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1.4 Transitorische Identität und die Bedeutung literarischer Texte in der ersten und zweiten Phase der Modernisierung

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Am Beispiel moderner Romane können Rezipient/innen des dritten Lebensalters erforschen, wie diese Leben und Kultur ihrer Zeit narrativ verdichtet konfrontieren. In der Interaktion mit den Texten und ihren komplexen emotionalen Situationen, deren Grundstruktur oben dargelegt wurde, können sie über erschließendes Lesen zunächst eigene Deutungen entwerfen und über die reflektierende Lektüre das ästhetische Fremde so refigurieren, dass die Epoche, in der die literarischen Texte als ihr ästhetisch Fremdes gestaltet wurden, nicht auf Bekanntes und Gegenwärtiges reduziert werden. In dieser rezeptionsästhetischen Situation schwingen kultursemiotisch persönliches und kulturelles Gedächtnis zusammen und gegeneinander; die Subjektivität der Rezipient/innen wird transzendiert.1 Dabei erproben und besprechen sie, wie man im Anschluss an die Auseinandersetzung mit Erzählwelten eine eigene Sprache für Verluste und Leid gegen das delegierte Schweigen der Eltern finden und narrativ Möglichkeiten individueller Mündigkeit in angstfreier Nähe mit anderen riskieren kann.2

Bürgerliche Romane wirkten seit dem 18. Jahrhundert kathartisch. Sie lösten Gefühlsstürme aus und forderten zeitgenössische Moralvorstellungen heraus, weil sie ästhetisch verfremdet das bürgerliche Selbst in seiner Widersprüchlichkeit, Bedürftigkeit, Habgier und Ganzheitssehnsucht bloßstellten. Franco Moretti hebt die heterogenen Eigenschaften des europäischen Bürgertums hervor, die seit dem 18. Jahrhundert die Koexistenz gegensätzlicher Wertvorstellungen ermöglichten und die Entschlusskraft des Bürgertums mit einem Unbehagen an der Gesellschaft verbanden. Diese für die Mittelschicht typische Selbstwidersprüchlichkeit, die Kompromisse zwischen unterschiedlichen ideologischen Systemen bilden konnte,3 enthielt durch „selbstauferlegte Blindheit“, insbesondere der Viktorianer,4 Tendenzen zur Selbstverschleierung, die von den Romanen der Viktorianischen Zeit in den unterschiedlichen Varianten, wie sie beispielsweise Charles Dickens, Elizabeth Gaskell oder die Brontës vorlegten, gegen gesellschaftliches Nützlichkeitsdenken, thematisiert wurden.

Da die Begriffe Moderne, Modernismus und Postmoderne weder als Ideologien, noch als rivalisierende Ästhetiken angemessen zu verstehen sind – „‘modernity‘ is an imprecise and contested term“5 –, eher als „sozio-linguistische Situationen“, im Rahmen „gesellschaftliche(r) und historische(r) Problematiken“6, lassen sich moderne Romane als ästhetisch Fremdes ihrer Kultur und als offen-komplexe narrative Strukturen verstehen und nicht auf begriffliche Aussagen reduzieren. Ihre Vieldeutigkeit macht ihren ästhetischen Charakter aus. Moderne Romane konfrontieren die instrumentelle Vernunft ihrer Zeit mit narrativen Unschärferelationen, in der die Negativität der Weltungesichertheit mit der Haltlosigkeit des Subjekts zu einer Metaphysik des Schwebens verknüpft ist. Mit Joshua Kavaloskis Forschungen zur klassischen Moderne kann man sagen: „In the nineteenth century, art’s primary function was presumably the portrayal of bourgeois self-understanding and thus it gradually evolved into a cultural form without a utilitarian role in society.“7

Einem Vorschlag Peter V. Zimas folgend, lässt sich die Metaphysik des Schwebens moderner Literatur und Romane kulturkritisch als Entwicklung „von der Ambiguität zur Ambivalenz und von der Ambivalenz zur Indifferenz“8 deuten.

Die Ambiguität literarischer Texte verortet Zima im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Romane Jane Austens und die Balzacs vermochten, so Zima, „den wahren Charakter ihrer oft zweideutigen Gestalten (…) und mit Hegel das Wesen hinter den Erscheinungen (aufzudecken)“.9 Dass dies nicht für Dickens‘ Romane, auch nicht für Oliver Twist (1837) gilt – in Dickens‘ Romanen liegt das zentrale Problem in der Erforschung der Haltlosigkeit des modernen Subjekts, die den Warenwert der Menschen in Frage stellt – soll im dritten Teil gezeigt werden.

