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1.5 Rezipient/innen des dritten Lebensalters – Die zweite Generation nach dem Zweiten Weltkrieg

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Im Rahmen von gelenkten Seminargesprächen, die durch eine Drei-Phasen-Methode strukturiert sind – wir gehen weiter unten darauf ein – kommen wissbegierige, neugierige und sprachsensible Teilnehmer/innen des dritten Lebensalters freiwillig und mit Interesse an Romanlektüren zusammen.

Die Lebendigkeit der Interaktion zwischen den Rezipient/innen und den literarischen Texten, ihr Erschließen, Durchdenken und der kritische Diskurs, kommen durch Potenziale zustande, die in der Gerontologie unter dem Begriff der Alterskreativität zusammengefasst werden. Deren charakteristische Merkmale sind Offenheit und imaginative Möglichkeiten. Dazu gehört auch die Fähigkeit zur Gerotranszendenz, deren Schlüsselkompetenzen Weltinteresse und Spiritualität sind. In der Interaktion zwischen den literarischen Texten und den Rezipient/innen werden diese Fähigkeiten aktiviert und die heilende Kraft der Phantasie der Rezipient/innen wird kathartisch wirksam.

Die kreativ heilende und politisch wirkende Kraft der Phantasie wird von dem Gerontologen Andreas Kruse in Bezug auf Johann Sebastian Bach,1 von dem Sozialphilosophen Axel Honneth in Bezug auf Bob Dylan,2 von dem Filmtheoretiker Burkhardt Lindner in Bezug auf Charlie Chaplin,3 von der Psychoanalytikerin Luise Reddemann4 und von Musikern, Kabarettisten und Lyrikern der Nachkriegszeit5 in Bezug auf kreative und produktive Potenziale und ihre kathartischen Wirkungen für die Nachkriegsgeneration, von Soziologen aus Experteninterviews mit Gerontologen und Medizinern,6 von den Philosophen Walter Benjamin7 und Christoph Menke8 in Bezug auf die politische Wirksamkeit der ästhetischen Urteilskraft herausgearbeitet.

Am Beispiel der Erzählwelten von Charles Dickens, der Brontës und Virginia Woolfs kann deutlich werden, dass Literatur Imaginationsräume entstehen lässt, die die Kreativität im Alter anspricht und neue Freiräume mit einer Sensibilität für Fiktionalisierungen öffnet.9 Der Romantheoretiker und Anglist F.K. Stanzel spricht in Bezug auf das Erschließen und Verstehen von Romanen und damit auch in Bezug auf Potenziale narrativer Identität Alternder von „Affinitäten, Analogien und Ähnlichkeiten" mit Innovationen der modernen Poetik, die mit den Mitteln der erlebten Rede, des inneren Monologs und des Bewusstseinsstroms den veränderten Sichtweisen des Alters ideal entspreche.10

Auch Schriftsteller wie beispielsweise Charles Dickens, Elizabeth Gaskell und die Brontës trugen mit ihren herausfordernden gegenbildlichen Erzählwelten nicht nur zu Sozialreformen, sondern auch zur bis heute wirksamen Aktualität der Frauenfrage und zu Fragen nach der Bedeutsamkeit persönlicher Autonomie in der reflexiven Moderne bei.

Altern als Werden zu sich selbst, so Thomas Rentsch, ist durch die Unwiederbringlichkeit des menschlichen Lebens, die Unvordenklichkeit seiner Anfänge, die Unvorhersehbarkeit seines Endes bestimmt, wobei diese Negativitätserfahrung der Begrenztheit keine abwertende Bedeutung impliziert. Sie ist in der Konzeption transitorischer Identität verankert: „Die Vorsilbe ‚Un-“, so Rentsch, „indiziert jeweils pragmatische Handlungsunmöglichkeiten, etwas, das wir aufgrund der Konstitution unseres endlichen Lebens nicht können.“11

Dieses Nicht-Können zeigt sich in den Grundzügen unseres Selbstverhältnisses: in der „Verdecktheit der eigenen Vergangenheit“, in der „ständig mögliche(n) Selbstverfehlung“, schließlich in der Fragilität und Endlichkeit des menschlichen Lebens,12 Grundzüge, die Jürgen Straub als Momente der Selbstentzogenheit transitorischer Identität reflektiert.

Im Alternsprozess tritt durch die kürzer werdende Lebenszeit die Erfahrung transitorischer Identität als Selbstentzug deutlicher als in jüngeren Jahren hervor. Der Alternsprozess in der Moderne ist, in der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, durch sein Gefährdungsbewusstsein und durch die Möglichkeit zur kreativen Gestaltung des eigenen Lebens geprägt. Angesichts der menschlichen Grundsituation eines Werdens zu sich selbst, spitzt sich die Paradoxie des Alternsprozesses auf die Erkenntnis zu, dass das Alter als „ein konstitutiv riskantes, gefährdetes und gebrochenes Werden zu sich selbst“ erfahren wird.13

Gerade Musik spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Die Gerontologen Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl führen dazu aus:

