden von Unterschieden, Information ist der Prozess und das Ergebnis von Unterschiedsproduktion. Deshalb versucht alle Therapie, „im weitesten Sinne die Beschreibungen zu verändern, über die Wirklichkeit erfahren wird“. Sie erscheint als „ein gemeinsames Ringen um Wirklichkeitsdefinitionen. Alle psychologischen Maßnahmen verändern, wenn sie erfolgreich sein sollen, die Art und Weise, wie in der Familie übereinander, über Probleme, über psychische Störungen, Krankheit und die damit zusammenhängenden Optionen gesprochen wird. Sie verändert also die den Betroffenen gemeinsamen Sinnstrukturen im Kontext eines jeweiligen Systems“ (von Schlippe 1995, S. 23 f.). Dies sollte nicht nur kognitiv, sondern auch durch konkrete leibliche Erfahrungen geschehen.

Dieses Grundverständnis nun lässt wieder viel Raum dafür, wie man Veränderungen anregen könnte. Die Entwicklungsgeschichte der Familientherapie allgemein und der systemischen Therapie im Besonderen weist da viele teilweise übereinstimmende, teilweise recht weitgehend voneinander abweichende Konzeptionen auf, die auf Anwender (wie ich durch viele entsprechende Kommentare bei vielen Weiterbildungen und Supervisionen weiß) häufig nicht hilfreich, sondern eher verwirrend wirken. Ich selbst hatte die Gelegenheit (und das Glück?), seit Mitte der 1970er-Jahre praktisch alle relevante Entwicklungen der Familientherapie und der systemischen Therapie und Beratung ganz hautnah in Theorie, vor allem aber in gelebter Praxis mitmachen zu dürfen. Zunächst durch die weltweit intensive Vernetzung, betrieben von Helm Stierlin, und später dann durch unsere gemeinsamen Aktivitäten als Heidelberger Gruppe hatten wir die in dieser Zeit einmalige Situation, dass praktisch alle international wichtigen und führenden Vertreter und Vertreterinnen der Familientherapie und der systemischen Konzeptionen zu uns nach Heidelberg kamen und wir voneinander lernen konnten. Ich selbst, ursprünglich Diplomvolkswirt, hatte meinen Beruf gewechselt und noch Medizin studiert, ausschließlich deshalb, weil mich die Ansätze, Probleme nicht mehr nur aus einem „gestörten“ individuellen Prozess heraus zu erklären, sondern in einen kontextuellen Sinnzusammenhang zu stellen, ungemein faszinierten, insbesondere im Bereich der Therapie von Psychosen.

Die, geschichtlich gesehen, zeitlich aufeinander folgenden Modellvorstellungen leben nämlich mit durchaus noch recht kraftvollem Eigenleben wie verwandte, aber mutierte Spezies im Reich von Fauna und Flora unverdrossen nebeneinanderher.

Die mehr geschichtlich orientierten Mehrgenerationen-Familientherapiemodelle wie die von M. Bowen, I. Boszormenyi-Nagy, die frühen Bindungs-/Ausstoßungs-/Delegationskonzepte von Helm Stierlin oder die Vorstellungen von N. Paul (hinsichtlich unbewältigter Trauerprozesse in Familien, die zu Symptomen führen können) fordern wieder mehr die Beachtung des Kontenausgleichs der Schuld- und Verdienstkonten und die Beachtung der familiären „Vermächtnisse“ etc. Gerade diese Sichtweisen finden sich dann übrigens wieder in den Konzepten der „richtigen Ordnung“ von Bert Hellinger – allerdings oft, ohne dass dies auch genügend transparent gemacht würde, was gerade der dort so hochgehaltenen Idee, die jeweiligen Vorgänger zu würdigen, ja gar nicht entspricht.

In den Anfangsjahren unserer Heidelberger Gruppe orientierten wir uns vorrangig an diesen Mehrgenerationenkonzepten. Dementsprechend war unsere Arbeit geprägt von den Bemühungen, die ganze Familie mit mehreren Generationen in einen Diskurs des Verstehens der Familiengeschichte, der Würdigung und des Ausgleichs von Verdiensten und der Versöhnung einzuladen. Dies erfolgte in oft vielen, in relativ kurzen Abständen (ca. zwei bis drei Wochen) aufeinander folgenden Sitzungen. Die Erfolge waren teilweise beeindruckend, nicht selten bewegte sich aber auch wenig.

