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Sutemi - Den Körper vergessen

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Als Zen-Meister Shoju13 einmal die Effektivität seiner Zazen-Übung auf die Probe stellen wollte, unternahm er einen Test. In der Nähe seines Tempels gab es ein kleines Dorf. Dieses wurde immer wieder von einem Rudel Wölfe heimgesucht, die sich in der Nacht auf der Suche nach Beute heranschlichen und bis in das Dorf eindrangen. Kein Dorfbewohner wollte nachts noch auf die Straße gehen. Shoju beschloss, sich beim Friedhof, etwas außerhalb des Dorfes, niederzusetzen und sieben Nächte unter den Wölfen zu meditieren. Als es dunkel geworden war, kamen die Wölfe. Shoju saß regungslos in Zazen. Die Wölfe umringten ihn, einige sprangen über ihn hinweg, schnüffelten an seinem Rücken und am Hals, andere stießen mit ihren Schnauzen an seine Hände, Nase und Ohren. Doch Shoju ließ sich in seiner Konzentration nicht stören. Andernfalls hätte er seinen Versuch wohl kaum überlebt. Hätte er die Nerven verloren, hätten sich sein Geist und sein Körper nur ein bisschen bewegt, die Wölfe hätten ihn sofort angefallen (vgl. [1] S.98). Zu keinem Zeitpunkt dachte er daran, dass ihn die Wölfe fressen könnten. In seiner Konzentration hatte Shoju die Lebensgefahr, in der er sich befand, völlig „ausgeblendet". Er hatte die Gefahr vergessen; er hatte die Wölfe vergessen; er hatte sich selbst vergessen.

Zen bringt – auch im praktischen Leben – eine bestimmte geistige Haltung mit sich: Wenn man alle Handlungen nur um ihrer selbst willen ausführt und sich ganz auf sie konzentriert, so vergisst man dabei die Sorgen um die eigene Person.

Im vorigen Kapitel war die Rede von der Handlung ohne Absicht. Eng mit einer Absicht verknüpft ist das Ich-Bewusstsein. Wenn man eine Absicht verfolgt, so liegt dieser ein persönliches Motiv zugrunde, also auch ein bewusstes Wissen und Wahrnehmen des eigenen Ichs. Mit dem Begriff „Ich-Bewusstsein“ ist hier gemeint, dass man sich seiner selbst als Subjekt gewahr ist. Also „ich mache etwas", „ich fühle das" oder „ich wünsche mir jenes". Im Zen und im Budô ist dieses Ich-Bewusstsein gleichermaßen von Bedeutung. Es muss dabei nicht notwendigerweise gleich um Leben und Tod gehen. Ich-Bewusstsein beinhaltet auch, Selbstwertgefühl zu pflegen, zu überlegen, wie andere einen sehen oder sich um seine persönliche Zukunft zu sorgen. Die drei aufgezählten Beispiele haben gemein, dass der Betreffende bei seinen Gedanken sein Ich mit ins Spiel gebracht hat, die Vorstellung, dass sich das Geschehen mit Bezug auf die eigene Person abspielt, eben ein bewusstes Ich.

Dôgen Zenji, der das Sôtô-Zen aus China nach Japan brachte, lehrte:

„Weg-Übende! Erlernt das Buddha-Dharma 14 nicht um euer selbst willen. Erlernt es nur um des Buddha-Dharma willen. Das Wichtigste dabei ist, Leib und Seele ohne jeden Vorbehalt abzuwerfen. ... Befaßt euch nicht mit Richtig oder Falsch, haftet nicht an euren eigenen Ansichten. ... Erwartet niemals eine Belohnung für eure Leistung, den Buddha-Weg geübt zu haben. Habt ihr einmal die Richtung des Buddha-Weges eingeschlagen, schaut niemals auf eure eigene Vergangenheit zurück." ([5] S.143f)

Und an einer anderen Stelle heißt es:

„Ein alter Meister sagte: ´Du sitzt an der Spitze einer dreißig Meter hohen Fahnenstange. Tu einen Schritt vorwärts.´ Das bedeutet: Seid gesinnt wie jemand, der die Fahnenstange losläßt, an deren Spitze er sich festhält; mit anderen Worten: Ihr müßt Körper und Geist wegwerfen. ... Als hauslose Mönche müßt ihr als erstes von eurem Ich wie von (der Gier nach) Ruhm, Ehre und Gewinn Abstand nehmen." ([5] S.165f)

Das Ich-Bewusstsein musste der Mönch ablegen, um sich ganz dem Buddha-Weg widmen zu können.

Ein Samurai sollte ebenfalls ohne Ich-Bewusstsein kämpfen und seinen Körper vergessen haben. Dachte er an sich selbst, an seinen Körper oder sein Leben, so wären im Gefecht unweigerlich kurze Momente der Angst aufgekommen, der Angst zu sterben oder verletzt zu werden. Diese kurzen Momente wären schon wieder Kristallisationspunkte des Zögerns gewesen, und im falschen Augenblick zu zögern hätte die Niederlage und damit den Tod bedeuten können. Im Kampf Ich-Bewusstsein zu behalten, erhöhte die Wahrscheinlichkeit zu sterben.