Die Musik gibt uns zunächst die Möglichkeit, seelische und geistige Prozesse auszudrücken und auf dem Weg dieses Ausdrucks zu reflektieren. Durch die Reflexion werden erst Erlebnisse in Erfahrungen und Erkenntnisse transformiert. Sie bildet weiterhin eine bedeutende Grundlage für das Werden zu sich selbst – eine Entwicklungsaufgabe, die angesichts der Veränderungen, mit denen sich ältere Menschen in ihrer Lebens Situation konfrontiert sehen (…), von hervorgehobener Bedeutung ist.14

Das Werden zu sich selbst ist ein seelischer und körperlicher Entwicklungsprozess, der im Alter zu einer Durchlässigkeit für neue Erfahrungen, einem Persönlichkeitswachstum, einer psychischen Widerstandsfähigkeit, einer Flexibilität in Bezug auf positive soziale Beziehungen führt, die der oder dem Alternden ermöglicht, „im Einklang mit sich selbst zu stehen“.15 Musik, Kunst und Literatur lassen Altern zur Erfahrung eines „höchst dynamischen Prozess(es)“ werden.16

Vor diesem anthropologischen Hintergrund einer philosophischen Ethik der späten Lebenszeit lässt sich verstehen, dass flexible Autonomie bzw. integrierte Persönlichkeit im Alter „Plastizität (…) im gesellschaftlich-kulturellen Kontext“17 der Moderne mit ihren Umbruchzeiten bedeutet. Entgegen gesellschaftlicher Defizitdiskurse über das Alter entstehen im dritten Lebensalter Kreativitätspotenziale, die in Bezug auf die Ganzheit eines individuellen Lebens sowie auf die Generationenfolge und die Erhaltung der Natur, das eigene Leben in eine umfassende Ordnung stellen kann.

Sieht man mit dem Philosophen Otfried Höffe, dass das reduktionistische Menschenbild, das westliche Gesellschaften von Alternden entwerfen, aus vier Problemfeldern besteht: „(1) Einschränkung des Handlungsspielraums; (2) Entmündigung im Alter; (3) Vernachlässigung; (4) Gewalt gegen die Älteren (…)“18, und setzt man das ganzheitliche Persönlichkeitsmodell des Gerontologen Andreas Kruse dagegen – dieser entwirft 5 Kategorien gelingenden Lebens: „1. Selbständigkeit, 2. Selbstverantwortung, 3. Bewusst angenommene Abhängigkeit, 4. Mitverantwortung (…). 5. Selbstaktualisierung“19, dann wird die Fähigkeit Alternder zur „Gerotranszendenz“20 einsichtig.

Diese Fähigkeit ermöglicht einen Alternslernprozess auf den näher kommenden Abschied von einem langen Leben hin, der Lebenserfahrungen eines selbstbestimmten Lebens verbindet mit Potenzialen, die Resilienz und Resistenz im Gefühl einer „irreduziblen Würde“21 mit einander verbinden. Resilienz bezieht sich auf individuelle, Resistenz auf gesellschaftsbezogene Potenziale einer flexiblen Lebensgestaltung des Alterns in der reflexiven Moderne.

Da im Alter, sei es aus gesundheitlichen, sozialen oder kulturellen Gründen, immer individuelle Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Selbständigkeit auf dem Spiel stehen, können Selbst- und Fremdbestimmung von außen und/oder von innen in ein prekäres Ungleichgewicht geraten. Es geht daher im Alternsprozess darum, „dem eigenen Leben (…) Form und Gestalt zu geben“.22

Im Rahmen neuer Forschungen zu Bedingungen eines guten Lebens im Alter beschreibt Harm-Peer Zimmermann wie es alternden Menschen gelingen kann ein zufriedenstellendes Leben angesichts von Einschränkungen und Belastungen zu führen. Zimmermann schlägt den Begriff einer Alters-Flexibilität vor, der sich nicht nach zentralen Verhaltensanforderungen in Gesellschaft und Medien richtet – diese Anpassung zöge eine marktorientierte, außengeleitete Lebensführung und Konformismus nach sich.23 Vielmehr führten von innen heraus gestaltete eigene Wege zu einer inneren Selbstfindung, die Alters-Flexibilität als Lebenshaltung und Halt im Leben der Älteren verspreche. Zu den Lebensinhalten käme die Lebensform als eine „Gefasstheit“ zum Zuge, die sich angesichts der „Miseren des Alters und (…) überhitzte(r) Leitartikel und Debattenreden“24, nicht irremachen lässt. Es geht bei dieser Haltung darum nach innen und nach außen Distanz durch eine Haltung kritischer Flexibilität zu bewahren.25 Diese Haltung nennt Zimmermann Alters-Coolness. Das kritische Potenzial dieser Coolness sieht Zimmermann darin, dass es mit gesellschaftlichen Flexibilitätsanforderungen auf gleicher Augenhöhe umgeht. Das bedeutet, dass Alters-Coolness nicht unter das Niveau von gesellschaftlichen Flexibilitätsanforderungen fällt:

