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Die komplexe Motivlage von Menschen im dritten Lebensalter

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Menschen im dritten Lebensalter, zwischen 65 und etwa 80 Jahren, werden gelegentlich als Menschen in ihrer zweiten Adoleszenz50 oder als jugendliche Alte51 bezeichnet. Diese Terminologie weist auf Motivlagen hin, die sich von denen junger Menschen in den ersten Adoleszenzphasen, auf Grund lebenslanger Entwicklungsschritte in allen Lebensphasen bis ins hohe Alter unterscheiden.

Seit frühen Lebensjahren entwickeln Jugendliche und junge Erwachsene Gefühle und ein Bewusstsein für die zukunftsbezogene „Bedeutung des Vertrauens in die eigenen Kräfte“.52 Nach Erikson prägt und verändert sich dieses Vertrauen im Lebenslauf in acht unterschiedlichen, durch psychosoziale Krisen gekennzeichnete Entwicklungsphasen. Im dritten Lebensalter verbinden sich, in anderer Akzentuierung als im Jugend- und Erwachsenenalter, Selbst- und Mitverantwortung für nachfolgende Generationen mit einem bis ins hohe Alter reichenden „Vertrauen (in) eine Vergangenheit – (und) eine() über die Existenz hinausweisende() Zukunftsperspektive“.53 Die wichtigen Konzepte dieser Alternsphase sind Generativität, Ich-Integrität und Gerotranszendenz als „Ausdrucksformen einer Kreativität im Alter“.54

Diese Schlüsselkonzepte sind eingebunden in eine Anthropologie des Alterns, die den Gestaltungswillen und die Gestaltungsfähigkeit Alternder in Bezug auf ein selbstorganisiertes Leben und in Bezug auf gesellschaftliche Mitverantwortung hervorhebt. Andreas Kruse, ein prominenter Vertreter dieser Theorie, hebt auf der Grundlage gerontologischer Forschungen Potenziale des Alters hervor, in denen sich, wie oben gezeigt, „die Potenzialperspektive“ mit der „Verletzlichkeitsperspektive“55 Alternder komplementär verbindet. Die entstehende Komplementärperspektive betrifft heutige Rezipient/innen des dritten Lebensalters. Während die Potenzialperspektive die potenziellen Energien Alternder, die sie in Fällen von Belastungen und Verlusten eine positive Lebenseinstellung aufrechterhalten lässt, betont, hebt die Verletzlichkeitsperspektive eine abnehmende körperliche Leistungsfähigkeit, mit einer höheren Anfälligkeit für Erkrankungen im Alter hervor. Rezipient/innen des dritten Lebensalters gelingt es, wie anderen Alternden, beide Perspektiven miteinander zu verbinden. Die Integration beider Perspektiven relativiert Belastungszenarien der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und ermöglicht Bildungs- und Therapieerfahrungen.56 In der Wechselbeziehung beider Perspektiven ist für das dritte Lebensalter, nach Erikson im Prozess der drei Stadien des Erwachsenenlebens, das Potenzial vorhanden, „die Sorge für Dinge und Menschen“ zu übernehmen und das Gefühl zu entwickeln „der Schöpfer von Dingen und Ideen zu sein.“57 Selbst- und Mitverantwortung grenzen sich von fremdbestimmenden Autoritäten und Institutionen ab und stellen sich dem Wagnis einer neu erworbenen Freiheit. Erich Fromm nennt diesen Aspekt der Freiheit des modernen Menschen Freiheit von. Dieser Freiheitsaspekt kann auch Gefühle der Ohnmacht, Isolation, und Angst enthalten. Diese Ambivalenz kann eine Flucht ins Autoritäre bewirken. Sie kann sich bei integrierten Persönlichkeiten zu einer Freiheit von entfalten und im Gleichgewicht zwischen Emotionalität und Intellekt produktiv und kreativ werden.58

