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Der Erkenntniswert von Romanen

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Diese kulturdiagnostische Fragestellung kann rezeptionsästhetisch nicht durch eine Übertragung individualpsychologischer Erfahrungen auf epochal und ästhetisch differente kollektive Erfahrungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts einer Entscheidung zugeführt werden. Vielmehr geht es darum, diese Erfahrungen, wie sie in der symbolischen Form des modernen Romans selektiert, kombiniert und verdichtet zum Ausdruck kommen, hermeneutisch in Bezug auf das Wechselverhältnis der drei Kulturdimensionen zu reflektieren. Sieht man im Rahmen einer semiotischen Kulturtheorie moderne Romane als kulturelle „Gedächtnisphänomene“ der materialen Seite der Kultur an,26 dann bedeutet das Erschließen, Verstehen und die kritische Reflexion dieser Erzählwelten, diese als eigenständige symbolische Formen zu lesen, deren Rückversetzung der Handlung (bei Romanen des Viktorianischen Zeitalters um 40 – 50 Jahre) sie zu einzigartigen Gedächtnismedien der Krise ihrer Kultur werden lassen.

Zentral sind in diesem Zusammenhang die Plausibilitäts- und Dispositionsfragen der Rezipient/innen des dritten Lebensalters, die sie an die Erzählwelten stellen. Im Unterschied zu Plausibilitätsfragen von Zuhörer/innen, die sich auf den Ich-Fokus narrativer Identitäten richten, zielen Plausibilitätsfragen von Leser/innen auf den Fiktionsstatus von Romanen. Romane vergegenwärtigen Ereignisse poetisch im Erzählten. Ihr „Erkenntniswert (besteht) in einer Vergegenwärtigungsleistung“.27

Narrative Identitäten vergegenwärtigen ebenso. Mit zunehmendem Alter der Erzähler/innen werden sie bedeutungsvoller und intensiver. Lebenserfahrungen werden teleologisch und adressatenbezogen in linearer, temporaler und kausaler Verknüpfung, mit markiertem Anfangspunkt, auf einen sinnstiftenden Endpunkt hin erzählt.28

Aber mit einem wichtigen Unterschied gegenüber Romanen: Narrative Identitäten weisen teleologisch zurück und vergegenwärtigend hin. Sie weisen auf gemachte Erfahrungen und versuchen sie in den kohärenten Zusammenhang eines und dann zu bringen. Der Referenzcharakter narrativer Identitäten zielt auf Kohärenz und Plausibilität gemachter Erfahrungen, die, wie juristische Plädoyers biografische Ereignisse geordnet und/oder assoziativ zusammenziehen und durch Dokumente belegen können, um außergewöhnliche Handlungen „von gängigen Normalitätserwartungen“ plausibel zu unterscheiden.29 Demgegenüber verzichten Romane auf „verweisende Bezugnahme“, auf Referenz.30 Romane stellen autoreferenziell dar und ermöglichen eine Konfrontation mit fiktionalen Erfahrungen und damit eine „Richtungsänderung des Bedeutens“, die die reflektierende Urteilskraft der Rezipient/innen auf der Suche nach Deutung und Sinn aktiviert.31 Während Identität als narrative Konstruktion „stets von Brüchigkeit gekennzeichnet ist“32, sind Romane kontingenzästhetisch strukturiert und verweisen im Erzählen des Erzählens auf ein Spiel mit Brüchen in und mit der Fiktion – siehe z.B. Miguel Cervantes‘ Roman Don Quichote, Laurence Sternes‘ Roman Tristram Shandy, Virginia Woolfs Roman The Waves, James Joyces Roman Ulysses, Günter Grass‘ Roman Die Blechtrommel. Dieses Spiel macht ihre Gesinnung zur Totalität aus und lässt sie zur gegenweltlichen Zeitdiagnose für Rezipient/innen des dritten Lebensalters werden. Der Strukturunterschied, der Romane und narrative Identität voneinander unterscheidet, macht narrative Identität zu einer literarischen „Mischform“33, die das Erschließen fiktional erzählter Welten in ästhetischer Distanz ermöglicht. Plausibilitätsfragen sind also die von den Lebenserfahrungen der Rezipient/innen des dritten Lebensalters bereitgestellten Bedingungen einer kreativen Auseinandersetzung mit den fiktiven Texturen erzählender Literatur. Literarische Texte werden im Lichte der riskierten Ganzheit der Lebenserwartungen der Rezipient/innen des dritten Lebensalters zu bedeutsamen Möglichkeitsräumen, in denen sie sich als ganze Menschen wiedererkennen: als Individuen mit Ängsten und Hoffnungen, mit Widersprüchen, mit Abgründen und als Individuen, die kreativ und zerstörerisch sein, lieben und hassen können und Visionen haben.

Zu symbolischen Gedächtnismedien werden Romane also dadurch, dass sie im Akt des Fingierens Elemente der drei Kulturdimensionen, mithin „Elemente der außerliterarischen Realität“, in andere imaginäre, diffuse Bedeutungen ohne Objektreferenz überführen.34 Damit irrealisieren sie empirische Wirklichkeitselemente und weisen ihnen fiktional den Status der Realität zu. Als Ausdrucksformen des kulturell Imaginären35 verdichten moderne Romane, durch Rückgriffe Vergessenes, Erinnertes und Zukunftsweisendes ihrer Kultur. Durch Neu- oder Umstrukturierungen temporaler und kausaler Ordnungen eröffnen sie im Rezeptionsakt Analogien, die, im Rahmen des kollektiven Gedächtnisses moderner Erfahrungen, kulturspezifische Schemata des 19. Jahrhunderts mit Schemata individuell kulturellen Erinnerns des 20. und 21. Jahrhunderts aktualisierend verknüpfen.

Beide Formen des kollektiven Gedächtnisses, nämlich kulturelles Erinnern als individueller Akt und das Gedächtnis der Kultur in den ästhetischen Formen der Romane des Viktorianischen Zeitalters sowie der frühen Moderne, wirken durch ihre jeweilige narrative Struktur im Zusammenspiel von individueller und kollektiver Ebene im Rezeptionsakt zusammen.36 Mit Paul Ricoeur kann man diese Aktualisierung kultureller und biografischer Muster als Refiguration bezeichnen, in der die Dynamik der erzählten Welten an ihr Ziel kommt: „Erst in der Lektüre kommt die Dynamik der Konfiguration an ihr Ziel. Und erst jenseits der Lektüre, in der tatsächlichen Handlung, die bei den überkommenen Werken in die Lehre gegangen ist, verwandelt sich die Konfiguration des Textes in Refiguration.“37

Rezeptionsästhetisch bedeutet diese Aktivität der Leser/innen, dass ihr Selbst- und Weltbild, ihre Werte und Normen aufs Spiel gesetzt und Erfahrungen ihrer transitorischen Identität affiziert werden. Zudem öffnen sich ihnen Potenziale narrativer Identität und transgenerationaler Diskurse.

Lesen im dritten Lebensalter

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