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2.1 Die narrative Paradoxie der Romane des Viktorianischen Zeitalters
ОглавлениеRomane des Viktorianischen Zeitalters sind Wegbereiter modernen Erzählens. Sie zeichnen sich durch eine große Formenvielfalt aus, die jede Kategorisierung dogmatisch erscheinen lässt. Um drei Vertreter/innen dieser Gruppe von Romanen, Charles Dickens, Charlotte und Emily Brontë, wird es im dritten Teil gehen.
Romane der klassischen Moderne Großbritanniens lassen zwei Entwicklungslinien erkennen. Zum einen die Linie traditionellen Erzählens, die allerdings mit der Prosa des viktorianischen Romans durch thematische Erneuerungen nicht mehr zu vergleichen ist. Vertreter dieser Linie sind D.H. Lawrence, Aldous Huxley, Christopher Isherwood.
Zum anderen experimentelles Erzählen, das sich durch Multiperspektivität, Hybridität, Fragmentarisierung und die Gestaltung des stream of consciousness auszeichnet. Vertreter dieser Linie sind Joseph Conrad, Virginia Woolf und James Joyce.1 Um eine der Vertreterinnen dieser experimentellen Linie, Virginia Woolf, wird es im drittenTeil, im Anschluss an die Vertreter des Romans des Viktorianischen Zeitalters, gehen. Sie entwirft eine alternative Erzählkunst zu der des 19. Jahrhunderts.
Das Viktorianische Zeitalter ist eine gesellschafts- und kulturverändernde Umbruchszeit. Mit der Regierungszeit Königin Victorias erstreckt es sich von 1837 bis 1901. 1837 erscheint Charles Dickens‘ erster großer Roman Oliver Twist und 1901 Rudyard Kiplings Roman Kim. Diese Romane liegen chronologisch und topografisch zwar weit auseinander, haben jedoch, obgleich sie der ersten und der zweiten Modernisierungsphase zuzuordnen sind, frappante narrative Ähnlichkeiten: Zwei junge Protagonisten wandern orientierungslos und sinnsuchend in einer komplexen und unüberschaubaren Welt umher. Romane des Viktorianischen Zeitalters sind entgegen gängiger Vorurteile nicht altmodisch und kitschig. Vielmehr entwickeln sie komplexe erzählerische Energien, deren Intensität und Einzigartigkeit zugleich affirmativ und zeitkritisch sind, Leser/innen auch heute noch mit Orientierungsverlust und Wertezerfall konfrontieren und als Wegweiser modernen Erzählens erschlossen werden können. Ihre enzyklopädischen Horizonte, die durch multiple Plots entfaltet werden, setzen sich nicht nur mit dem status quo sozialer und moralischer Konventionen ihrer Zeit auseinander und stützen mit diesem Programm die neu entstandene industrielle und kapitalorientierte Mittelklasse, sind also Erzählwelten ihrer Zeit, sondern spielen mit affirmativen Lebenshaltungen, drehen sie um, stellen sie in ihren Kehrseiten dar. Zugleich mit ihrer affirmativ erscheinenden Konstruktion sind sie gegen die Zeitströmungen der Kapitalakkumulation, des Nützlichkeitsdenkens, des linearen Fortschritts und Zerfalls der Humanität verfasst. Weder waren sie zu ihrer Zeit bequeme Ratgeber, noch können sie heute so verstanden werden. Sie sind, in der Formulierung George Levines: „(…) exploratory and inquisitive as well as didactic und moralistic.”2
Die hier vorgelegte Auswahl von bekannten Romanen des Viktorianischen Zeitalters wird mit ihrer narrativen Verfremdungstechnik begründet, an der sich exemplarisch zeigen lässt, wie diese Romane die viktorianische Welt entdecken, erforschen, kritisieren und erzählerisch innovativ entwerfen. Dabei rückt ein zentrales Charakteristikum der Romane des Viktorianischen Zeitalters ins Zentrum: Das Paradox des poetischen Realismus, das sich bei jedem der Romane unterschiedlich auswirkt, in Varianten europäische Romane des 19. Jahrhunderts strukturiert und diese als moderne Romane auszeichnet.