Alternden kann es gelingen, die Potenzial- und Verletzlichkeitsperspektive kreativ miteinander zu verbinden.59 In die Wechselbeziehung beider Perspektiven ist die im Vorverständnis der Rezipient/innen situierte Spannung zwischen dem ästhetischen Erfahrungspotenzial immanenter Transzendenzerfahrung und dem Bewusstsein menschlicher Mortalität und damit das Bewusstsein eines Werdens zu sich selbst eingebettet. Diese zum gerotranszendenten Vermögen Alternder gehörende Situierung wird vor dem kulturgeschichtlichen Hintergrund der dezentrierten Autonomie in der Moderne im Erschließungsprozess der Romane und ihrer Verwirrungsästhetik zum kreativen Moment des Rezeptionsprozesses. Die Übergänge zwischen der Potenzial- und der Verletzlichkeitsperspektive befinden sich im Fokus der folgenden Ausführungen.

Menschen im dritten Lebensalter befinden sich auf Grund ihrer langen biografischen Entwicklung, ihrer Lebens- und Krisenerfahrungen, ihres differenzierten Wissens, ihres entwickelten und komplexen Gefühlslebens in einem Alternsprozess, der für sie hinsichtlich des Bewusstseins ihrer Endlichkeit und Verletzlichkeit Ressourcen freisetzen kann, die ihre Stärken und Schwächen miteinander in einen kreativen und produktiven Bezug setzen können, sodass ihr persönliches Leben flexibel autonom gestaltbar, gesellschaftlich und zukunftsbezogen nachhaltig mitverantwortlich geprägt werden kann.60

Entscheidend sind in dieser Lebensphase nicht nur die individuellen Möglichkeiten der Lebensgestaltung, sondern „(…) die in der Biografie entwickelten Ressourcen des Individuums, gesellschaftliche Strukturen, die die Aufrechterhaltung, Weiterentwicklung und Nutzung dieser Ressourcen fördern, sowie Alters-, Generationen- und Menschenbilder, die sich positiv auf die individuelle Motivlage auswirken.“61

Diese komplexe Motivlage, die sich mit Beginn des Eintritts in die Renten- oder Pensionszeit und mit Beginn der Ablösung von familiären Pflichten der Kindererziehung zu entfalten beginnt, gibt Menschen mit Beginn des dritten Lebensalters die Chance eines Neubeginns der Entfaltung ihrer Persönlichkeit, einer zweiten Adoleszenz, die, wie Erich Fromm formuliert, durch die Freiheit von etwas in eine Freiheit zu etwas führt und durch spontanes Tätigsein eine integrierte Persönlichkeit möglich werden lässt.62

Es entstehen Chancen einer Selbst- und Lebensgestaltung, die im Bewusstsein der „Zeitlichkeit des menschlichen Lebens“ 63, von einer philosophischen Ethik der späten Lebenszeit als „Radikalisierung der menschlichen Lebenssituation“64 reflektiert wird und anschlussfähig ist an das Konzept transformatorischer Identität, das von Jürgen Straub entwickelt worden ist. Im Bewusstsein der individuellen Einzigartigkeit, Endlichkeit und Verletzlichkeit lassen sich anthropologisch gesehen, „menschliche() Lebensvollzüge (…) als Versuche des Entwurfs sinnvollen Lebens begreifen“.65 Zu den altersspezifischen Erfüllungsgestalten menschlichen Lebens gehört, dass Individuen ein gemeinsames Leben mit anderen führen, und dass deshalb „das existentielle Alleinsein unhintergehbar zur menschlichen Lebenssituation“ ebenso gehört wie die Unverfügbarkeit und Entzogenheit des Selbst im sozialen Zusammenhang mit Anderen.66 Im Alternsprozess wird die Ganzheit des menschlichen Lebens, die gebunden ist an konkrete Situationen, unterschiedliche Altersstufen, die Leiblichkeit des Menschen und Zeitlichkeit des menschlichen Lebens als Selbstentzogenheit und riskierte Ganzheit radikalisiert erfahrbar.67 Daraus können Chancen einer kreativen und flexiblen Lebensführung entstehen. Chancen zum Glück, so Thomas Rentsch, kennzeichnen alle Lebensphasen, ebenso wie Erfahrungen der Fragilität, also Krisen, Probleme und Ängste, die aber im Alter im Bewusstsein der Endlichkeit und Sterblichkeit als herausfordernde Gemengelage empfunden werden.