Ihre kritische Virulenz besteht gerade darin, dass sie den Flexibilitätsstandard des modernen Lebens nicht unterläuft, sondern ihn sogar überbietet. Coolness steigert die Flexibilitätsanforderungen noch. Aber gerade durch diese Steigerung lässt sie die Flexibilitätsforderung hinter sich beziehungsweise überführt sie in eine andere Form.26

Diese andere Form besteht darin, dass sie sich der Norm der Flexibilität bedient, um gesellschaftliche Flexibilitätsforderungen an ihren eigenen Standards zu messen. Alters-Flexibilität kann in Resistenz und Kritik umschlagen, sobald sie mit gesellschaftlichen Altersbildern und Altersrollen konfrontiert wird. Zimmermann folgert: „Coolness bestätigt und bekräftigt den Abstand von verbindlichen Altersbildern, aber sie hält ebenso Abstand von der Unverbindlichkeit des Flexibilitätsregimes selbst.“27 Diese reflektierte Distanz, die vergleichbar ist mit der von Kant analysierten persönlichen Autonomie als Selbstgesetzgebung der Vernunft, verleiht Alternden, so Zimmermann, „(…) die Konstitution der Gefasstheit und Fähigkeit zur Distanzierung, nämlich die Souveränität, auf Verhaltensanforderungen der Flexibilität flexibel zu reagieren.“28 Diese Souveränität bezieht sich selbstreflexiv auf die Alternden, soziale Kontexte, zukünftige Generationen und auf den Erhalt der Natur. Sie entspricht in ihrer Plastizität der von Axel Honneth entworfenen Theorie dezentrierter Autonomie, die „Dimensionen des individuellen Verhältnisses zur inneren Natur, zum eigenen Leben im Ganzen und (…) zur sozialen Welt umfasst.“29

Der Begriff der persönlichen Autonomie, so Honneth, lässt sich als eine „zwanglose und freie Selbstbestimmung denken“, die besondere Fähigkeiten „(…) im Umgang mit der Triebnatur, mit der Organisation des eigenen Lebens und den moralischen Ansprüchen der Umwelt“30 verlangt. Sie verbindet in der Haltung der individuell organisierten Flexibilität Lebenserfahrungen des bisherigen gesamten Lebenslaufs in der reflexiven Moderne mit einem intuitiven, verborgenen Wissen,31 das der Haltung der Alters-Flexibilität eine kontextsensible Richtung weist. Elemente dieses intuitiven Wissens ergeben sich aus Experteninterviews mit Medizinern, Pflegepersonal und Gerontologen zu Bedingungen eines guten Lebens im Alter und hohem Alter angesichts der Verletzlichkeit und Endlichkeit des Menschen.32 Zu den Elementen intuitiven Wissens gehören die Sensibilität für eigenes Leid und das Leid anderer, Selbstverantwortung und Bedürfnisorientierung, ein Gefühl und Verständnis für Grenzsituationen, denen „etwas Plötzliches, Propulsives oder Höheres“ anhaften kann,33 Erfahrungen mit Erlebnissen existenzieller Krisen und Einsamkeit, Erfahrungen von gemeinsamer oder individueller Trauer, Antizipation von Sterben und Transzendenz. In der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit spielen im Alter Phantasien und Tagträume, Daseinsthemen, wie sie in Literatur, Filmen und Kunst, in Theologie und Philosophie verhandelt werden, eine wesentliche Rolle.34 Dabei werden Resilienz und Anpassungsfähigkeit im Alter als wichtige Ressourcen anerkannt:

Da sei eine Großräumigkeit im alten Menschen, das Alter wird verbunden mit dem Hervorbringen von Wunderbarem und der Fähigkeit, seine Lebensgeister wieder erwecken zu können. Dies führt (…) zum Transzendentalen und dem Überschreiten von Grenzen und Grenzsituationen. Spiritualität wird genannt und der Humor, die Fähigkeiten zu kleinen Dummheiten und Narreteien des Alters.35

Aus den Elementen des intuitiven Wissens im Alter resultieren sensible und flexible Verhaltensweisen alter Menschen in Alltag und Kultur. Diese Fähigkeit besitzen auch die zwischen 1940 und 1950 geborenen Rezipient/innen des dritten Lebensalters, die als zweite, als Nachkriegsgeneration, zwischen der ersten, die am Zweiten Weltkrieg teilgenommen und unter den Verbrechen der Nationalsozialisten gelitten hat und der dritten Generation, der im Frieden aufgewachsenen zwischen 1960 und 1985 geborenen Jahrgänge, zu situieren ist.