Dann gewannen, teilweise auch bei uns, die mehr von normativen Funktionsvorstellungen durchdrungenen Modelle mehr Einfluss, wie z. B. die der strukturalistischen Familientherapie (Minuchin), der direktiven strategischen Therapie (Haley, Madanes), die davon ausgehen, dass es grundsätzlich funktionalere Organisationsformen in Familien gibt (klare Generationsgrenzen, Vermeiden von Triangulationen etc.), für deren Umsetzung sich die Therapeuten auch engagieren sollten. Diesen Vorstellungen folgend, versuchten wir, die Familien dazu zu bewegen, wieder klare familiäre Hierarchien aufzubauen, die Kinder aus Konfliktdreiecken herauszuhalten, Generationsgrenzen zu stärken und die Eltern anzuhalten, sich auf eine gemeinsame Linie den Kindern gegenüber zu einigen. In „family lunches“ (Minuchin) mit Familien von anorektischen Mädchen z. B. versuchten wir, die Eltern dazu zu bewegen, sich so lange gemeinsam zu engagieren, bis sie die Indexpatientinnen wieder zum Essen gebracht hatten.

Die Therapeuten gerieten dadurch aber sehr stark in die Rolle der Vertreter bestimmter Normvorstellungen. Ich erlebte dies immer wieder als Gestaltung von ungleichen Beziehungen, in denen die Therapeuten auch beanspruchten, die „Wissenden“, die Experten zu sein, die besser als die Familien selbst wussten, was für diese gut sei und was sie deshalb auch gefälligst zu machen hätten. Mit dieser Rolle fühlte ich mich überhaupt nicht wohl. Immer hatte ich den Eindruck, dass ein solches Vorgehen der Einzigartigkeit und den (kontextbezogen sehr unterschiedlichen) Bedürfnissen und Aufträgen der jeweiligen Familien einfach nicht genug dient. Die Maxime, an der ich mein Handeln ausrichten wollte (dies gilt, noch viel konsequenter als damals, auch heute) war: „Gehe mit Menschen so um, wie du selbst gerne hättest, dass man mit dir umgeht, insbesondere dann, wenn du auf das Wohlwollen anderer angewiesen bist.“ Unseren Umgang mit den Klienten und ihren Familien erlebte ich, obwohl sehr gut gemeint, häufig aufgrund dieser Expertenposition ihnen gegenüber als nicht dieser Maxime entsprechend.

In den systemisch-konstruktivistischen Therapie- und Beratungsmodellen, die wir seit ca. 1977 in engem Austausch mit der Mailänder Gruppe (Selvini, Boscolo, Cecchin, Prata) zum zentralen Modell unserer Arbeit machten (die als der Ansatz der Neuen Heidelberger Gruppe bekannt wurde), wurde dann immer konsequenter davon ausgegangen, dass man keineswegs unbedingt z. B. die Geschichte (weder die individuelle noch die familiäre) ganz „verstehen“ oder „aufarbeiten“ müsse oder in so massiver Form wie z. B. bei Minuchin von einer übergreifend „richtigen oder funktionalen“ Organisation des Systems ausgehen könne. Dennoch waren die Vorstellungen klarer Grenzen zwischen den Generationen, klarer Kommunikation etc. wichtige Orientierungspunkte. Auch die späteren Entwicklungen in der Arbeit von Mara Selvini Palazzoli weisen noch in diese Richtung, wenn sie konsequent immer wieder die „ubiquitäre Verschreibung“ anbot, mit der z. B. Eltern dazu gebracht werden sollten, eine klare Grenze zu anderen Subsystemen in der Familie aufzubauen.

Zentrale Basis der Arbeit war aber die Sicht (da alles Erleben, auch Probleme, als Ausdruck von Mustern angesehen wird), dass allgemein Veränderung jeweils dadurch passiert, dass Unterschiede in bisherige Muster (Vernetzungen) eingeführt werden. Wo und wie diese Unterschiede gebildet und in die Organisation des Systems implementiert werden können, ist dabei noch nicht spezifisch eingegrenzt, die Unterschiede sollten nur bedeutsam sein („Unterschiede, die einen Unterschied machen“), könnten sich aber z. B. darauf beziehen, dass ein bestimmtes Verhalten geändert wird, Bewertungen oder Beschreibungen von Phänomenen (wie z. B. von „Krankheiten“) verändert werden, Abläufe zeitlich oder örtlich verändert werden etc.