Dies gilt insbesondere für die jetzige Generation des dritten Lebensalters, die mit den von Axel Honneth in Verbindung gebrachten Pathologien der reflexiven Moderne – Resignation und Depression – durch traumatisierende Erfahrungen der Nachkriegszeit, des Kalten Krieges und der beginnenden Wohlstandsgesellschaft, betroffen sind: Kindliche Erfahrungen des Verlusts der Väter, verängstigter, verunsicherter oder auch starker Mütter, kindliche Fremdheitserfahrungen als Heimatvertriebene oder Umsiedler, Verlust von Familienangehörigen, Heimatlosigkeit ohne Eltern in Ruinenstädten, gerade in den eisigen Wintern der Jahre 1945/46, 1946/47, Schwarzmarkterfahrungen – kindliche Erfahrungen des Vertrauens- und Autoritätsverlusts, Krisenerfahrungen, die die Endlichkeit und Unwiederbringlichkeit menschlichen Lebens radikal zu Bewusstsein brachten und heute, im zeitlichen Abstand, nachdem das Familien- und Berufsleben weitgehend abgeschlossen ist, wieder zu Bewusstsein bringen und in Bezug auf die Reflexion der Romane kreativ in Anschlag gebracht werden können.68 Möglichkeiten einer „Verarbeitung eigener Verletzlichkeit“69 in Bezug auf diese Erfahrungen bieten Kunstwerke, die die Pathologien der reflexiven Moderne ästhetisch verfremdet zur sinnlichen Erfahrung und zur kultursemiotischen Reflexion anbieten, aber auch intergenerationelle Kommunikationsformen in Familien, Schulen, Gemeinden, Kulturinstitutionen. In der Auswertung von Interviews der Greontologie der Universität Heidelberg, die diesbezüglich im Blick auf die Generativität und Mitverantwortung im hohen und sehr hohen Lebensalter durchgeführt wurden, wurde deutlich, dass im Alter zwar die Intensität der Erinnerungen an Emigration, Lagerhaft und weitere Leiden an der Gesellschaft intensiver werden, dass es den interviewten Frauen und Männern „aber zugleich gelinge, diese belastenden Erinnerungen zu verarbeiten, da sie schon seit Jahren in einem intensiven Dialog mit Schülerinnen und Schülern stünden, in dem sie ihr kulturelles, historisches und politisches Wissen weitergeben und damit junge Menschen zusätzlich für die Bedeutung sensibilisieren könnten, die auch der persönliche Einsatz für Menschenrechte, Demokratie und Frieden für das friedliche Zusammenleben von Völkern und Ethnien besitze.“70

Diese Haltung gegenüber der inneren Bedrohtheit und die Öffnung auf Mitverantwortung und Zukunftsverantwortung erweist sich als Entschiedenheit einer persönlichen Autonomie, die flexibel unangepasst mit würdeverletzenden Vergangenheitserfahrungen und demokratischen Notwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft umzugehen weiß.

Vergleichbar Kathartisches geschieht in Rezeptionsprozessen, die sich mit Kunstwerken bzw. Literatur auseinandersetzen. Fiktionale Narrative regen Kreativität an, weil sie ein Gefühl für Kontinuität und Ganzheit erzeugen und zugleich – und dies gilt für die Romane des Viktorianischen Zeitalters wie auch für Werke der klassischen Moderne – ein Gefühl riskierter Ganzheit entstehen lassen. Moderne Romane spenden keinen Trost. Vor dem Hintergrund einer reflexiven Moderne evozieren sie beunruhigende Fragen, die an Erinnerungen des Vertrauens- und Autoritätsverlusts, an Krisen, Hunger und Kälte, Verlorenheit, Heimatlosigkeit und menschliche Mortalität rühren. Mit diesen ästhetischen Erfahrungen setzen die Rezipient/innen des dritten Lebensalters ihr Selbst- und Weltverständnis aufs Spiel setzen und initiieren komplexe Diskurse.

Lesen im dritten Lebensalter

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