Das Paradox besteht in der nicht auflösbaren Ambivalenz des erzählerischen Anspruchs auf realistische Detailgenauigkeit, die wegen ihrer Komplexität unerfüllbar bleibt und dem Anspruch der narrativen Bündelung der Details in Perspektiven, die die Unerfüllbarkeit des Anspruchs als erfüllbar, mithin plausibel erscheinen lassen.
Dieses Paradox, das sich mit Zima als strukturelle Ambivalenz bezeichnen lässt – Ambivalenz, verstanden als Zusammenführung unvereinbarer Gegensätze oder Werte, ohne Synthese3 – enthält die epistemologische Frage, ob ideelle, imaginative Entwürfe mehr Realität enthalten als Empirie, und wie Ideen und Imagination von äußeren Umständen abhängig sind? Romane des Viktorianischen Zeitalters lösen dieses Problem nicht, sie stellen es narrativ dar, indem sie es in die Innenwelt ihres jeweiligen Erzählkosmos transformieren – „throwing the drama inside“4 – und damit zum Problem ihrer Form machen: Das Innenleben der Protagonisten gerät in multiplen, sich durchkreuzenden Handlungssträngen in Konflikte mit der Empirie einer zur Prosa gewordenen Welt, wobei die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf Totalität der Romane ideelle Lösungsmöglichkeiten anbietet. Diese Romane kommentieren geradezu postmodern im Erzählen des Erzählens diese Ambivalenz bzw. Paradoxie einer imaginierten Empirie als Spiel mit dem Schein. Die Autoren heben in ihren Vorworten immer wieder hervor, dass realistisches Erzählen, ihr als ob, sich von Dichtern der bürgerlichen Moderne, nämlich der englischen Romantik, herleitet, „(…) which made the ‚ordinary‘ into the romantic, and made the true epic not warriors’ adventures around the world, but the growth of the mind.“5 Realistisches Erzählen als durch und durch literarisches Erzählen ist die Entdeckung, Erforschung und der imaginative Neuentwurf des modernen Selbst in einer neu zu entdeckenden, komplexen und unüberschaubar gewordenen Welt mit dem Anspruch, Bekanntes und Unsichtbares sichtbar werden zu lassen. Nicht mehr fantastische Götter, Zauberer und Dämonen geben dem modernen Roman seine narrative Form, sondern die „(…) Desillusionierung der Welt, wie sie die Neuzeit und Aufklärung bewirkt haben.“6
Desillusionierung der Welt heißt, die Dinge, wie sie sind, sichtbar machen, utilitaristische, religiöse, fortschrittsorientierte Ideologien zu entlarven und Leser/innen Denkanstöße über Sinnes- und Selbsttäuschungen zu geben, um die aus ihnen folgenden Krisen und Katastrophen, wie sie beispielsweise in Cervantes‘ Roman Don Quichote zum Ausdruck kommen, zu vermeiden.7 Es heißt aber auch, in Analogie zum Humor, dass narrative Erzählwelten zusätzliche, nicht sichtbare Wirklichkeiten zulassen, so dass „im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden“ kann.8 Romane des bürgerlichen Zeitalters, moderne Romane, stellen Grenzphänomene der Vernunft bzw. die Kehrseite einer als vernünftig angesehenen Welt dar.
Da bürgerliche Romane von Anbeginn an mit ihren Erzählfiguren experimentieren – ein imaginäres „experimentelles Ego“ entwerfen und der „existentiellen Problematik (der Figuren) auf den Grund“ gehen,9 kann die zur Altersgelassenheit werdende Lebenshaltung der Rezipient/innen des dritten Lebensalters eine ästhetische Wahrnehmungssensibilität entwickeln, die hinsichtlich der Fragilität der Erzählfiguren in einer komplexen Erzählwelt, diese als poetische Verdichtung der „Komplexität der Existenz in der modernen Welt“10 reflektieren und in Plausibilitätsfragen manifestieren kann.