Dokumentationen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland lesen sich wie Skripte antiker Tragödien, deren Zentren unauflösbare Dilemmata, Vertrauens- und Sinnverlust und die Fragwürdigkeit menschlicher Werte bilden. Die strukturellen Erfahrungen der Nachkriegszeit in Deutschland, die Familien auseinandergerissen, individuelle Biografien zerstört und traumatisierend bis in die dritte Generation der heutigen 30–40jährigen hinein wirken, haben eine eigene historische Struktur und eine je individuelle Gültigkeit, in der sich Resignation und Kreativität miteinander verbinden. „Jede seelische Realität“, so der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer 2014 im Zusammenhang mit Nachkriegserfahrungen von drei Generationen in Deutschland, „hat ihre eigene Struktur und Gültigkeit. Voreilige Wertungen lassen sich relativieren, zerrissene Beziehungsfäden neu knüpfen, wenn sich die Generationen mehr füreinander interessieren und weniger überzeugt sind, dass ihre typische Wahrheit auch für die ältere oder die jüngere Generation gilt.“36

In der Erfahrung der Altersgelassenheit werden für die Nachkriegsgeneration psychologische Haltungen wirksam, die sich zwar aus der transgenerationellen Erfahrung einer traumatisierten Kriegsgeneration entwickeln, im Alter jedoch selbstreflexiv bearbeitet, bewältigt oder aufgelöst werden können.

Wolfgang Schmidbauer bezeichnet einen dieser Mechanismen, der die Generationenfolge von einer ersten, „verletzten“, über eine zweite, „überschätzten“ zur dritten, einer „entwerteten Generation“ strukturell vermittelt,37 in Bezug auf die überschätzte Generation, also in Bezug auf heutige Menschen des dritten Lebensalters, als „Protestidentifikation“.38 Nach Schmidbauer entsteht dieser psychische Mechanismus zwischen Eltern der Kriegszeit und ihren Kindern, die in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind (den heute 65- bis etwa 80jährigen) aus einer Gemengelage, die symbiotische Wünsche der Eltern mit Enttäuschungen der Kinder vermischt. In der Sozialisationstheorie spricht man von einem in den 1960er bis 1970er Jahren umstrittenen permissiven Erziehungsstil, dessen Anhänger vor dem Hintergrund der Frage nach der Angemessenheit der Ausübung von Autorität dafür plädierten, elterliche Eingriffe in die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern zu unterlassen.39

Daraus entwickelte sich familiär ein „symbiotisches Klima und dessen Abwehr“, das „kindlichen Aggressionsäußerungen wenig Raum“ gab, weil die Eltern auf die Kinder verwundbar und abhängig wirkten und die Kinder dazu neigten, den Eltern die Unselbständigkeit anzukreiden.40 Der Effekt in diesen Familien war, dass das Zusammenleben ohne Normsetzungen „zu Irritationen und Verwirrungen der Kinder“ führte und die Entwicklung der Selbstständigkeit der Kinder nicht gesichert war.41

Die „Doppelgesichtigkeit“ der Protestidentifikation, so Schmidbauer, in der ein heranwachsendes Kind sich „gleichzeitig mit den Werten der Eltern identifizieren und diese bekämpfen“ lässt,42 wird erst im Ablösungsprozess von den heranwachsenden Kindern bemerkt und kann sich zwischen den Generationen in Gestalt einer tiefsitzenden Leidabwehr festigen.

Durch die „Pendelbewegung“ der paradoxen Autonomie, die die drei Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg in der Dialektik der adoleszenten Ablösung und der Geschwisteropposition strukturvermittelnd bis heute miteinander verknüpft,43 entsteht ein Beziehungsmuster „generationenübergreifender Übertragungen oder Antithesen“, die nicht nur Ängste aufgrund der modernen und zwischenzeitlich globalisierten Unübersichtlichkeit schürt, sondern zugleich ein brüchigen Selbstbewusstseins hervorbringt,44 dessen „Doppelgesichtigkeit der unbewussten Strukturfindung“ Nähe fordert und abwehrt45 und unter dem Mangel an Vorbildern, dem Mangel an äußeren wie inneren Wertstrukturen, an Sinndefizit, geschwächter Konfliktregulierung, ängstlicher Anpassung und innerer Leere leidet.46

Die Identifikation mit dem Aggressor hingegen, dies ist die andere psychosoziale Haltung der Nachkriegsgeneration, führt zu einer Selbstfremdheit, die bewirkt, dass die Betroffenen sich in inszeniertem Gehorsam dem Autoritätsdiktat anpassen, zu dessen Opfer werden, den verdrängten Schmerz der subjektiven Entwertung und Selbstentfremdung als Schwäche empfinden und die aufgestauten Aggressionen hasserfüllt und gewalttätig auf Fremde verschieben.47

Während die Identifikation mit dem Aggressor zu einem Verrat am Selbst, mit der politischen Konsequenz führt, kulturelle Gewaltverhältnisse zu stabilisieren, führt der psychische Mechanismus der Protestidentifikation in den 1960ger Jahren zu politischen Transformationsprozessen, in denen Persönlichkeitstypen, wie „Künstler, Helfer, Aussteiger und Opfer“48 gesellschaftliche Veränderungswünsche mit Sehnsüchten nach Stabilisierung im Modus einer paradoxen Autonomie verknüpften.

