Читать книгу Lesen im dritten Lebensalter - Hans-Christoph Ramm - Страница 17

Humor, Ironie und Selbstreflexion

Оглавление

Rezipient/innen des dritten Lebensalters, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit biografischen Erfahrungen aufgewachsen sind, die sie in ihren menschlichen Grundbedürfnissen nach Orientierung und Kontrolle102 verunsicherten und die deshalb Angst und Hilflosigkeitserfahrungen mit Sicherheitsbedürfnissen103 verknüpften, haben im Prozess des Erwachsenwerdens unterschiedliche Möglichkeiten, Erfahrungen des Scheiterns durch herausfordernde bzw. explorativ gesuchte Phasen des Neubeginns in positive oder kreative Erfahrungen zu transformieren. Diese Transformationserfahrungen führen zu einer gereiften und flexiblen „Altersidentität“.104

Wesentliche Bestandtteile dieser Identität sind Offenheit, Neugier, Humor und Ironie, wobei Ironie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu einer Grundstimmung in Deutschland wurde. Humor und Ironie, denen die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung eigen ist, kommen aus dem intuitiven Alterswissen. Ironie, so Odo Marquard in Anschluss an Kierkegaard, wurde „nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu einer Grundstimmung“, weil Ironie Selbstschutz bedeutet. Der „Ironiker will nicht mit der Wirklichkeit behelligt werden“.105 In Abgrenzung zum Humor will „Ironie das Absolute“.106 Indem Ironie „(…) die ganze Wirklichkeit relativiert, unverbindlich und unernst macht, wird sie zum Schutz vor der Wirklichkeit: sie flüchtet sich, indem sie selbst das Absolute scheint (…).“107 Demgegenüber bekräftigt der Humor das Endliche. Seine Distanz entsteht „(…) nicht durch Aufschwung ins Höhere, durch Auflösung ins Absolute (oder) Erhabene (…), sondern indem bekräftigt wird, dass es ist, was es ist: nämlich das Nichtabsolute, das Nichthöhere, das Endliche inmitten von Endlichem.“108 Aus diesem Befund folgert Marquard, dass der Humor „(…) das Endliche, das er selber ist, mit viel anderem Endlichen in Verbindung bring(t).“109 Da das Endliche sich, nach Marquard, als Menschliches dadurch zeigt, dass es nicht aufhört Endliches zu sein, sondern als Endliches bekräftigt wird, wird es „(…) durch anderes Endliche distanziert, und zwar durch möglichst vieles (als) geteilte Endlichkeit (, die) lebbare Endlichkeit (ist).“110Dieser Antireduktionismus, der hauptsächlich Nichtabsolutes wahrnimmt enthält das Geheimnis des Humors, „(…) mehr als Endlichkeit zu wagen und zu realisieren, wie es ist: dass die Quintessenz über die Wirklichkeit ist, dass das Leben kurz ist und wir sterben müssen.“111

Aus Ressourcen wie Humor, Lebenserfahrung, Gesprächsbereitschaft mit Jüngeren, Neugier, Kreativität, die Fähigkeit eigene Ängste wahrzunehmen und mitteilenzu können, entsteht das Potenzial einer „Akzeptanz des Alterns“112, die, im Unterschied zu jugendlichen Alternsphasen, „Simultaneität positiver und negativer Emotionen“ in ihrer Koexistenz zur „wichtige(n) Form von Ganzheitserleben“ im Alter werden und Verdrängungen reversibel werden lassen. Dieses Ganzheitserleben wird zudem durch die Erinnerungsarbeit Alternder verstärkt, die in Situationen des Lebensrückblicks „eine Schau auf das ganze Leben ermöglichen“, in der verschiedene Lebenserfahrungen in der Erinnerung zur narrativen Identität integriert und bewertet werden.113

Diese das mittlere und höhere Alter stabilisierende Individuation ruft nicht nur Erinnerungen an Werke der Kunst, an Begegnungen mit Musik und Literatur hervor, sie aktiviert auch die Sensibilität für das Erschließen und Reflektieren anspruchsvoller Erzählwelten, in deren narrativer Ästhetik das Dunkle mit dem Hellen des Lebens, Angst mit Freude, das Groteske mit märchenhaft Erhabenem, Krisen und Abgründe mit kathartischen Lösungen verwoben sind. Die Werke bieten Gelegenheit, in individueller Lektüre und im Diskurs, sich in ästhetischer Verfremdung mit dem eigenen „Schatten (…), das heißt mit denjenigen Aspekten der eigenen Persönlichkeit, die wir ablehnen“ 114 auseinanderzusetzen. Humor spielt hierbei eine wesentliche Rolle.

Affiziert werden in diesem Verstehensprozess zugleich Fähigkeiten, die bei Rezipient/innen des dritten Lebensalters ein therapeutisch wirkendes, „mitfühlendes Verstehen (ihrer) selbst“115, die Fähigkeit, sich mittels ästhetischer Distanz selbst in Frage zu stellen116, eröffnen.

Da das dritte Lebensalter eine Lebensphase ist, in der Menschen dieser Altersgruppe sich nach innen wenden, Ausgespartes ihres Lebens aufnehmen und dadurch den Prozess des Werdens zu sich selbst reflektieren, wird die Frage nach der Bedeutsamkeit der eigenen inneren Welt im Zusammenhang der biografischen Entwicklung immer wichtiger. Es entstehen neue Entfaltungsmöglichkeiten, die Fragen nach dem Sinn des Lebens auch in der Hinwendung zu Träumen, Imaginationen und Werken der Kunst zu beantworten suchen.117 In dieser Phase des Individuationsprozesses entstehen in Bezug auf Werke der Kunst, Musik und Literatur Plausibilitätsfragen, die Fragen der künstlerischen Gestaltungsprozesse betreffen – z.B. „wie hat der junge Dickens, wie haben die jungen Schwestern Brontë, wie Virginia Woolf solche komplexen Romane, die sich mit Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Tod beschäftigen, entwerfen und schreiben können – wie sind diese Erzähluniversen gemacht“? Diese Plausibilitätsfragen, die Wertvorstellungen und Lebenserfahrungen der Rezipient/innen des dritten Lebensalters mitreflektieren, die zudem in den Diskurs um die narrativen Welten eingebracht werden, lassen sich in einer unten dargelegten kultursemiotisch fundierten Drei-Phasen-Methode erarbeiten.

In der kreativen Erschließung von Romanen des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne, die Lösungen für die Abgründe der modernen Seele erforschen und vorschlagen, können Rezipient/innen des dritten Lebensalters wichtige Schritte „zur psychischen Stabilisierung“118, über die kreative Aktivierung ihrer Empathiefähigkeiten, ihrer evaluativen und kritischen kognitiven Vermögen vollziehen.119 Zugleich erarbeiten sie kulturhistorische Einsichten in die Entstehungszeit der reflexiven Moderne, ihre Macht der Verdinglichung, Krisen und Entwicklungswege, die uns heute noch betreffen.

In kultursemiotischer Perspektive gestalten Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne in der Simultaneität kontrastierender Emotionen120 transitorische Identitätserfahrungen, die in ihren Zwischenstufen als Varianten der Liebe, des Liebesverrats, der Verachtung und des Hasses in positiven und negativen Beziehungsmustern durchgespielt werden und zwischen Außen- und Innenwelt, Fremd- und Selbstbestimmung oszillieren.

Unter der rezeptionsästhetischen Bedingung ästhetischer Distanz lassen sich diese Erzählwelten erschließen und kultursemiotisch reflektieren.

Lesen im dritten Lebensalter

Подняться наверх