Zen-Meister Kodo Sawaki fand dafür treffende Worte:

„Das erste Gebot ... besteht darin, jegliche Form von Selbstsucht abzulegen. Einen Menschen umzubringen, um sein eigenes Leben zu retten, beweist eine selbstsüchtige Haltung. Wenn die Absicht, seinen Gegner zu töten, noch vorhanden ist, wird man das Leben verlieren. Das Ziel des Kampfes besteht darin ... den Gegner zu treffen, ohne an sich selbst zu denken. Während der ganzen Dauer des Kampfes müssen die beiden Gegner alle üblichen Sorgen beiseite legen und frei von Ränken sein. Sie dürfen weder eine List anwenden noch den Tod fürchten." ([8] S.128)

Ich-Bewusstsein in all seinen Schattierungen ist etwas, dem wir in unserem Training laufend begegnen:

Man ist unaufmerksam, läuft in ein Atemi hinein, ist beleidigt und ärgert sich über den anderen obwohl man selber nicht aufgepasst hat. (Atemi = Schlag, im Training meistens nur angedeutet)

Man nimmt einen Rat nicht an, weil man dem anderen nicht zugestehen will, dass er es besser weiß.

Man blockiert eine Technik, um dem anderen zu zeigen, dass er sie nicht kann und um sich selber zu sagen, dass man es besser kann.

Man erteilt anderen dauernd Ratschläge, damit sie auch bestimmt merken, dass man es besser kann.

Man verletzt den Trainingspartner, weil man beweisen muss, dass die eigene Technik funktioniert.

Man fürchtet, sich zu blamieren, falls eine Technik nicht klappen sollte, gerade wenn man sie als unerfahrener Trainer vormacht.

Man ist Trainer, und korrigiert bei den Schülern weniger deren Technik, sondern vielmehr das eigene Ego.

Man erwartet als Lehrer von seinen Schülern, dass sie die Formen übernehmen und lässt ihnen keinen Raum für selbstständige Interpretation, weil man derartige Eigenständigkeiten als Kritik am eigenen Können wertet.

All diesen Fehlern begegnet man immer wieder. Doch wie gut wären wir erst, wenn wir diese Energien tatsächlich in die Verbesserung unserer Technik stecken würden? Das persönliche Geltungsbedürfnis bildet beim Ich-Bewusstsein die unterste Stufe. Dass man dies Bedürfnis am besten ablegen sollte, weil man sich so nur selbst im Wege steht, dürfte klar sein.

Im Aikidô, denke ich, gibt es auch einige Techniken, die ein klein wenig von dieser Samurai-Furchtlosigkeit erfordern. Ich will nur ein Beispiel nennen: die unbewaffnete Verteidigung gegen einen Schwertangriff, bei der man, sobald der andere sein Schwert zu heben beginnt, eine große Distanz zu überwinden hat, um an ihn heranzukommen, und darum ohne Zaudern vorspringen muss. Bei diesen Techniken ist das genaue Timing äußerst kritisch. Springt man zu spät vor, würde man vom Hieb getroffen, ist man zu früh, spießt man sich selber auf. Dennoch darf es kein Zögern geben aus Angst, man könnte getroffen werden. Wenn wir fürchten, einen Treffer zu erhalten, wird uns das Ich-Bewusstsein zum Hindernis.

Die höchste Stufe ist, den eigenen Körper vergessen zu haben: „Es geschieht (aus mir heraus)", statt „ich mache". Das ist die Handlung ganz ohne Ich-Bewusstsein, so auf die Tätigkeit konzentriert, dass man nicht an die eigene Person und nicht an den eigenen Körper denkt. Es bedeutet, eine Handlung zu vollziehen, ohne zu reflektieren, wie ich mich damit darstelle, und ohne zu grübeln, welche Konsequenzen für mich damit verbunden sind.

„Ein berühmter Chirurg war einmal bei einer Operation, die äußerste Konzentration erforderte. Während er an der Arbeit war, gab es plötzlich ein Erdbeben. Die Stöße waren so stark, daß die meisten Assistenten unwillkürlich aus dem Raum rannten, um sich in Sicherheit zu bringen. Aber der Chirurg war derart in seine Arbeit vertieft, daß er die Stöße überhaupt nicht wahrnahm. Nach dem Ende der Operation erzählte man ihm von dem Erdbeben, und erst da nahm er es zur Kenntnis. Er war vollständig in seine Arbeit aufgegangen. Das ist eine Art von SAMADHI. [...] Wenn wir in dieser Art von SAMADHI sind, vergessen wir uns selbst ziemlich. Wir sind uns unseres Verhaltens, unserer Gefühle, unserer Gedanken nicht bewusst. Der innere Mensch ist vergessen, und äußere Umstände nehmen unsere volle Aufmerksamkeit in Beschlag.“ ( [23] S.106 ff )

Den Geist zu lenken und das Ich zu vergessen, das ist die Haltung, die die Samurai vom Zen ins Budô übernahmen, um ohne jede Furcht zu sein und um die Kampfkünste zu meistern.

„Wenn Ihr tanzt, hält die Hand den Fächer, und der Fuß macht einen Schritt. Wenn Ihr dabei nicht alles vergeßt, wenn ihr Euch in Gedanken zurecht legt, wie Ihr die Hände und Füße zu bewegen und richtig zu tanzen habt, kann man Euch nicht als guten Tänzer bezeichnen. Wenn der Geist in den Händen und Füßen verweilt, wird nichts, was ihr tut, wirklich gut sein." ([3] S.43)

Das Folgende ist vielleicht den meisten schon einmal passiert: Man hat sich in ein Buch vertieft, jemand ruft, aber man hört es nicht, die Person ruft noch einmal, man schrickt auf und fragt: „Was?". In diesem Augenblick hat man sich wieder an sein Ich erinnert, das Ich-Bewusstsein ist wieder aufgetaucht. „Wer will da etwas von mir?" Es ist der Zustand selbstvergessener Konzentration, vor dem Aufschrecken, den wir ins Training übernehmen sollten.

Die Elemente des Zen in der Kampfkunst

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