Auch in diesem Vorgehen war die Art, wie die Gespräche gestaltet und Interventionen gebildet wurden, dabei natürlich sehr geprägt davon, wie man sich die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Symptomen vorstellte. Als vorrangig wurde damals angesehen, dass lebende Systeme, um ihr Überleben zu sichern, vor allem versuchen, ihre Homöostase aufrechtzuerhalten und alle Abweichungen davon durch (negatives) Feedback wieder auf den Ausgangswert zu bringen (der Aspekt der Morphogenese war noch nicht genug als bedeutsam berücksichtigt). Und: Wenn diese Homöostase durch irgendwelche Ereignisse stark gestört wird, kann dies bei Beteiligten im System massiven Stress auslösen, der z. B. auch zu Symptomen führen kann. Diese Symptome wiederum wirken aber wie ein Feedback im System auf seine Organisation ein, sehr oft sogar so, dass sie zur alten Homöostase zurückführen. Wenn z. B. in einer Familie die Eltern auseinander streben und von Familienmitgliedern die Gefahr einer Trennung empfunden wird und gerade in dieser Phase eine adoleszente Tochter mit einem Hungerstreik beginnt, der dann als Anorexie diagnostiziert wird, kann dies als so gefährliche Notsituation in der Familie erlebt werden, dass alle zentripetalen Bewegungen gebremst werden, die den Familienbestand gefährden könnten. Um der Gefahr zu begegnen, kann die Familie als „Notgemeinschaft“ wieder zu mehr Kohäsion finden, können die alten Bindungskräfte wieder aktiviert werden, kann das System sich wieder stabilisieren, nun aber mit Einbau des Problems „Anorexie“.

Diese Sicht führte uns dazu, dem Symptom intensiv zuzuschreiben, es habe jeweils eine homöostatische Funktion in der und für die Familie. Daraus wieder wurde geschlossen, dass dann die Aufträge, welche uns die Familien gaben, mit großer Wahrscheinlichkeit äußerst widersprüchlich, ja paradox seien, z. B. in der Art: „Helft uns schnell, die Symptome zu ändern und aufzulösen, wagt es aber ja nicht, dies zu tun, denn dies würde unsere Homöostase gefährden.“ Die Aufträge wurden als Doublebind (Zwickmühle) empfunden, das nur dadurch wieder aufgelöst werden konnte, dass die Therapeuten selbst noch geschickter als die Familien paradox vorgingen (dementsprechend lautete auch der Titel des damals als Pionierwerk angesehenen Buches der Mailänder Gruppe: Paradoxon und Gegenparadoxon). „Paradoxe Interventionen“ waren z. B. Vorschläge an die Klienten, gezielt das für eine umschriebene Zeit zu machen, was sie als Ziel der Therapie gerade auflösen wollten (z. B.: „Wir finden, dass es noch zu früh ist, die Symptome jetzt schon abzulösen. Damit Sie die Zusammenhänge besser verstehen können, die bisher zu diesen qualvollen Depressionen beigetragen haben, möchten wir Sie bitten, jeden Abend von 18 bis 19 Uhr sich darauf zu konzentrieren, in dieser Zeit besonders depressiv zu sein und dabei alle Gedanken und sonstigen Prozesse, die dazu beitragen können, genau zu registrieren“). Diese auch als „Symptomverschreibung“ bekannten Interventionen sollten die bisherige Organisation des Systems unterbrechen, bisherige Lösungsversuche bremsen und neue Strategien anregen, oft auch um den Widerstand der Klienten und ihrer Familien gegen Veränderung zu unterlaufen und zum Gegenteil zu provozieren.