Auf dem Prüfstand der Romane und der Leser/innen steht der epistemologische Anspruch der Erzählwelten mit ihrem ethischen Anspruch realistisch zu erzählen, um die gesellschaftliche Realität zur Humanität zur verändern. Erich Auerbachs Studie Mimesis stellt für diesen Anspruch eine klassische Definition bereit. Die „(…) ernste Darstellung der zeitgenössischen alltäglichen gesellschaftlichen Wirklichkeit auf dem Grunde der ständigen geschichtlichen Bewegung“, bildet das Zentrum realistischen Darstellens.11
Da aber realistisches Darstellen epistemologisch mit dem Erzählen von Wahrheit verknüpft ist (wie es wirklich ist und war), entsteht durch den Wahrheitsanspruch das Paradox des poetischen Realismus mit anthropologischem und ethischem Anliegen. George Levine kommentiert: „Realism (…) is paradoxically an attenuated form of a distinctly non-realistic narrative practice.“12 Erich Auerbach, George Levine und Odo Marquard sehen die Auflösung der Paradoxie in den Romanen des poetischen Realismus selbst: Diese Romane gestalten Lebens- und Entscheidungssituationen als Welten der Ambivalenz und Relativität und sie gestalten narrative Universen, die mit dem Erzählen des Erzählens spielen, sich selbst kommentieren und in Details und Gesamtkonstruktion ihren Leser/innen anthropologische und ethische Sinnangebote machen.13
Die Refiguration der Romanwelten durch die Rezipient/innen des dritten Lebensalters, der Diskurs über ihre Lektüreerfahrungen und Plausibilitätsfragen im Literaturseminar, können diese kulturkritischen Erfahrungen und Selbsterfahrungen im Zusammenwirken von individuellem Erinnern und kollektivem Gedächtnis, wie sie in der ambivalent strukturierten Gedächtnismetaphorik der Romane des Viktorianischen Zeitalters zum Ausdruck kommen, ermöglichen.
Wenn nun imaginative Entwürfe mehr Realität enthalten als Empirie, dann entwickeln moderne Romane narrative Programme, die die Realität imaginativ perspektivieren. Was heißt das? Romane des Viktorianischen Zeitalters entwickeln das Paradox ihres poetischen Realismus ambivalent aus zwei antagonistischen Energien heraus: einer anthropologischen und einer ethischen Energie, die antithetisch gegeneinander wirken und die Inkohärenz ihrer Form als Schein ihrer Kohärenz durchschauen lassen.
Die anthropologische Perspektive rückt die Frage in den Mittelpunkt: Was ist der Mensch? Die komplexen und sich überkreuzenden Handlungsstränge und Plots der Romane des Viktorianischen Zeitalters beantworten diese Frage auf der inhaltlichen Ebene, also auf der Ebene erzählerischer Dynamik, kulturpessimistisch: Menschen sind unberechenbar, unbesonnen, machtbesessen, gierig, abgründig, nicht festzulegen, exzentrisch, heimatlos.
Aus dieser kulturpessimistischen Sicht entfalten sich in den Romanwelten Zufälle, Erwartungsbrüche, Perspektivenwechsel, Stimmungsumschwünge in asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen problematischen Individuen und einer zur Prosa gewordenen Welt, die sowohl die Machthaber, als auch die von ihnen manipulierten Subjekte als problematische, zwiegespaltene Subjekte – jedes auf seine Weise – zum Ausdruck bringen. Diese Dramaturgie der Doppelkrisen findet man beispielsweise auch bei Shakespeare, Goethe, Schiller und in den Opern Verdis. Die Seite der Mächtigen zeigt sich im Zwiespalt zwischen dem Bestreben, ihre Macht zu erhalten, bei innerer Bedrohung ihrer Autonomiefähigkeit und die Seite der ohnmächtigen Figuren befindet sich im Zwiespalt zwischen ihrer Autonomiefähigkeit und der inneren Bedrohung ihrer Autonomiemöglichkeiten. Die Blickrichtung der Mächtigen ist rückwärtsgewandt, die der Ohnmächtigen zukunftsgerichtet. Diese doppelgesichtigen Gegenströmungen werden in den Romanen des 19. Jahrhunderts kontingenzästhetisch gestaltet. Es entsteht ein Perpetuum mobile, das in der Darstellung durchkreuzter Selbstbestimmungsmöglichkeiten im Möglichkeitsraum der Fiktion visionär deren Gegenperspektive – versöhnte personale Autonomie – entwirft.
