Читать книгу Adoption - Hannelore Kleinschmid - Страница 6
ОглавлениеDie Adoptionsgesellschaft, an die der Wunsch der Grimms weitergeleitet wurde, vermittelte Kinder, deren Vorfahren aus der karibischen Inselwelt nach London gekommen waren, dunkelhäutige Jungen und Mädchen: Babys, aber auch Schulkinder.
Monate gingen ins Land, bis Beate und Benno den Bescheid erhielten, dass sich demnächst eine Sozialarbeiterin bei ihnen melden werde.
Als Anne Martin tatsächlich anrief, wurden sie damit zum ersten ausländischen Paar, bei dem ein Adoptionsverfahren in London eingeleitet wurde. So jedenfalls sagte Anne Martin.
Nach dem ersten Kennenlernen freuten sie sich auf ihre weiteren Besuche. Die sympathische Frau wurde in den nächsten Monaten zu einer Freundin. Nur fehlende Vokabeln bremsten den Redefluss, wenn Grimms über ihr bisheriges Leben berichteten und über das Leiden der kleinen Lydia, das ihr eigenes wurde.
Selbst die Ankündigung, Beate müsse ein adoptiertes Kind zunächst ein Jahr lang zu Hause betreuen und also im Beruf pausieren, gab keinen Anlass, die Sache zu überdenken.
Nachdem Mrs. Martin ihre Lebensläufe, mit vielen Einzelheiten verziert, gehört hatte, forschte sie nach den Motiven für den Adoptionswunsch.
Warum wollen sich Benno und Beate um ein fremdes Kind kümmern? Wollen sie womöglich damit eine Ehekrise oder sonstige eigene Probleme zudecken?
Oder sich selbst von dergleichen ablenken?
Soll das Kind als Trostpflaster dienen?
Wie würden sie reagieren, wenn jemand ihr Kind wegen seiner Hautfarbe angriffe? Oder auch nur anstarrte?
Die Sozialarbeiterin musste sich ein Bild verschaffen. Sie würde den Fall vor dem zuständigen Gremium der Adoptionsgesellschaft vertreten. Nicht Beate und Benno persönlich würden dort Auskunft geben. Nicht einmal ihre Anwesenheit war erforderlich, sondern Anne Martin würde ihre Stimme sein, während sie zu Hause auf die Entscheidung warteten und die Daumen drückten.
Wochen vergingen mit vielen vergeblichen Blicken in den Briefkasten, es war eine Zeit voller Erwartungen auf einen neuen Lebensabschnitt. Sie dehnte sich.
Als Grimms zum Sommerfest der Adoptionsgesellschaft eingeladen wurden, hatten sie zum ersten Mal das Gefühl, aus ihrem Wunsch könne Wirklichkeit werden. Irgendwann. Erwartungsvoll sahen sie dem Picknick im Grünen entgegen, mit vielen Kindern, deren Adoptiveltern und Leuten wie ihnen, die ein Kind annehmen wollten.
Das Wetter meinte es gut, die Sonne schien – nicht nur in der Erinnerung.
Die Kinder, fast ausnahmslos dunkelhäutig, tobten fröhlich durchs Gelände. Allerhand zukünftige Sprinter schienen darunter zu sein, auch jede Menge Fußballer und Handballerinnen, Babys, Kleinkinder und Schulkinder.
Benno und Beate sahen vor allem frohe Menschen. Erst nach Jahren verstand Beate einige Sätze besser, die sie beim Sommerfest gehört hatte.
Ein Vater sprach mit leichtem Bedauern in der Stimme über das Temperament: Mein Sohn ist nicht nur westindischer Herkunft, sondern noch dazu ein Mischling. Die sind überhaupt nicht zu bremsen, wollen nie Ruhe geben oder still sitzen. Das ist manchmal etwas anstrengend, a little bit.
Nachdem Beate ein kleines Mädchen bewundert hatte, antwortete die Mutter, es sei zwar wunderbar, ein Kind zu haben, aber kraftzehrend sei es auch. Sehr sogar. Bei diesem Temperament!
Der sonnige Nachmittag unter vielen fröhlichen Leuten bestärkte die beiden, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Ungeduldig stellten sie sich den Prozeduren. Und lasen Bücher.
How to adopt etwa.
Oder über Kindererziehung.