Festigt sich dieser Mechanismus, dann kann es zu posttraumatischen Beziehungsstörungen und der mit ihnen einhergehenden Gefährdung der persönlichen Autonomie kommen. Diese beruht auf einer verstörten Orientierung an Konventionen, gegen die die Betroffenen einst rebellierten und bringt Erfahrungen einer „paradoxe(n) Autonomie“ hervor, die auf einer „Balance (von) Abhängigkeiten“ basiert.49 Die Bedürftigkeit nach äußerem Halt geht mit der Furcht vor diesem Halt einher. Es entsteht ein prekäres Gleichgewicht in der Persönlichkeitsstruktur, das, wenn es an die nächste Generation, die zwischen 1960 und 1985 Geborenen weiter gegeben wird, deren Autonomiemöglichkeiten gefährdet.50 Die Wurzel dieser Gefährdung liegt, so Schmidbauer, in Erfahrungen der Generation des Zweiten Weltkrieges, die ihre „inneren Verwüstungen“51 bis in die dritte, die Enkelgeneration, unbewusst weiter gibt, die dann unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden kann. Sie weisen auf frühkindliche Vertrauenskrisen zurück.

Da nach Erikson Vertrauenserfahrungen von Kindheit an in allen späteren Lebensphasen und psychosozialen Krisen enthalten sind, sind die psychosozialen Haltungen der Protestidentifikation und der Identifikation mit dem Aggressor Symptome einer Vertrauenskrise, die in späteren Lebensphasen des erwachsenen und hohen Alters in die Persönlichkeit integriert werden können.52

Die Phänomene der Leidabwehr oder der Protestidentifikation können sich, so die Traumatherapeutin Luise Reddemann, durch mitfühlende Reflexion, Freundlichkeit und Empathie zwischen den Generationen und einem „aktiven Bezug zur Vergangenheit“ lockern oder sogar lösen.53

Bestätigt wird dieser Befund von Arno Gruen, der unter Berufung auf Erich Fromm und den brasilianischen Pädagogen Paulo Freire die Überwindungsmöglichkeit des rebellischen Abhängigkeitsmechanismus in der Chance der inneren Aufhebung sieht, andere aus Protest zu beherrschen.54

Für die heutige Generation des dritten Lebensalters werden konsequenterweise, trotz altersbedingter Einschränkungen, Erfahrungen der paradoxen Autonomie positiv als Freiheit zur Selbstbestimmung gesehen, die sich mit Altern, Hinfälligkeit, Abhängigkeit selbst- und mitverantwortlich gerotranzendent auseinandersetzt und sich der Furcht vor der Freiheit stellt.55 So haben persönliche Haltungen der Leidabwehr, der Identifikation mit dem Aggressor, der Protestidentifikation nicht unbedingt spätere seelische Krankheitshäufigkeiten zur Folge, sind aber als Erfahrungen anzusehen, die das Vorverständnis der Rezipient/innen strukturieren, mit denen sie die Romane Dickens‘, der Brontës und Virginia Woolfs erschließen.

Im Alternsprozess der Nachkriegsgeneration können Ressourcen gewachsen sein, die eine durch Unsicherheit geprägte Identität in ihren positiven Aspekten dann stärken,56 wenn „Erinnerungen an Widerstand und Großherzigkeit“ gepflegt werden und an einer „Entidealisierung der Eltern“ gearbeitet wird.57

Das dritte Lebensalter – so die Gerontologen Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl – besitzt

(…) eine ganz eigene Charakteristik, die sich vor allem in einer Sichtweise des Lebensphasenkontextualismus ergibt. Menschen in dieser Lebensphase sind entlastet von den Anforderungen des Berufs und verfügen aufgrund ihrer weiterhin hohen Kompetenzen sehr aktiv über die Ressource Zeit. Gleichzeitig stehen gerade in dieser Lebensphase Anforderungen der Hochaltrigkeit (‚Viertes Alter‘) vor der Tür.58

Die soziokulturelle Realität in den dreißig Jahren zwischen 1945 und 1975, in der Menschen des heutigen dritten Lebensalters aufwuchsen, zeichnete sich durch eine gesamtgesellschaftliche Verunsicherung aus, die für eine vermutete Zunahme von psychischen Symptomen oder Erkrankungen verantwortlich gemacht werden könnte. Nach Martin Dornes führte dieses Klima jedoch „(…) nicht zu einer Erhöhung der kindlichen oder erwachsenen Krankheitshäufigkeiten im Bereich des Seelischen (…)“59, weil kollektive Gefühle zwar Stimmungen von Müdigkeit oder Ängstlichkeit erzeugten, nicht aber Angsterkrankungen.60 Dieser Zeitabschnitt und der ihm folgende in den 1980er bis 1990er Jahren stellte kompensatorische Möglichkeiten bereit, Krisen und Krisenerfahrungen „hinsichtlich ihrer symptomerzeugenden Kraft“61 zu mindern und zu bewältigen. Der Rückgang eindeutiger Orientierungen, die Lockerung von Traditionen, Entraditionalisierung mit wachsenden Freiheits- und Autonomiemöglichkeiten, führten zu erhöhter Flexibilität und schufen Grundlagen für „(…) Fähigkeiten wie Kreativität, Initiative, Ambivalenztoleranz und Komplexitätsbewältigung, die unerlässlich sind für die erfolgreiche Bewältigung des modernen Familien- und Arbeitslebens.“62

