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I. Teil: Der andere Weg


Neben dem bunt geblümten, abgetretenen Teppichboden sitzt er auf seinem Windelpaket. Mittelblonde lockige Haare, riesige, fast schwarze Augen, die interessiert alles ringsum verfolgen. Er macht nicht den Eindruck, als sei er zurückgeblieben, wie in seiner Akte vermerkt ist. Mit 13 Monaten läuft er jedoch noch nicht, sondern rutscht auf dem Po hinter dem geliebten Ball hinterher.

Mrs. Keen erklärt nachdrücklich: There is nothing wrong with that boy. Sie fügt hinzu, sie sei nicht erst seit gestern Pflegemutter und kenne sich aus mit Kindern. Schließlich habe sie vier eigene Töchter großgezogen. If you know, what I mean!

Sie wiederholt: There is nothing wrong, there is. Also alles in Ordnung!

Winston wurde zwei Monate zu früh geboren, nicht einmal vier Pfund schwer, nur 30 Zentimeter lang. Mutterseelenallein lag das Frühchen im Krankenhaus, denn es wurde schon vorab zur Adoption freigegeben.

In der Akte ist vermerkt, das Baby habe sich sechs Wochen lang im Ventilator befunden. Kein Wunder also, sagte Benno Jahre später und meinte es nicht ernst. Die missglückte Wahl eines Fremdworts. Der Inkubator war gemeint.

Beate und Benno waren 1968 ein Jahr verheiratet, als Beate schwanger wurde. Beide wünschten sich ein Kind, obwohl sie nicht wussten, wie das gehen sollte, ein Baby zu betreuen und arbeiten zu gehen. Doch auch andere Leute bekamen Kinder. Sie waren im richtigen Alter, um eine Familie zu gründen.

Lydia kam zur Welt und war todkrank. Die Ärzte suchten einige Tage lang nach der Diagnose, bis sie wussten, dass das Kind „nicht lebensfähig“ sein werde. Aber sie wussten nicht genau, wie lange es mit medizinischer Hilfe würde leben können. Vermutlich einige Wochen oder Monate.

Es wurden eineinhalb Jahre. Ohne Hoffnung auf Überleben oder gar Gesundheit. Benno und Beate kümmerten sich um ihr Kind. Sie suchten Trost beieinander und in einer Geschichte aus der Zukunft, die sie sich immer wieder erzählten. Das heißt: Beate erzählte, und Benno nickte zustimmend. Es war wie ein Versprechen: Wir werden einem Kind, das schon auf der Welt ist, ein Zuhause geben. Wir werden ein Kind adoptieren, unabhängig von eigenen Kindern, egal ob Junge oder Mädchen, egal welche Hautfarbe. Es darf auch kariert sein, Hauptsache es ist gesund.

Wenn wir dem Kind ein liebevolles Zuhause geben, wird es ein glücklicher und zufriedener Mensch werden. So dachten sie in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts wie viele ihrer Generation.

Im Jahr 1973 sitzt Winston vor ihnen und schaut sie an: erstaunt, ernsthaft, die Andeutung einer skeptischen Falte zwischen den Augenbrauen. Entgegen ihrem ersten Eindruck und dem spontanen Gefühl zögern die beiden, die Eltern werden wollen. Ein wenig jedenfalls.

Sie haben gegenüber der Adoptionsgesellschaft nur den einen Wunsch geäußert: Ihr Kind soll gesund sein.

Von dem kleinen Jungen aber heißt es, er sei rather retarded, ziemlich zurückgeblieben. Ist er womöglich geistig behindert, trügt sein lebhafter Blick?

Winston wurde der Sohn von Beate und Benno Grimm.

Es geschah nicht über einen kurzen Weg, sondern dauerte länger als eine Schwangerschaft. Am Anfang stand eine Zeitungsannonce, in der Mitarbeiter für den Deutschen Dienst der BBC in London gesucht wurden. Sie bewarben sich und wurden alle beide genommen. So zog das Paar beglückt nach London, für mindestens drei Jahre.

Nachdem sich beide eingearbeitet und eingelebt hatten und ihr unzureichendes Englisch sich in stockenden Sprachgebrauch wandelte, redete Beate häufiger von der Adoption:

Vielleicht sind wir es Lydia schuldig, wir könnten doch ein Kind glücklich machen, das ansonsten womöglich von einem Heim zum anderen wandern würde. Ohne feste Bezugspersonen, ohne Eltern.