Die Ambivalenz literarischer Texte – Ambivalenz, verstanden als Zusammenführung unvereinbarer Gegensätze oder Werte, ohne Synthese10 – sieht Zima im Zusammenhang von Friedrich Nietzsches Philosophie, Sigmund Freuds psychoanalytischen Forschungen und Karl Marx‘ Frühschriften. Der Ambivalenz liegt, so Zima, der Gedanke der Vertauschbarkeit z.B. von Herr und Knecht, Gott und Teufel, Mensch und Ding zugrunde. Michail Bachtins Verdienst sei es gewesen, Ambivalenz mit dem Zusammenbruch der Hierarchien und der Umwertung der Werte als Karnevalsgeschehen sowohl in der älteren, wie auch in der modernen Literatur verknüpft zu haben.11 Der moderne Roman, so folgert Zima, „(…) könnte als ein Text gelesen werden, in dem Nietzsches und Freuds Erkenntnisse über die Verknüpfung unvereinbarer Werte und das Zusammenwirken einander entgegengesetzter Regungen gebündelt und ins Fiktionale projiziert werden.“12

Subjektivität als Gestaltungsprinzip moderner Romane impliziert eine Abwendung von instrumenteller Vernunft und kalkulierendem Bewusstsein, so dass das Unterbewusstsein zum Impulsgeber der Romane wird und die Macht des Begehrens in narrativen Gestalten des Bösen Tendenzen zu Destruktion und Selbstzerstörung zeitigt.13 Ambivalenz als Mehrdeutigkeit der Moderne (Zygmunt Bauman) wird mit ihren divergierenden Deutungsmöglichkeiten zum Strukturprinzip moderner Romane.

Romane des Viktorianischen Zeitalters, die die Ambivalenz als Paradoxie des poetischen Realismus gestalten und Romane des frühen 20. Jahrhunderts gehen, wie im dritten Teil zu zeigen ist, noch einen Schritt über das Paradigma der Ambivalenz, das sie gleichwohl auch zum Ausdruck bringen, hinaus: Die in kulturell sanktionierten Gegensätzen ästhetisch gestaltete Vertauschbarkeit zielt auf ihre Ähnlichkeit und damit auf „Vertauschbarkeit als Indifferenz“14, wobei sich in Dickens‘ Roman Oliver Twist und in Charlotte Brontës Roman Jane Eyre das Verhältnis von Subjektivität und Negation, von Mehrdeutigkeit subjektiver Weltbezüge und deren Undurchschaubarkeit, in einer Haltlosigkeit des Ichs zum Ausdruck bringt, die nicht selbstzerstörerisch angelegt ist, sondern trotz resignativer Tendenzen, Chancen zulassen, privates Glück erlangen zu können. Die Wunschvorstellung bleibt leitend, „daß der Mensch auf Erfüllung angelegt ist (…)“.15 In Emily Brontës Roman Wuthering Heights hingegen verdichtet sich unstillbares Begehren als Energie des Negativen, bzw. Destruktiven, für das es keine Erlösung gibt. In Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway schließlich wird die Metaphysik des Schwebens in einer Multiperspektivität gestaltet, die die Ambivalenz von Leben (Clarissa Dalloway) und Tod (Septimus Warren Smith) in der Haltlosigkeit moderner Subjektivität zum Ausdruck bringt, vor dem Hintergrund der Folgen des Ersten Weltkrieges, der Europa in einen Sog von Gewalt und Zerstörung hineinzog. Die im dritten Teil vorgestellten Romane enthalten in der Transzendierung des Gegebenen und Positiven metaphysische Reste der Moderne16 als Metaphysik des Schwebens, in der sich Schein und Sein, Anschauung und Reflexion verbinden.

In Dickens‘ frühem Roman Oliver Twist bestehen metaphysische Reste der Moderne in der gegenläufigen, quasi schicksalhaften Handlungsführung und einer narrativ zwar vorbereiteten, dann aber im Sprung herbeigeführten märchenanalogen, schicksalsähnlichen Problemlösung, die die erzählerische Ordnung auf ihre Kontingenzen hin autoreferenziell aufleuchten lässt.