Dieses kontingenzästhetische Erzählgewebe ist gesellschaftskritisch angelegt und eröffnet bei Rezipient/innen des dritten Lebensalters aufgrund ihrer Lebenserfahrungen komplexe imaginative Möglichkeits- und Spielräume, die sie mit kulturell differenten Erfahrungen konfrontieren, weil sich gesellschaftliche und kulturelle Diskrepanzen narrativ erschließen und durch Zusatzmaterialien kulturgeschichtlich in Augenschein nehmen lassen.
Die ethische Perspektive rückt die Frage in den Mittelpunkt: Was ist angesichts der Korrumpierbarkeit des Menschen und seiner Handlungen zu tun? Romane des Viktorianischen Zeitalters stellen diese Frage heutigen Leser/innen anheim und laden sie zu Plausibilitätsfragen ein, auf die unten eingegangen wird.
Die Romane beziehen eine autoreferenzielle Gegenperspektive zur Elastizität ihrer inhaltlichen Behauptung, der Mensch sei abgründig und heimatlos. Sie flechten intentional kulturoptimistische Perspektiven ins narrative Gewebe ein. Entgegen der Intention, der Mensch sei kontingenzanfällig, breitet sich innerhalb des kulturpessimistischen Erzählgewebe die humoristisch bzw. in romantischer Ironie gestaltete Sichtweise aus, Menschen seien, mit Ausnahme der unbelehrbaren abgründig Bösen, gut und sozial harmoniefähig, symmetrischer Beziehung fähig, die personale Autonomie intersubjektiv möglich werden lässt. Diese affirmative Sicht, die der Gefahr einer Ontologisierung personaler Autonomie nicht entgeht, durchwirkt das kulturpessimistische Perpetuum mobile der Romane als aussagekräftiger Teil ihrer Ganzheit und stellt es ideologienahe still. Heutige Rezipient/innen des dritten Lebensalters empfinden diese ideologienahe Stillstellung als Erwartungsenttäuschung, als Bruch und Zerbrechen der narrativen Ganzheit, als die strukturelle Ambivalenz, die sie ist, die den Plausibilitätstest aus ihrer Sicht hinsichtlich der anthropologischen Ebene nicht besteht, selbst wenn symmetrische Potenziale in den asymmetrischen Beziehungen vom Erzählbeginn an angelegt sind.
Formuliert man diese rezeptionsästhetische Problematik unter der Fragestellung, welche narrativen Potenziale der Mündigkeit und Reife die Romane des Viktorianischen Zeitalters den Rezipient/innen des dritten Lebensalters bieten, so erhält die epistemologische Ambivalenz dieser Erzählwelten eine erweiterte Perspektive: Die komplexe Verflechtung von Problemen und Krisen, mit denen sich die problematischen Individuen auf der anthropologischen Ebene der Romane auseinandersetzen, weisen auf Möglichkeiten einer noch unerreichten Mündigkeit und Menschenwürde hin. Jedoch durchkreuzt und ergänzt die ethische Dimension der Romane mit der in ihr enthaltenen idealisierten Tugendethik des 19. Jahrhunderts diese Möglichkeit und setzt ihr zugleich eine oft märchenhafte Vision von Mündigkeit und Menschenwürde entgegen. Die ästhetische Paradoxie des Realismus der Romane des Viktorianischen Zeitalters besteht aus einer romantischen Weltsicht, die illusionslos die Abgründigkeit des modernen Menschen aufdeckt, weil sie sich erzählerisch von ihren empirischen und naturalistischen Erscheinungsweisen entfernt. Sie öffnet eine Tiefe der narrativen Welt, in der sich traumanalog Gegenwart und Geschichte, Erforschung des Selbst und Mythos begegnen. Diese Begegnung gibt den Erzählwelten jenseits politischer Umstände eine erweiterte, ihre Epoche transzendierende Zeitebene, die bis in die Gegenwart heutiger Leser/innen reicht.