Dr. Benjamin Spock, seines Zeichens Kinderarzt und Erziehungsberater aus den USA, war gerade in und wurde von Beate beinahe auswendig gelernt. Eine Art Bibel der modernen Erziehung. Groß in Mode wurde durch ihn der Versuch, sich ganz in das Gemüt des Kindes zu versetzen, um die Eltern verständnisvolles Handeln zu lehren. Der Weg zur antiautoritären Erziehung wurde gespurt und von den Kinder-Verstehern theoretisch beschritten.
Was will uns das Kleinkind damit sagen, dass es schreiend Porzellanteller auf den Fliesenboden wirft?
Leider hat der Freund in Deutschland beruflich viel zu tun, außerdem Frau und Kind, ein Adoptivkind. Englisch ist wegen mangelnder Übung nicht die Sprache, in der sich ein Brief locker und leicht schreibt. Noch dazu ein ungewöhnlicher offizieller Brief, wie man ihn nur selten im Leben verfasst.
Grimms sollten jemanden benennen, der Auskunft über sie als Freunde geben könne. Ein Vierteljahr verstreicht, ehe die Adoptionsgesellschaft die gewünschte Antwort erhält. Erst beim Abschied aus England übergibt ihnen Anne Martin einen schmalen Hefter, der nicht nur die Fotokopie eines Briefes von Winnys Mutter, sondern auch den Brief des Freundes enthält.
Seine Auskünfte haben die beiderseitige Beziehung nicht getrübt und das Adoptionsverfahren befördert.
Nach Monaten des Wartens erhalten Benno und Beate endlich eine erste Nachricht von Winston:
Die Sozialarbeiterin will mit ihnen über einen kleinen Jungen mit westindischen Wurzeln reden, der zwar schon ein Jahr alt ist, aber ein Frühchen und wahrscheinlich deshalb in seiner Entwicklung zurückgeblieben.
Ziemlich zurückgeblieben. Rather - das Wort beunruhigt die zukünftigen Eltern.
Jetzt aber sollen sie erst einmal sagen, ob sie grundsätzlich interessiert sind. Mrs. Martin hat zu verstehen gegeben, dass sie Nein zu einem Kind sagen dürfen, ohne damit das Recht auf eine Adoption zu verwirken. Doch der Gedanke an ein Nein ist ihnen suspekt. Wird ein Kind in einer Familie geboren, gibt es auch kein Nein zu diesem Baby.
Anne Martin schreibt ihnen, dass sie sich Zeit für ein weiteres Gespräch freihalten werde und auf ihre Antwort gespannt sei.
Von nun an wird es noch knapp zwei Monate dauern, bis Winny sein Zuhause findet.
Da Sie ein farbiges Kind haben werden, sagt die Sozialarbeiterin, sollten Sie ihm so früh wie möglich von der Adoption erzählen. Sie lässt sich ja schon wegen des unterschiedlichen Aussehens nicht verheimlichen. Also erzählen Sie eine Art Märchen, erzählen Sie, warum Sie ausgerechnet dieses Kind und kein anderes haben wollten. Fangen Sie damit an, sobald Ihr Kind diese Geschichte verstehen kann, also mit drei oder vier Jahren. Es sollte ein besonders schönes Märchen sein, das oft wiederholt wird. Und das auf der Wahrheit fußt.
Fotos vom Neugeborenen gibt es nicht.
Als er mit acht Wochen zu Mrs. Keen in Pflege gegeben wird, macht sie im Laufe des Jahres einige Bilder von ihm. Sie berichtet, dass sie zunächst alle zwei Stunden, Tag und Nacht, füttern musste. Nur langsam habe er das Fläschchen getrunken. Viel Zeit hätten sie beide dafür gebraucht.
Trotz dieser engen Beziehung musste sie von Anfang an wünschen, er möge so bald wie möglich Eltern finden, sie folglich wieder verlassen.
Leider sei er schon zweimal abgelehnt worden. Sie wisse nicht warum. Wo doch alles in bester Ordnung sei mit dem Kleinen!
Auf einem Foto sitzt Winny mit sechs Monaten angelehnt in einer Sofaecke. Mit neun Monaten sieht er rundlich und fröhlich aus und planscht mit zehn Monaten in der kleinen Badewanne.
Zum ersten Geburtstag gibt es fünf Glückwunschkarten von der Pflegemutter und ihren erwachsenen Töchtern. Und darauf jede Menge „little kisses“. Auf dem Papier. Im wirklichen Leben kann der Kleine mit 13 Monaten noch kein Küsschen geben.