In Charlotte Brontës Roman Jane Eyre sind überirdische Klänge und Stimmen, für die Jane empfänglich ist, ihre Androgynität, und, im letzten Drittel des Romans, die Natur als schützende Gottheit, sowie Janes persönliches Gottesverhältnis, das sie in eine wirksame Kontrolle sich selbst und ihrem Alter-Ego Rochester gegenüber umsetzt, sowie das Echo einer Absolution,17 das St John Rivers in den ihm vom Roman erteilten Worten als Abwesendem und Verstorbenen, in den Mund gelegt wird, als metaphysische Reste der Moderne anzusehen.

In Emily Brontës Roman Wuthering Heights kommen in Folge der radikalen Absage des Romans an religiöse Erlösungsgewissheiten, eine konventionsüberschreitende Liebesbeziehung zwischen Catherine und Heathcliff (sofern man von einer Beziehung im konventionellen Sinne sprechen kann), eine unbezähmbare innere und äußere Natur, die zur Quelle von Vitalität und Transzendenz wird, eine dezentrierte narrative Struktur, die diese Transzendenz hervorbingt und in einen überpersönlichen Bereich der Mythologie oder des Todes überführt,18 als metaphysischen Reste der Moderne ins Spiel.

In Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway wird die Metaphysik des Schwebens in der Harmonie der Gegensätze – ein Erbe der europäischen Romantik19 – gestaltet. Der Roman bringt die Verwandschaft der Gegensätze als immanente Transzendenz20 erzähldynamisch zum Ausdruck, ohne sie zur Synthese zu führen.

Sieht man mit Georg Bollenbeck Kulturkritik als normativ aufgeladenen „Reflexionsmodus der Moderne“, der „(…) bestimmte Haltungen und Denkmuster (hervorruft), die nicht Wissen sind, sondern (…) die Verarbeitung und Produktion von Wissen ermöglichen (…)“21, dann antizipiert die Ambivalenzstruktur moderner Romane transitorische Identitätserfahrungen, die seit der Epoche der Revolutionen zwischen 1790 und 188022 moderne Subjektivitätserfahrungen bestimmen. In die Romane gehen kulturkritische Vorstellungen ein, für die „etwa zwischen 1760 und 1800“23 in Großbritannien Grundlagen geschaffen werden, die ab 1780 „ihren Ausdruck in der Lyrik, im Versdrama, aber auch im Roman finden“.24 An dieser historischen Epochenschwelle, die am Ende des 18. Jahrhunderts beginnt und sich während des 19. Jahrhunderts entfaltet,25 in der „die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zur Grunderfahrung aller Geschichte“ wurde,26 entwickelt sich die moderne bürgerliche Gesellschaft. Diese erste bürgerliche Moderne ist gekennzeichnet durch den „Antagonismus zwischen Rationalismus und Ästhetik“.27 Die bürgerliche Kunst entwickelte einen eigenen Autonomieanspruch, der sich am „Regelbruch“ orientiert und auf Gestaltung des „überraschend() Neuen“ setzt.28

In Literatur, Musik, Bildender Kunst und im Theater entsteht ein ästhetischer Reflexionsmodus, der „Gewinne und Verluste der Moderne“29 ästhetisch transformiert und in der Sensibilisierung für diese Transformationsprozesse kulturkritisch Verarbeitungsangebote macht. Im Verhältnis von Fiktion und geschichtlicher Wirklichkeit kommt dem Erzählen von Geschichten die antizipatorische Emphase zu, nicht „das, was geschehen ist und wie es sich zufällig traf“ historiografisch zu berichten, sondern das „was geschehen könnte“ begrifflos zu erzählen.30 Ästhetische Utopien bilden eine „ästhetische() Gegensphäre“31 zu gesellschaftlicher Rationalität und weisen voraus auf eine mögliche Vervollkomnung des Menschen. Das Feld des Ästhetischen wird zum anderen der Moderne und des rationalisierten Sozialen, es konzentriert sich auf „individuelle(s), psychisch-leibliche(s) Erleben“.32

Während in der Zeit um 1800 in den wissenschaftlichen, religiösen, natur- und sozialwissenschaftlichen Diskursen Prägemuster der Identität und des Weiblichen aufgrund der Sinnkrise entfaltet werden, die aus der ökonomischen und politischen Entwicklung des Bürgertums resultiert, erfolgt konsequenterweise „deren eigentliche Differenzierung und Problematisierung (…) erst in literarischen Texten“.33 Differenziert und problematisiert wird das Männlichkeitsideal des Paternalismus, dem Autonomie, Gleichheitsdenken, gesellschaftliche und künstlerische Identität, ein proteisches Ich in Werken der Kunst entgegengesetzt werden. Autorschaft bedeutet für weibliche und männliche Schriftsteller/innen um 1800 Gleichberechtigung, Zeitgenossenschaft und Aufhebung erzwungener Passivität für Frauen.34

