Читать книгу Adoption - Hannelore Kleinschmid - Страница 10
ОглавлениеVor dem Start in den neuen Lebensabschnitt kündigt sich bei Grimms ein zweites Kind an, eine Schwester für Winston. Noch wird es fast neun Monate dauern bis zur Geburt in Berlin.
Die Landung in Berlin-Tempelhof beendet Winnys ersten Flug. Mit der zweiten Passkontrolle.
Ein neuer Alltag beginnt.
Sie kennen niemanden im Westteil der Stadt, die ihre Heimat wird. Keine Menschenseele. Die Drei sind auf sich allein gestellt.
So wird es länger bleiben, als ihr Lebensplan zu diesem Zeitpunkt vorsieht. Noch hofft Beate, in ihren Beruf als Redakteurin zurückzukehren, wenn die Kinder in den Kindergarten gehen.
Der lebhafte kleine Junge fordert ununterbrochen Aufmerksamkeit von den Eltern. Sie wird ihm gern gewährt und macht bei aller Anstrengung Freude. Mit zweieinhalb Jahren gerät er in das Alter, in dem die Hände vieles können und wollen, dessen Gefahren der Kopf noch nicht versteht.
In dem schlauen Buch des Amerikaners über Kindererziehung steht tröstend: „Better sailing ahead!“
Eltern eines Kleinkindes sollten jetzt nicht verzweifeln, meint er. Wenn es drei Jahre alt werde, kämen wieder ruhigere Zeiten. Das Kind begreife dann mehr und protestiere weniger. Darauf hoffen sie und verstehen zunehmend andere Eltern, die berichten, sie gingen abends oft gleichzeitig mit ihrem Nachwuchs zu Bett.
Die Skepsis der Großeltern gegenüber dem fremden Kind schmilzt beim ersten Besuch dahin. Für Beates Mutter wird Winny im Handumdrehen zum liebsten, klügsten und schönsten Enkelkind auf der Welt. Die andere Großmutter, die nur eine halbe Autostunde entfernt wohnt, äußert sich zurückhaltender. Zwar nimmt sie Winny häufig in Schutz, vor allem, weil er ein Junge ist. Aber vom Babysitten hält sie nicht so viel, wie sich die jungen Eltern wünschen.
Wenn die Kindergartengruppe im Garten nebenan spielt, steht der Kleine am Maschendrahtzaun und zeigt mit dem Finger: da da da da!
Die heiß begehrten Kindergartenplätze stehen jedoch erst für Dreijährige zur Verfügung, wenn die Eltern sie rechtzeitig angemeldet haben. Man schreibe sein Kind am besten schon lange vor der Geburt auf die Warteliste. Heißt es schon damals.
Mit zwei Kindern wird eine Dreizimmerwohnung eng. Vor allem, wenn die Mutter auch noch versucht, zu Hause am Schreibtisch zu arbeiten. Ein Haus mit Garten – davon träumen Grimms.
Benno hat in dieser Zeit zwei unvergessliche Erlebnisse, das heißt er macht zwei Erfahrungen, die zu seinem Erinnerungsschatz gehören werden.
Als die Tochter geboren wird, fliegt er mit dem zweieinhalbjährigen Sohn für eine Woche aus Winterberlin nach Mallorca. Die neue Erfahrung beginnt im Flugzeug: Winny spielt ausdauernd mit dem Rollo am Fenster. Schnappschnapp. Monate später fragt er Benno, der von einer Dienstreise zurückkehrt: Papa, hast du schön mit dem Rollo gespielt?
Benno hat eine Woche lang vorerst jedoch nichts anderes zu tun, als auf den Sohn aufzupassen, der blitzschnell verschwinden kann und viele Dinge entdeckt und anfasst, die ihn nach Ansicht anderer Menschen nichts angehen. Zudem bekommt er nach 24 Stunden Fieber und heftigen Husten. Beides wird ihn in den nächsten Jahren im Urlaub und bei irgendwelchen Veränderungen häufig begleiten.
Auf Mallorca aber hat sein noch unerfahrener Vater das Problem, ein Zäpfchen an die richtige Stelle zu platzieren. Laut protestierend und weinend rennt Winny durchs Zimmer, der Erziehungsberechtigte hinterher, bis er den telefonischen Tipp von der Mutter bekommt, mit Creme fürs besseres Gleiten und weniger Wehtun zu sorgen.
Ein hustendes Kind und ständig Dienst am Sohn, das ist Bennos Erfahrung, während sich Beate mit dem Neugeborenen zu verständigen sucht.
Beide Erwachsenen sind nicht allein, aber einsam!
Benno Grimms zweite Erfahrung ist positiver Art, ein Erfolgserlebnis.
Westberlin als Insel, die sich nicht ausbreiten kann, erlebt eine Zeit kräftig steigender Mieten und langer Schlangen, wenn eine Wohnung angeboten wird.
Für das ältere Haus mit Garten im Norden Berlins interessieren sich an die 80 Personen. Benno, der seiner Familie die Fahrt quer durch die Stadt nicht zumuten wollte und allein besichtigt, wird zu einer zweiten Runde eingeladen – und bekommt den Zuschlag!
Zehn Jahre bleibt das kleine Haus ihr Zuhause.
Beate nimmt Kontakt zu den drei Kindergärten am neuen Wohnort auf. Sie wird von allen drei zu Gespräch und Besichtigung eingeladen. Der Atheistin gefällt der katholische Kindergarten am besten, nicht nur weil er in fünf Minuten zu Fuß zu erreichen ist.
Später wird sie immer erzählen, ohne die Kinderladenbewegung jener Jahre hätte sie ihre Kinder nie in eine katholische Tagesstätte geben können. Aber damals haben die Veränderungen auch vor den kirchlichen Einrichtungen nicht Halt gemacht.
Winny weint der Mama keine sichtbare Träne nach, als sie ihn in der Kindergruppe zurücklässt. Viel zu aufregend ist das alles. Die kleine Falte zwischen den Augenbrauen taucht wieder auf.
Als Beate Jahre später über ihre Beziehung zu Winston nachdenkt, erkennt sie, wie wenig sie damals von seinen Gedanken und Gefühlen ahnte. Selbst in wichtigen Augenblicken wie diesem: dem ersten Tag im Kindergarten konnte sie nicht sagen, ob bei ihm Freude oder Angst überwog.
Endet an diesem Tag eine unbeschwerte Zeit?