Der Zugewinn an persönlicher Autonomie, den Erich Fromm Freiheit von nennt, ließ „Verdrängungen reversibler und weniger endgültig“63 werden, wodurch Freiheitsgewinne und Möglichkeiten entstanden, Gesellschaft und Kultur humaner und demokratischer zu gestalten. Beiträge zu diesen Prozessen leisteten auch die öffentliche Debatte um die erste Version der Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung zu den Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und die Debatten um die Umgangsweisen der Schriftsteller Martin Walser und Günter Grass mit ihrer NS-Vergangenheit.64

Mit Erfahrungen einer gefährdeten Autonomie,65 der die aus der Nachkriegszeit stammende Elementarspannung von Angst und Sicherheitsbedürfnisdurch durch das Auseinanderbrechen gültiger Ordnungsstrukturen und dem damit einhergehenden Wirklichkeitsverlust zugrunde liegt,66 kann durch den zeitlichen Abstand des Alternsprozesses bewirkt, eine Gelassenheit reifen, deren Grundstimmungen zwar Angst und die Suche nach Sicherheit ist, die aber der gesellschaftlichen Herabsetzung der Alten durch die Enkelgeneration und der „Misstrauenskultur gegenüber Älteren“67, mit kritischer Distanz, Humor, aktiver Imagination und einem durch Älterwerden gereiften Urteilsvermögen begegnen kann.68

Durch diese Fähigkeiten öffnen sich Altersgelassenheit und Gerotranszendenz gegenüber Kunst, Musik und Literatur mit problemorientierten, Gefühle affizierenden Inhalten. Rezipient/innen des dritten Lebensalters können durch ihre Krisenkompetenz gegen das Schweigen ihrer Eltern69 offen sein und bereit, transgenerationale Dialoge zu führen, die der eigenen Stimme dieser Generation, wie auch den Zeitzeugen, „eine Gestalt zu verleihen“ vermögen.70

Da aufgrund der prinzipiellen Veränderungs- und Wandlungsfähigkeit des Menschen die Offenheit Alternder neue Entwicklungsmöglichkeiten in den Blick nehmen kann, können im dritten Lebensalter jugendliche Krisenerfahrungen der Protestidentifikation bzw. der Identifikation mit dem Aggressor in Generativität und Gerotranszendenz transformiert werden.

Im „originelle(n) Gebrauch von Wissen und Strategien“, die zu „neuartigen Lösung(en) eines Problems“ führen, kommt eine „bejahende Einstellung zu Welt und Mensch, als ein grundlegendes Interesse an Menschen wie auch an Prozessen der Welt“ bei Alternden zur Geltung.71

Zu dieser bejahenden Welteinstellung gehören unter anderem Neugier, Experimentierfreude, Offenheit, der Mut zum Neubeginn, der kreative Umgang mit schwierigen Entscheidungssituationen, Generativität als „höhere() Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen“72 und der kreative und kritische Umgang mit Kunst, Musik und Literatur, durch die im Alter erhöhte „Sensibilität für emotionale Inhalte“.73

Kreativität im Alter „(…) betrifft die Kunst der eigenen Lebensführung und das Eintreten für unsere spezifische Existenzform, aber auch die erfinderische Antwortsuche auf Lebensfragen, die spezifisch menschlich sind.“74 Diese kreative Lebensbejahung ist in die drei Dimensionen der Gerotranszendenz, die das Selbst, die Welt und den Kosmos betreffen, eingebettet. In der Verbindung von Bewusstem und Unbewusstem, befähigt sie zu „kosmischen und transzendenzbezogenen Welt- und Lebensperspektive(n)“.75

Werke der Kunst, Musik und Literatur lösen Potenziale einer mitfühlenden Reflexion aus. Sie stellen nicht nur „kreative Lösungen der Weitergabe an die nächste Generation“ bereit,76 sondern sprechen in der ästhetischen Transformation menschlicher, weltlicher und kosmischer Beziehungen gerotranszendete Fähigkeiten Alternder emotional an. Sie evozieren Perspektiven auf tragfähige Lebenseinstellungen, die angesichts der Verletzlichkeit des eigenen Lebens, dieses als eine „im Werden begriffene() Totalität“77 zu verstehen und anhand der auf Ganzheit zielenden ästhetischen Gestaltungen zu reflektieren vermag.