Diese Signaturen emanzipierter Autorschaft schlagen sich in der Gestaltung künstlerischer Werke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, so bei Dickens, bei Charlotte und Emily Brontë und bei Virginia Woolf nieder. Peter Gay bezeichnet den Zeitraum der Ablösung der Künste vom Patronagesystem um 1800 als entscheidende Epoche, die die „cultural revolution“35 vorbereitet, die mit der Individualisierung der Künstler und ihrer Abhängigkeit von Marktmechanismen, neue Gestaltungsmittel hervorbringt. Die ästhetischen Revolution, die mit dem „epochale(n) Wandel“36 um 1800 beginnt, weist den Weg in die moderne Avantgardebewegung der Künste: Dickens, Charlotte und Emily Brontё werden zu erzählerischen Wegbereitern der Moderne.

In dieser Zeit entwickelt sich der industrielle Kapitalismus, der sich durch technische Beschleunigung und die Beschleunigung des sozialen Wandels auszeichnet. Verlässliche Traditionen und Werte verändern sich immer schneller, Gewissheiten und Verlässlichkeiten nehmen ab, Unsicherheiten nehmen zu, wie oben gezeigt, steigt die Wählbarkeit der Identitätsoptionen ebenso, wie das Kontingenzbewusstsein der Individuen und Potenziale einer flexiblen transitorischen Identität.

Die Moderne zwischen 1790 und 1880 ist eine Epoche der Revolutionen, die ein neues Zeitbewusstsein mit radikaler Öffnung auf Zukunft und das Gefühl hervorbringt ungleichzeitig mit der Vergangenheit zu leben.37 Diese „Kulturschwelle“38, die die persönliche Identitätsfrage nach dem Woher und Wohin des Subjekts und seiner erlebten Gegenwart evoziert, geht in die Romane Dickens‘ und die der Schwestern Brontë als erzählerisch gestaltete Subjektivitätserfahrung, als transitorische Identitätserfahrung ein. Moderne Identitätserfahrung, die in Werken der Literatur antizipiert wird,

(…) schließt begriffslogisch weder Ambivalenz noch Bewegung und Wandel aus, wenn er nicht den Zustand der Person, sondern die Aspiration, die der Bewegung durchaus widersprüchliche Richtungen gibt, bezeichnet.39

In England spricht man zu Beginn der Moderne von einer Epoche der Krisen (1760–1815) und in der Weiterentwicklung zwischen 1815 und 1880 von einer Epoche der Industrialisierung, der Demokratisierung, des sich entwickelnden Empire, zu denen die industrielle Revolution, die Erschließung der Weltmärkte, Aufstände in Irland, politische Reformen und politischer Radikalismus, der Krieg mit Frankreich, Urbanisierung, Massenarmut, als gewaltige gesellschaftliche und kulturelle Transformationen mit einem neuen bürgerlichen Geschichtsbewusstsein einhergingen, das in der englischen Romantik Kontur gewann. Es war eine Epoche, in der feudale, statische Ordnungen endgültig aufgelöst wurden, das gesellschaftliche Leben sich im Zeichen eines raschen Wandels vollzog und die Literatur „jene unübersehbaren Sinnverluste und sozialen Verwerfungen, die der Moderniserungsprozess (…) mit sich brachte, zu erkunden, mitzuteilen, zu kritisieren und mithilfe schöner Gegenbilder auszugleichen“40 versuchte.

Diese erste Modernisierungsphase wurde von einer von 1880 bis 1930 bestimmten Umbruchspahse abgelöst,41 die durch ein radikal verändertes Zeitbewusstsein, hohes Tempo, eine Zunahme der Massengesellschaft, den Verlust von Orientierung und Werten gekennzeichnet war. Ulrich Beck spricht von einer Zweiten Moderne, Peter Wagner von einer erweiterten liberalen Moderne, Wolfgang Welsch von einer postmodernen Moderne.42 Krisensymptome dieser Epoche sind vor allem, dass Errungenschaften der Aufklärung, wie Rationalität, Autonomie des Individuums, Fortschritts- und Glücksstreben, sowie politische Ordnung und marktwirtschaftliches Handeln verstärkt in Zweifel gezogen und zu Symptomen einer kulturellen Sinnkrise wurden, die nach Neuorientierung auf allen Gebieten suchte.43

Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden beispielsweise durch Freud, Nietzsche und Mach Werte und Überzeugungen, die im 19. Jahrhundert bereits brüchig geworden waren, radikal in Frage gestellt. Für den amerikanischen Schriftsteller Henry Adams wurden auf der Weltausstellung von 1900 Dynamos zur Offenbarung. Er sah in ihnen „ein Symbol für den fundamentalen Umbruch in der Gesellschaft und für die neue Zeit“.44 Bis ins alltägliche Leben und in die Ängste der Menschen hinein änderte sich alles. Diese Ängste als Kehrseite des hohen Tempos bestanden aus „(…) Angst vor der Degenerierung, Angst vor dem Niedergang, Angst, vom allgemeinen Fortschritt abgehängt zu werden, und Angst davor, was dieser Fortschritt bringen würde.“45

Das Janusgesicht der Moderne, das gleichzeitig in die Vergangenheit und Zukunft blickt, wurde vor dem Ersten Weltkrieg in Großbritannien durch soziale und nationale Unruhen erfahrbar. Das Jahrhundert begann für Großbritannien mit dem Burenkrieg und dem Tod der Königin Victoria. Beide Ereignisse erschütterten das Empire. Dem Bürgertum „als neue(r) Herrscherklasse“46 fehlten Stabilität und Selbstbewusstsein einer langen Adelstradition. Die technische Beschleunigung vermittelte den Eindruck der Unkontrollierbarkeit; die Manufaktur wurde durch industrielle Produktion abgelöst. Es kam zu wachsenden Spannungen zwischen Arbeit und Kapital. Die irische Frage drohte sich zu einer irischen Revolte auszuwachsen. Die seit 1905 bestehende Frauenbewegung sagte den patriarchalen Strukturen den Kampf an; künstlerische Avantgarden in Europa – besonders auf dem Kontinent – gaben der Anonymität der Metropolen, der Diskrepanz und Grausamkeit des Kapitalismus und dem Bakrott kultureller Visionen neue ästhetische Gestalt.47

Der Erste Weltkrieg mit seinen katastrophalen Ereignissen und Folgen leitete ein bisher unvorstellbares Zerstörungswerk der modernen industriellen und finanziellen Welt und normativer Zusammenhänge ein. Dieser Great War führte europaweit zu Folgen, die „die materiellen Lebensbedingungen, die sozialen und politischen Strukturen, die Wirtschaft und die Lebensformen etwa seit 1880 (…)“48 wandelten. In Großbritannien kam es zu einer kompletten Restrukturierung der Arbeitswelt. Mensch und Maschine gingen ein symmetrisches Bündnis ein, Europa verlor seine zentrale Stellung in der Politik; die menschliche Persönlichkeit, so Ernst Mach, wurde zur Fiktion:

Destruction, loss and sorrow seemed to enter the world on a scale unknown before, the war creating ‚horrors that make the old tragedies seem no more than nursurey shows‘ as Rebecca West puts it in the Return of the Soldier (p. 63). Sigmund Freud worked out his principle of thanatos, the death wish, during the war and believed that his contemporaries might never see a joyous world.49

Stevensons Anspielung auf Freuds Kulturpessimismus, den Freud u.a. in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur (i. d. F. von 1930) zum Ausdruck brachte, wird von den Künstlern der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg geteilt: Subjektzerfall, Sprachkritik, Normen- und Wertezersetzung, Orientierungsverlust, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Nostalgieskeptizismus, werden in eine narrative Ästhetik des Bruchs transformiert.50 Nostalgie wird narrativ eingesetzt, um im Rückblick „to recover in fiction what had vanished in fact.“51 Musiker komponieren gegen die Tonalität. Die Zersplitterung der Welt wird in der bildenden Kunst ebenso deutlich, wie die Auflösung des Ichs als Element der allgemeinen Denkstrukturen der Epoche nach dem Ersten Weltkrieg.52

Während Romane der Viktorianischen Ära ihre Geschichten zu einem oft positiven Ende bringen – sie enden in Heiraten, individuellem Glück oder in einem tragischen Tod –, enden Romane der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in einer ungewissen Offenheit, die, angesichts unlösbarer sozialer und historischer Turbulenzen, Romanfinale gestalten, „(which) are often forced to move altogether beyond it in one way or another towards vision rather than reality.“53

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