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Shinakatta - Ich war´s nicht ...

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Einmal war ich gerade dabei, aus meinem Küchenschrank etwas herauszunehmen, als ich versehentlich an eine Tasse stieß und sie hinunter fiel. Mit der anderen Hand fing ich sie auf.

Dies ist eine eigentlich ganz alltägliche Begebenheit. Doch etwas Besonderes fiel mir daran auf: Nicht „ich“ habe die Tasse aufgefangen. Da war nicht der Eindruck, dass ich bewusst den Flug der Tasse verfolgt, die Hand danach ausgestreckt und die Finger um sie geschlossen hätte. Sondern es war anders: Ich sah gerade noch, dass die Tasse fiel, und dann war sie plötzlich in meiner linken Hand. Und ich dachte: „Oh, ich habe die Tasse gefangen.” Da war das Gefühl, dass Dinge ohne mein Zutun ablaufen. Scheinbar hat etwas Anderes, Geistesgegenwärtigeres als „Ich” die Tasse gefangen.

Mit dieser Anekdote stoßen wir unvermittelt in einen Grenzbereich von „Ich” und „Bewusstsein” vor. Die Kampfkünste führen uns ganz selbstverständlich zu derartigen Grenzbereichen. Es sei aber betont, dass nicht von esoterischen Dingen die Rede ist, sondern es geht um ganz praktische Aspekte.

Wenn nun scheinbar etwas Anderes, Geistesgegenwärtigeres als „Ich” für mich handelt, so ist das lediglich ein anderer Bereich als das, was man gemeinhin als bewusstes „Ich” erlebt. Es ist ein unbewussterer Teil meiner selbst. Etwas, das nicht mehr dem Ich-Bewusstsein unterliegt. Etwas, das sich nicht mehr wie „Ich” anfühlt.

Eine Frage stellte sich: Hätte ich die Tasse überhaupt fangen können, wenn ich es mit vollem Bewusstsein versucht hätte? Hätte ich sie wohl aufgefangen, wenn ich nach dem Sehen registriert und begriffen hätte, dass sie hinunterfällt, die Flugbahn abgeschätzt, eine Entscheidung getroffen, mit welcher Hand ich sie fangen wollte, und wenn ich dann die Hand nach dem Schnittpunkt mit dem bewegten Ziel ausgestreckt hätte, um die Tasse zu fassen? Das wäre eine Menge Informationsverarbeitung, die in ganz kurzer Zeit zu leisten gewesen wäre. Genau wissen kann ich es nicht, aber ich nehme an, ich würde jetzt Scherben besitzen, statt einer Tasse.

Bewusstwerden benötigt Zeit. Denken hält auf. Die bewusste Verarbeitung von Informationen im Gehirn dauert. Sie kostet die Zeit, welche im Kampf möglicherweise den ausschlaggebenden Vorteil bringt. In vielen Fällen ist es gar nicht als bewusste Aktion zu bewerkstelligen, eine bestimmte Bewegung zum genau richtigen Zeitpunkt auszuführen. Wenn dagegen nicht „ich” es bin, der die Aktion ausführt, sondern der Körper handelt, so geschieht es spontan und schnell. Kein Bewusstsein bremst die Aktion, kein Denkvorgang hält sie auf. Das kann die entscheidenden Zehntelsekunden ausmachen. Klappt es, hat man einen Eindruck von „unbewusst gemacht, ich weiß nicht wie” oder man sagt sich bescheiden: „Ich habe wohl einfach Glück gehabt.“

Der Punkt ist grundsätzlich gesehen der: Ein Angreifer kann nur dann siegreich sein, wenn es ihm gelingt, das Bewusstsein seines Gegners zu überfordern. Nur dann kann er einen Treffer landen. Bleibt er unter der Schwelle, kann der Gegner jeden Angriff parieren. Erst wenn er jene Schwelle übersteigt, hat er überhaupt Chancen. Dann kommt der Angegriffene nicht mehr mit und kann getroffen werden. Je höher die Spanne der Geistesgegenwart des Gegners reicht, desto schwerer hat es der Angreifer. Somit ist Kampf immer auch ein Wettlauf der Bewusstseinsspannen; und ein körperlicher Sieg setzt ein geistiges Gewinnen voraus.