In London hatten sie den damals einzigen Spezialisten weltweit aufgesucht, der sich mit der seltenen angeborenen Missbildung an der Galle auskannte, die bei Lydia aufgetreten war. Er machte ihnen deutlich, dass sie ihr Schicksal nicht herausfordern sollten.

Er sagte: Ich weiß noch nicht, ob es eine erbliche Variante gibt. Aber das könnte durchaus der Fall sein, und so wäre es vernünftig, wenn Sie, sollten Sie zwei gesunde Kinder haben, es dabei beließen.

Eines Tages begannen die beiden Grimms damit, herauszufinden, wie man in London ein Kind adoptiert.

In jener Zeit suchte der Mensch im Telefonbuch nach bestimmten Institutionen, Adressen oder Telefonnummern. Das Londoner Telefonbuch bestand aus mehreren dickleibigen Bänden.

Oder der Mensch rief beim zuständigen städtischen Amt an oder verfasste ein Schreiben.

Beate entdeckte eine zentrale Anlaufstelle für Adoptionswillige.

In der Antwort auf ihren Brief hieß es, die meisten Adoptionsgesellschaften hätten lange Wartelisten und würden vorläufig keine Bewerber annehmen. Bei farbigen Jungen gäbe es jedoch noch Chancen, wenn man Geduld bewies. Aber – und damit tat sich das nächste Problem auf – die Paare müssten zunächst nachweisen, unfruchtbar zu sein. Mit einem ärztlichen Attest.

Auch wenn Benno kurz zuvor auf äußerst schmerzhafte Weise die Kinderkrankheit Mumps durchlitten hatte, so konnten seine Spermien, wie eine Untersuchung zeigte, doch weiterhin ihr Ziel finden. Waren Beate und er am Ende ihres Traums?

Wie kann man Unfruchtbarkeit nachweisen?

Beate wollte nicht einfach so aufgeben und schrieb an die zuständige Abteilung der Universitätsklinik. In umständlichem Englisch erklärte sie, warum Benno und sie unbedingt ein Kind adoptieren wollten und Hilfe benötigten. Zur Antwort bekam sie den Termin für eine Untersuchung. Es hieß, dass sie die Anwesenheit von Studenten in Kauf nehmen müsse.

Die Angelegenheit wurde komplizierter als erwartet und wirkte – im Nachhinein betrachtet – wie pure Ironie des Schicksals.

Der Professor untersuchte Beate auf die damals übliche prüde englische Art. Sie musste sich auf einer Liege ausstrecken, mit einem Laken zugedeckt. Er erklärte den Studenten in vielen Fachausdrücken, die sie nicht verstand, was er ertastete. Anschließend begründete er, an die Patientin gewandt, warum sie vermutlich nicht schwanger werden könne. Jedenfalls auf normalem Wege.

In diesem Moment erlebte sie, wie schwierig es ist, in einer fremden Sprache Zwischentöne und Ungesagtes zu verstehen. Sie begriff es erst viel später.

Der Professor bezog sich auf einen Eingriff, den ein deutscher Arzt vorgenommen hatte. Beate wusste damals nicht, dass dieser Doktor jeder seiner Patientinnen den kleinen Eingriff am Muttermund empfahl. Er verdiente daran, es war eine Art Vorsorge und schadete scheinbar nicht. Dem englischen Professor fiel es dadurch leichter, ihr Unfruchtbarkeit zu attestieren. Sie verstand nichts von dem, was zwischen den Worten mitschwang. Der Mediziner war gebeten worden, ihr zu helfen. Dafür hatte er einen Weg gefunden und erfüllte ihren Wunsch.

Aber Beate reagierte verzweifelt, fühlte sich unerwartet zur Kinderlosigkeit verdammt und fuhr weinend nach Hause. Zu Benno. Der sie zaghaft zu trösten versuchte. Dem sie nach einigen Tagen sagte, sie sei sowas von einer Spinnerin, dass sie es selbst nicht aushalte. Kaum habe der Professor Unfruchtbarkeit diagnostiziert, bleibe ihre Temperatur bei der morgendlichen Messung nach der Gnaus-Ogino-Methode in einem Bereich, als sei sie schwanger. Offenbar protestiere ihr Körper gegen das Urteil. Sie spinne eben!

Erst die Fehlgeburt nach einer langen Autofahrt zeigte, dass da mehr gewesen war.

Schon während der Untersuchung war sie schwanger gewesen. Es hatte nicht sollen sein. Ein Arzt tröstete, dass der Fötus meistens einen guten Grund dafür habe abzugehen.

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