Diese Perspektive führte fast zwangsläufig dazu, dass wir systemischen Therapeuten aus meiner Sicht praktisch alle in eine milde paranoide Haltung den Familien gegenüber gerieten. Die Interviews und Interventionen wurden aus einer strategisch-distanzierten Haltung zum Teil mit elaborierter Raffinesse gestaltet. Wir führten die Interviews strikt nach unseren Vorstellungen. Die Gespräche waren wie ein Ritual aufgebaut: a) Zunächst wurden schon vor der Sitzung von den Therapeutenteams Hypothesen darüber gebildet, welche Muster in den Familien wahrscheinlich das Problem aufrechterhalten könnten (bei uns waren es üblicherweise vier Therapeuten, zwei, die das Interview führten, und zwei Beobachter hinter der Einwegscheibe); dann folgte b) das Interview selbst (ca. 90 Minuten), in dem die Therapeuten, abgeleitet aus diesen Hypothesen, viele zirkuläre Fragen stellten als Instrument dafür, möglichst viele Informationen über die problemerhaltenden Muster zu gewinnen; daran schloss sich c) die Beratung zusammen mit den Beobachtern an. Hierbei wurden die gewonnenen Informationen als Grundlage genutzt für die Beschreibung von Mustern, die wir als problemstabilisierend ansahen. Daraus wurden dann die Interventionen abgeleitet, die (z. B. als positive Umdeutungen von bisher als „krankhaft“ angesehenen Phänomenen oder als „paradoxe Intervention“) bewirken sollten, dass die Familien sich in hilfreicher Weise neu organisierten. Diese Interventionen wurden dann d) durch die Interviewer als Schlusskommentar an die Familien übermittelt. Dabei wurde sehr darauf geachtet, nur diesen Kommentar zu geben und dann keinesfalls noch weiter mit den Familien zu reden, aus der Befürchtung heraus, dies könne die Wirkung der Interventionen behindern.

Den Familien wurde nicht transparent erläutert, welche Hypothesen wir jeweils hatten und welche Absichten wir mit den Interventionen verbanden. Das wurde schon deshalb als sehr wichtig angesehen, weil wir ja davon ausgingen, die Familien würden jede transparente Information über unser Vorgehen und überhaupt jede ausführlicher Konversation über die zirkuläre Befragung und den Schlussinterventionskommentar hinaus sofort mit Gegenregulation zur Wiederherstellung der alten Homöostase (und damit zur Restabilisierung der Symptome) beantworten.

Ich erinnere mich an eine mich sehr beeindruckende Situation, als Mara Selvini Palazzoli wieder einmal in Heidelberg bei uns zu Besuch war (in der Abteilung für Familientherapie, deren Leitung Helm Stierlin innehatte). Sie beklagte sich dabei einmal, es sei in den letzten Jahren immer schwieriger geworden mit ihrer Arbeit, da sie so bekannt und erfolgreich geworden sei. Es käme jetzt öfter vor, dass Familien schon ganz gelassen kommentieren würden: „Aha, Sie machen jetzt wohl eine paradoxe Intervention mit uns, so wie Sie das in ihrem Buch beschreiben …“ Ich fragte mich dabei, was es eigentlich für eine merkwürdige Konzeption ist, wenn Menschen Angebote für die Gestaltung ihres Lebens bekommen und man dabei davon ausgeht, sie dürften nicht vollständig eingeweiht sein in das, worum es da geht, die Anbieter der Intervention aber sehr wohl. Diese Aspekte von asymmetrischer Beziehungsgestaltung kamen mir überheblich und letztlich die Klienten abwertend vor. Für mich war zweifelsfrei klar, dass ich selbst so nicht behandelt werden wollte und sicher auch mit großem Widerstand auf solche Angebote reagiert hätte. Und auch wenn wir damit oft erstaunliche, ja spektakulär anmutende Erfolge (i. S. von Symptomverbesserungen oder -auflösungen) erzielen konnten, hatte ich den Eindruck, dass wir weit unter den Möglichkeiten blieben, die ich in dem Grundmodell einer systemisch-konstruktivistischen Konzeption angelegt sah.