Das unbewusste Handeln zu nutzen ist eine Möglichkeit, die Spanne unserer Geistesgegenwart zu erhöhen. Das wäre also der Weg: Sich nicht mit dem Bewusstwerden des Geschehens aufhalten, sondern unmittelbar handeln.

Es hört sich an wie ein ganz besonderer Geisteszustand, doch das ist es nicht, es ist ein ganz natürliches Verhalten. Jeder Mensch hat schon einmal so gehandelt und handelt so ganz selbstverständlich. Um ein Beispiel zu geben: Jeder, der Auto fahren kann, hat in seinem Leben schon zunächst den Autoschlüssel ins Schloss gesteckt, sich dann umgesehen, ob die Straße frei ist, im nächsten Augenblick den Motor angelassen und ist losgefahren. Nun, das Umdrehen des Schlüssels, führt man das immer als eine vollkommen bewusste Handlung aus? Damit ist gemeint: Dreht man die Hand mit dem Schlüssel wirklich immer ganz bewusst? Oder startet man gelegentlich einfach, ohne dem Vorgang auch nur die Spur von Aufmerksamkeit zu schenken? Die Antwort lautet: Es ist durchaus so, dass man agiert, ohne es fortwährend bewusst zu kontrollieren. Wir handeln ständig auf diese Weise: in einer Mischung bewusst und unbewusst kontrollierten Handelns. Nur fällt es keinem mehr auf, so alltäglich ist es. Im Kampf ist es von Vorteil, die unbewusste Seite des Handelns verstärkt zu nutzen: Vertraue auf die unbewusste Weisheit des Körpers, es ist schon richtig was er tut.

Die folgende Geschichte hat eine Teilnehmerin in einem Aikidô-Forum im Internet erzählt:

„Ich habe ein Halbtagsstelle, bei der ich mit geistig behinderten Menschen mit ‚schwierigem Verhalten‘ arbeite. Nun, dort gibt es einen ca. 6 Fuß 2 Zoll großen Mann, der immer wieder das Personal tätlich angreift und jederzeit ohne Vorwarnung ‚hochgehen‘ kann. Normalerweise schaffe ich es, solche Situationen mit diesem Menschen zu vermeiden, aber ich wurde bereits zweimal in den letzten 5 Jahren von ihm angegriffen. Das erste Mal war bevor ich mit Aikido begonnen hatte, und es endete für mich mit einer Nackenverletzung, Blutergüssen, Bissen, ausgerissenen Haaren etc. Ich war fast einen Monat krankgeschrieben und erhielt einige Monate Physiotherapie.

Vor ein paar Monaten stand ich bei einer Kollegin und unterhielt mich mit ihr, als er von der Seite kam und ohne jede Warnung nach mir schlug. Instinktiv nahm ich ihn in einen Sankyo und sprach dann weiter zu meiner Kollegin. Ihr fiel die Kinnlade nach unten, und erst dann realisierte ich, was ich getan hatte.

Diese instinktive Reaktion hat mir sehr viel von meinem Selbstvertrauen zurückgegeben ...” ([11])

Und noch ein weiteres Beispiel von einem Freund, der mir einmal von einem seiner früheren Judo-Wettkämpfe erzählte: „ ... ich konnte mich an den eigentlichen Kampf gar nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, wie ich auf die Matte ging und mich verbeugte, und dann, zum Schluss, wie ich zum Sieger erklärt wurde. Das dazwischen habe ich scheinbar gar nicht mitbekommen.”

Die Elemente des Zen in der Kampfkunst

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