Gerotranszendenz ist ein Vermögen, das sich als „positiv besetzte Aufmerksamkeitsleistung“78 ästhetischen Erfahrungen öffnet. Deren wesentliches Charakteristikum besteht in dem Anspruch, Aufmerksamkeit aufgrund neuer Erfahrungen zu erregen. Wolfgang Welsch sieht die Wirkung ästhetischer Ausdrucksformen in „Blitz, Störung, Sprengung, Fremdheit“79, die im „spezifischen Vollzug“80 ästhetischer Wahrnehmung erfahren wird. Im Unterschied zur sinnlichen Wahrnehmung im allgemeinen, zeichnet sich nach Martin Seel, ästhetische Wahrnehmung dadurch aus, dass sie „aus einer Fixierung auf eine theoretische oder praktische Verfügung über ihre Objekte heraus(tritt)“. Ästhetische Wahrnehmung, so Seel weiter, „(…) nimmt ihre Objekte unabhängig von solchen Funktionalisierungen in ihrer phänomenalen Gegenwärtigkeit wahr. Sie ist hier und jetzt für das Spiel der ihr zugänglichen Erscheinungen offen.“81 Die durch Gerotranszendenz aktivierte ästhetische Wahrnehmungssensibilität der Rezipient/innen des dritten Lebensalters erschließt in Werken der Kunst, Musik und Literatur Ausdrucksformen einer ästhetisch präsenten und verdichteten Lebendigkeit,82 die zu eigenständigen Erkenntnisleistungen führt. Da diese emotional, kognitiv und evaluativ an „das spezifische Erscheinen der künstlerischen Objekte gebunden“ ist, wird sie nicht primär zur begrifflichen Erkenntnisleistung.83 Vielmehr evoziert ästhetische Erkenntnis das reflexive Selbst- und Weltverhältnis der Rezipient/innen.84

In kultursemiotischer Sicht sind sich Romane des Viktorianischen Zeitalters und Romane der klassischen Moderne darin ähnlich, dass sie die Erforschung moderner Subjektivität narrativ multiperspektivisch, mit unzuverlässigen Erzählern, gestalten: Romane des Viktorianischen Zeitalters in den narrativen Paradoxien von grotesker Vorenthaltung persönlicher Autonomie und märchenanalogen Chancen subjektiver Selbstverwirklichung; experimentelle Romane der klassischen Moderne in der Simultaneität ungleichzeitiger Ereignisse. Narrativ gestalten diese Romane die transzendentale Obdachlosigkeit des modernen Subjekts,85 die die Erzählkunst des frühen 18. bis zum 21. Jahrhundert wie ein großer Phrasierungsbogen überspannt und Vergangenheit zukunftsbezogen in ästhetischer Präsenz verdichtet. Die Romane werden, wie oben dargelegt, zu Gedächtnismedien der Moderne.86

Die erzählerischen Verfahren narrativer Gedächtnismedien lassen sich im kultursemiotischen Rahmen in die Nähe biografischer Erfahrungen von Rezipient/innen des dritten Lebensalters rücken. In ihrer Komplexität lassen sie sich als produktive Illusionen, die wir zum Leben brauchen, erschließen und als narrative sowie kulturelle Antwortmöglichkeiten auf menschliche Lebensfragen reflektieren.

Ins ästhetische Imaginationsspiel wird die Fähigkeit der Rezipient/innen des dritten Lebensalters zur aktiven Imagination gezogen. Verena Kast definiert diese Fähigkeit damit, „(…) daß das Ich aktiv in die Imagination eintritt, daß es ‚kontrollierend‘ und verändernd-verwandelnd ins imaginative Geschehen eintreten kann. Dadurch wird das Unbewußte dem Bewußtsein verbunden“.87

Im Alternsprozess steigt die Sensibilität für emotionale Inhalte wodurch die aktive Imagination der Rezipient/innen des dritten Lebensalters in ihrer altersgemäßen Differenzierungsfähigkeit von der Dramaturgie der Erzählwelten, ihren kontrastreichen emotionalen Inhalten und ihren offenen Formen angesprochen wird. Da die aktive Imagination Unbewusstes mit Bewusstem verbindet, öffnet sie sich grotesken, märchenanalogen, multiperspektivischen Varianten der Darstellung der literarischen Angst, die, typisch für den Roman der Moderne seit Mitte des 18. Jahrhunderts, mit der zentralen Thematik der Selbstfindung des Ich, „Zonen des Vor- und Unbewußten“ im erzählten Bewusstsein der Protagonisten situiert.88

Bei der Erschließung der Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne reflektieren Rezipient/innen des dritten Lebensalters mitfühlend auf diese Erfahrungen. Zwar können sie Ereignisse ihrer biografischen Situation nicht ändern, wohl aber „die Bilder davon in (ihrem) Kopf (…).“89 Die epochale und ästhetische Distanz zwischen ihnen und den Romanen eröffnet ihnen vom sicheren Ort der Lektüre aus eine selbstreflexive Beobachterposition, die die Bösewichter, Dämonen und Schurken dieser Romane – als Gestalten der Angst und des Hasses, oder auch der Komik und Satire – zu Gegenbildern innerer Feinde werden lässt:

In unseren Bildern ist immer auch unser momentanes Verständnis von uns selbst und der Welt, das Verständnis unserer gegenwärtigen Beziehungsmöglichkeiten abgebildet (…). Außerdem kann Abstand genommen werden von sehr negativen Vorstellungen von sich selbst, allenfalls können Sehnsuchtsbilder wesentliche Aspekte der Persönlichkeit freilegen, die bisher zu wenig ins alltägliche Leben integriert wurden. Das Selbstgefühl verändert sich (…).90