Rezipient/innen des dritten Lebensalters erkennen in dieser Ästhetik romantischer Illusionslosigkeit die fiktionale Forderung nach Mündigkeit, die im Zeitalter des technischen Fortschritts historisch unerfüllbar blieb. In dieser Erkenntniskritik, die Unmündigkeit ästhetisch reflektiert, so auch in den Opern Verdis, wie Rigoletto, Otello, Macbeth, werden die Romane des Viktorianischen Zeitalters zu Wegbereitern modernen Erzählens; sie sind moderne Romane.
Die Ambivalenz der antithetischen Energien, der anthropologisch-kritischen und der ethisch- affirmativen evoziert kreative Dialoge zwischen den Romanwelten des Viktorianischen Zeitalters und Rezipient/innen des dritten Lebensalters. Die Entdeckung, dass Handlungsverwicklungen und die Gestaltung der jeweiligen Romane kolportagehaft zusammengehalten werden bzw. auseinanderbrechen, die potenzielle Kohärenz der narrativen Form epistemologisch auseinandergetrieben wird und heute nicht mehr plausibel erscheint, regt zu Reflexionen an, inwiefern die konflikterzeugende Doppelgesichtigkeit der Konstellation von problematischen Protagonisten und Antagonisten auf den Inhaltsebenen der Romanwelten und Brüchen auf der narrativ formalen Ebene, transitorische Identitätserfahrungen kultursemiotisch wiedererkennen lassen?
Shakespeares Komödien und Tragödien stellen die Frage nach dem modernen Selbstverständnis ebenso, wie die Wegbereiter des modernen Romans. Zu nennen sind beispielsweise Miguel Cervantes Don Quichote (1605/1615), Laurence Sternes Tristram Shandy (1759), Charles Dickens‘ Oliver Twist (1837) und, doppelperspektivisch, Dickens‘ Bleak House (1852), Charlotte Brontës Jane Eyre (1847), Emily Brontës mehrfach perspektivierter Ich-Roman Wuthering Heights (1848), Flauberts L’Education Sentimentale (1869), um nur einige zu nennen.
Gestaltet wird die Suche nach personaler Autonomie, aus der Sicht gesellschaftlicher Außenseiter oder außergewöhnlicher Individuen. Selbstbestimmung wird zum ästhetischen Problem. Dort, wo im Mittelalter der Glaube zentral war und zur Zeit der Aufklärung das autonome Selbst zur abstrakten Idee wurde, entstand in der frühen Neuzeit und in der Romantik ein – wie Peter Gay deutet – „bedrohliches Vakuum“ („a frightening vacuum“), das bei Künstlern und Schriftstellern eine verzweifelte Suche nach „geistiger Zuflucht“ hervorrief. „Zur Debatte“, so Peter Gay, „stand das Bild vom Selbst“; die Suche gestaltete sich als Suche nach plausiblen Gestalten des Schöpferischen, als Entfesselung eines inneren Sinns und einer poetisch narrativen Wiederverzauberung der Welt.14
In dieser Entwicklung der Moderne, die ein Sinnvakuum hervorrief, wird der kulturdiagnostische Ausdruck der Romane erkennbar: Ihre durch strukturelle Ambivalenzen fragmentarisierten Universen konfrontieren die Entfremdungserfahrungen und das Sinnvakuum ihrer Zeit. Die Paradoxie des poetischen Realismus ist ihr Wahrheits- und Wiederverzauberungsmoment. Sie ruft über Plausibilitätstests, die weiter unten erläutert werden, kreative Wahrnehmungs- und Selbstreflexionsmöglichkeiten der Rezipient/innen des dritten Lebensalters hervor, weil moderne Romane, wie die Moderne, keine adäquate Antwort auf das moderne Identitätsparadigma geben können: „In der Moderne ist keine ‚zeitgemäße‘ Antwort auf die Identitätsfrage ein letztes Wort oder ein Akt, der definitiv zeigen könnte, wer eine Person (geworden) ist und sein möchte.“15