Ein aus meiner Sicht schwer wiegendes Manko unserer (damals meist noch so häufig als möglich die Familie von Indexklienten einbeziehender) Arbeit war auch, dass entgegen unserer Absicht sehr häufig die Kooperation mit uns von den beteiligten Klientensystemen als ein deutlicher Hinweis darauf erlebt wurde, dass die Familie wahrscheinlich doch in erheblichem Maß ein wichtiger Problemkontext sei, dass quasi die Familie ein „Herd der Störung“ sei (entsprechend der Idee „Patient Familie“ von H. E. Richter). So wurden viele Therapien von den Beteiligten im Familiensystem eher als Tribunal denn als wertschätzende Hilfe erlebt. Das wollten wir zwar nicht, aber gemäß unserer eigenen Konzepte mussten wir zerknirscht einräumen, dass die Bedeutung einer Botschaft eben immer die Empfänger und nicht die Sender der Botschaft bestimmen. Ebenso sehr missfiel mir, dass aufgrund der Prämissen, an denen wir uns orientierten, letztlich die Familien als sehr defizitär beschrieben wurden. Gleichzeitig gingen wir ja aber davon aus, dass unsere Interventionen die Familien anregen könnten, in Selbstorganisation hilfreiche Entwicklungen zu gestalten. Ohne diese Annahme wären unsere Interventionen weder logisch noch ethisch haltbar gewesen. Wenn Familien, Paare oder einzelne Klienten aber zu solchen selbst organisierten Entwicklungen fähig sein konnten (was uns ja in vielen Therapien klar demonstriert wurde), dann konnte aus meiner Sicht diese Einschätzung der Klienten und ihrer Familien als defizitär nicht stimmen.

Die Entwicklungen im Feld der systemischen Ansätze seit Mitte der 1980er-Jahre haben schon viele dieser für mich problematischen Annahmen und Haltungen relativiert oder aufgelöst. Immer deutlicher wurde uns, gerade auch durch viele Reaktionen von Klienten, dass wir die Bedeutung, die sie unseren Angeboten gaben, mehr berücksichtigen mussten. Manchmal reagierten Klienten und ihre Familien recht irritiert und mit Widerstand darauf, wenn wir von Anfang der Zusammenarbeit an zügig viele Fragen zu ihrem Familiensystem stellten. Dies machte uns immer klarer, dass wir unsere eigenen Angebote kritischer beleuchten mussten. Die Idee, eine Familientherapie zu machen, war z. B. in vielen Familien durchaus umstritten. Wenn wir dann von Beginn an familientherapeutisch vorgingen, wirkte sich das aus, als ob wir Partei für die Mitglieder ergreifen würden, die für Familientherapie waren, und damit aber auch parteiisch gegen andere in der Familie würden. Dies führte eher zu mehr Konflikten in der Familie, unsere Beiträge veränderten also die familiäre Dynamik. Die Annahme, dass wir durch unsere Fragen herausarbeiten könnten, „wie die Familie ist“, erwies sich als völliger Trugschluss. So wurde immer deutlicher, dass wir niemals herausfinden konnten, „wie die Familie ist“. Indem wir ihnen begegneten und auch durch die Art, wie wir ihnen begegneten, trugen wir unentrinnbar zu Veränderungen bei, sodass die Familie, die wir sahen, niemals die gleiche Familie war, die sich bei sich zu Hause organisierte. Wir als „Beobachter“ des Systems bewirkten Veränderungen des zu beobachtenden Systems durch unsere Beobachtungen. Die Theorie des Beobachters oder die Kybernetik der Kybernetik (Kybernetik 2. Ordnung) wurde zentrale Basis unserer Arbeit (von Foerster 1981, 1993; Schiepek 1991; Tomm 1994). Familiendiagnosen und Systemdiagnosen generell erschienen nun als immer zweifelhafter, denn der diagnostische Prozess veränderte ja schon an sich wieder das, was man diagnostizieren wollte. Wir legten nun viel mehr Wert darauf, mit den Familien achtungsvoll ihre Ansichten dazu ernst zu nehmen, ob Therapie überhaupt sinnvoll sei, und auch dazu, was eventuell dort besprochen, was aber auch nicht besprochen werden sollte. Ein wichtiger Teil der Arbeit wurde es, mit den Familien zusammen die Therapiekooperation gemeinsam auszuhandeln und zu planen.

Dabei stellte es sich z. B. oft heraus, dass es für die Familien viel hilfreicher war und unsere Kooperation viel konstruktiver wurde, wenn wir unsere Angebote nicht mehr „Familientherapie“ nannten, ja oft sogar gar nicht mehr „Therapie“, sondern mit den Betroffenen für sie passendere Etikettierungen entwickelten. Wir erkannten es also als relevanter an, die autonomen Weltmodelle der Betroffenen zu beachten.

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