In einer späteren Publikation ergänzt Verena Kast diesen Gedanken am Beispiel einer empirischen Studie zur Imagination, die im Vergleich real rudernder und imaginiert rudernder Sportler zu dem Ergebnis kommt, dass bei Klienten imaginative Ressourcen aktiviert werden können, wenn kinästhetische Wahrnehmungen das Wohlbefinden fördern: „Imagination bewirkt also nicht nur emotionale Veränderungen, sondern auch körperliche“91, die sich, so Kast weiter, im Alter durch aufmerksames sinnliches Wahrnehmen der Welt und ihrer Natur steigern: „Durch die Intensivierung der sinnlichen Wahrnehmung wird die Vorstellungskraft immer wieder neu angeregt (…)“ – wobei die Einbeziehung „(…) eine(r) wissenden Kreativität(…)“92 die selbstreflexive Rezeption von Kunstwerken stärkt und steuert.93

Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne können eine Veränderung des Selbst- und Weltgefühls der Rezipient/innen des dritten Lebensalters in dem Sinne bewirken, dass das „Leben schöpferisch gestaltet werden kann, schöpferisch im Sinne der Persönlichkeitsänderung“.94 Wissende Kreativität und transitorische Identitätserfahrungen gehen ineinander über.

Im Rezeptionsakt entstehenden kreative Formen der „Konfliktfähigkeit“95, die Erfahrungsmöglichkeiten einer Alters-Coolness als lebenskluge Gefasstheit hervorrufen.

Diese Gefasstheit ist als Dialektik gelingenden Lebens im Alter zu verstehen. Jean Améry bezeichnet sie als Bejahung einer zum Scheitern verurteilten Revolte. Diese setzt der „Ver-nichtung“ der Alternden „durch die Gesellschaft“ eine flexible Haltung entgegen, die seitens der Alternden „die Ver-nichtung an(nimmt) (…)“.96 Die Alternden wissen, dass sie sich nur dann selbst bestimmen und bewahren können, wenn sie sich dieser Unausweichlichkeit stellen. Nach Améry ist der Alternde „in der Anerkenntnis des Nichts-Seins noch ein Etwas. Er macht die Negation durch den Blick der Anderen zu seiner Sache und erhebt sich gegen sie.“97 Reife im Alter bedeutet, unangepasste Lebenswege zu gehen, die das Gefühl stärken, ein eigenes Leben in der Gesellschaft der Mitmenschen führen zu können, eine Lebenshaltung, die auch der Generation der Rezipient/innen des dritten Lebensalters entspricht.

Literarische Werke, Märchen, Mythen, antike Dramen, Musik, Philosophie, die Paradoxie des poetischen Realismus, die dem bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts Gestalt verleiht und die modernistische Erzählweise der Romane nach dem Ersten Weltkrieg, stellen für diese Identitätsproblematik kreative Lösungen bereit. Als ästhetische Analogieerfahrungen zur Dialektik des Alterns und den spezifischen Erfahrungen der Nachkriegsgeneration, der von ihnen erfahrenen elementaren Spannung zwischen Angst und Sicherheitsbedürfnis, lösen sie Empathiepotenziale aus, die Resilienz und Anpassungsfähigkeit im Alter als wichtige Ressourcen einer kritischen Selbst- und Weltbegegnung freisetzen können.

In der Auseinandersetzung mit Romanen, die in der ersten und zweiten Moderne entstanden, erschließen Rezipient/innen des dritten Lebensalters ästhetische Gegenwelten, die komplexen Gefühlswelten ein Gesicht, dem Grauen und dem Glück einen Namen geben, die Gegenbilder zu traumatischen Erfahrungen entstehen lassen, die zu einer Aktivierung einer inneren Bühne anregen, auf der Krisenerfahrungen „reinszenier(t)“98 werden können.

Die narrativen Strukturen dieser Romane affizieren „(t)rauma-assoziierte Gefühle“, zu denen „Ohnmacht, Todesangst, Panik, Ekel und Scham“ gehören und die im Individuum auf Gefühle treffen, die „der Verarbeitung“ traumatischer Erfahrungen durch „Empörung, Wut und Trauer“ dienen.99 Gleichzeitig wird die Fähigkeit dieser Gruppe von Rezipient/innen zur Gerotranszendenz aktiviert, die ebenfalls in der Verbindung von Bewusstem und Unbewusstem zu „kosmischen und transzendenzbezogenen Welt- und Lebensperspektive(n)“ befähigt.100 Die in den Romanen zu entziffernde unauflösbare Diskrepanz des Kapitalismus zwischen Gleichheitsversprechen und ihrem empirischen Gegenpol der Vorenthaltung von Humanität durch Pauperisierung und Sinnentzug wird zum erzählerischen Diskursangebot.

Die Rezipient/innen werden zu ästhetisch entfernter Nähe angeregt, noch unentdeckte Dimensionen ihrer Subjektivität in den narrativ verfremdeten Erzählwelten der Moderne auf den drei Ebenen der Gerotranszendenz 101 zu erkunden.

Lesen im dritten Lebensalter

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