Traditionell werden die Glückwunschkarten England gesammelt, denn wer viele vorweisen kann, gehört zu den beliebten Menschen. Wer einen Kamin hat, stellt sie auf den Sims, so dass Besucher sie sehen und auch zählen können.
Winnys Karten wurden sorgsam aufgehoben und an die Adoptiveltern weitergegeben.
Gut einen Monat nach seinem ersten Geburtstag sahen Grimms ihr zukünftiges Familienmitglied zum ersten Mal, und a bit slow (ein bisschen langsam, wie angekündigt) erschien es ihnen nicht.
Als Beate Jahre später die Fotos des kleinen Jungen betrachtet, die im neuen Zuhause aufgenommen wurden, erkennt sie, was sie im ersten Glück übersehen hat. Erst nach mehr als zwei Monaten verschwindet zusammen mit der senkrechten Stirnfalte die Skepsis aus Winnys Augen, er blickt entspannter in die Kamera. Wie es die Eltern vormachen, macht auch er schon bald einen Buhmann, indem er die Backen kräftig aufbläst und die Unterlippe vorschiebt. Doch ein zaghaftes Lächeln zeigt sich erst nach einem halben Jahr, und ein Lachen, auf den Film gebannt, bleibt die Ausnahme.
Wenn man bedenkt, dass der kleine Junge fast zwei Monate allein im Brutkasten und ein Jahr bei der Pflegemutter neben wechselnden fremden Kindern hinter sich hat und dann von einer Stunde auf die andere in eine neue Umgebung zu noch fremden Menschen gegeben wurde, erkennt man seine Skepsis als das natürlichste Gefühl der Welt.
Benno und Beate ahnen, wie groß der Einschnitt im jungen Leben ihres Sohnes sein würde, und hoffen, dass sie ihm mit weit geöffneten Armen und viel Zuwendung bei dem Schritt ins neue Leben helfen können. Wie tief seine bisherigen Erfahrungen sitzen, weiß keiner von ihnen. Trotz der vorbereitenden Gespräche mit der Sozialarbeiterin, trotz kluger Bücher.
Auch als Kindergarten- und Schulkind zeigt Winston selten ein fröhliches Gesicht, meist nur ein Grinsen, wenn der Fotograf Lachen verordnet. Es fiel den Eltern nicht auf, als sie die Bilder ins Album klebten. Sie hatten ein lebhaftes und neugieriges Kind, so dass sie nicht merkten, wie wenig es zu lachen fand.
Fasching mochte Winny nicht, das heißt er wollte sich nicht verkleiden. Während seine Schwester Jana als Clown fröhlich in die Kamera grinst, blickt der siebenjährige Bruder, als Ritter verkleidet, von unten herauf sehr ernst, beinahe missmutig. Seine Mutter hatte angenommen, der Ritter mit Pappschwert oder ein Jahr später der Pirat werde ihm viel Freude bereiten. Sie erkannte nicht, wie schwer es ihm fiel, seine Identität zu finden und daran festzuhalten. Er ist Winston, niemand sonst.
Fröhlich lachend schaut er nur neben seiner Schwester beim Start ins Teenagerleben. Zwei eigene Porträtfotos gefallen ihm so sehr, dass er sich als junger Erwachsener Abzüge wünscht. Auf dem einen Bild steht er in London Knightsbridge vor dem Kaufhaus Harrods neben einem Rolls Royce, einen Fuß lässig nach vorn gesetzt, mit stolzem Lächeln. Die Familie befindet sich auf der Heimreise nach einem Bootsurlaub in England. Das andere Foto dürfte ein Jahr später geknipst worden sein, wiederum beim Bootfahren: Winny sitzt am Steuer, die Lässigkeit in Person, ein Fuß hochgestellt, eine Hand am Lenkrad, die andere locker im Schoß, eine dunkle Sonnenbrille auf der Nase. Und natürlich konnte er das Kajütboot so fehlerlos steuern, mit dem die Grimms auf dem irischen Shannon unterwegs waren, wie er vieles vom bloßen Zuschauen lernte.
Beate klebte die ersten Bilder von Winny in sein Fotoalbum, das sie fortsetzte bis zum 18. Geburtstag, neben den Alben der ganzen Familie.