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Instabile Erzählwelten als Deutungsangebote für Rezipient/innen des dritten Lebensalters
ОглавлениеErfahrungen transitorischer Identität lassen sich auf konkrete historische Entwicklungen beziehen, weil Identitätserfahrungen als „historische Situierung“ in der Moderne sich im und am Subjekt abspielt, so dass „es historisch von einer Form von Identitätsbildung zu einer anderen kommt.“54 Transitorische Identität als Selbstgefühl widersprüchlicher Aspirationserfahrung wird in der gegenwärtigen Sozialpsychologie als offener Prozess gedacht, der im Gegensatz zu stabilen und fixierten Identitätszuschreibungen traditionaler Gesellschaften unabschließbar ist. Die Formen der Romane von Dickens und die der Brontës nimmt das transitorische Identitätsphänomen als Problem der Ambivalenz von „Kontinuität und Kohärenz gegen Wandel und Flexibilisierung“55 in der Paradoxie des poetischen Realismus erzählerisch auf. Dickens‘ Roman Oliver Twist „(…) is the first novel in the language with its true centre of focus on a child. Although it came after Sketches by Boz and Pickwick, in a sense it was Dickens’s first novel.”56 Charlotte Brontës Protagonistin „(…) Jane Eyre is perhaps the first heroine in English fiction to be given, chronologically at least, as a psychic whole. Nothing, in fact, quite like Jane Eyre had ever been attempted before.”57
Beide Romane plausibilisieren transgressives Erzählen als Entzug der Identitätsbildungsmöglichkeiten ihrer Protagonisten, als Legitimationsverlust ihrer Erzähler und als unmögliche Möglichkeit einen Roman zu Beginn und in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien plausiblen Lösungen zuzuführen. Beide Romane sind in ihrer jeweiligen Ausdrucksgestalt fragmentierte Universen, ästhetische Krisenphänomene des bürgerlichen Mittelstandes:
The Victorian middle class never attained a period of stability equal to that in which, following the restauration, the aristocracy achieved the order of the eighteenth century. The problem of cultural transmission was bedeviled by sheer rate of social change. To take up a position at all was to pitch camp on a cultural landslide.58
Die von Peter Coveney gewählte Metapher eines aufgeschlagenen Lagers auf abstürzendem Abhang, die politische Positionen für den bürgerlichen Mittelstand impliziert, trifft die kulturelle und existenzielle Identitätsfrage des bürgerlichen Mittelstandes dieser Zeit. Zu einer vergleichbaren Diagnose des Sinn- und Orientierungsverlusts des bürgerlichen Mittelstandes kommt Franco Moretti in seiner Publikation Der Bourgeois.59
Ambivalenz prägt die Struktur der Werke Dickens‘, der Werke der Brontës und die der Werke Virginia Woolfs, deren Ausdrucksgestalten zwischen Dauer und Wandel, Stabilität und Instabilität erzählerisch zu vermitteln suchen, ästhetisch die Zirkularität des in den bürgerlichen Selbsttheorien reflektierten Selbstgefühls60 in Begrifflosigkeit fragmentarisch auflösen und ästhetisch transzendieren. Die Erzählwelten um die es im Folgenden geht sind instabil. Sie stellen sich den gesellschaftlichen und kulturellen Widersprüchen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und den damit in die Moderne weisenden Transformationsprozessen, die die „rasante(n) Veränderungen der Erfahrung von Raum und Zeit“ und die Folge in sich aufnehmen, dass sich das Wirklichkeitsverhältnis zeitlich transformiert, „die Zukunft den Charakter eines offenen Möglichkeitsraumes“61 erhält und das freie Spiel der Kräfte des Liberalismus im erzählerisch geformten Ausdruck, in der polyvalent-offenen Struktur, zum Ausdruck kommt.
Die ökonomischen, politischen und ästhetischen Wirklichkeitssegmente der ersten Modernisierungsphase der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich die einer „Umstellung der Gesellschaft auf eine kapitalistische Produktionsweise“, das „Reflexivwerden des säkularisierten Selbstbewusstseins“, die „Befreiung der Künste aus religiösen und politischen Heteronomien“, die die „Konstitutionsbedingungen des modernen Subjekts und seiner Lebenswelten“ ins Leben rufen,62 werden von den Romanen des Viktorianischen Zeitalters narrativ transformiert und zum Erkenntnispotenzial ihrer neuen Wirklichkeitssicht zusammengezogen. Wie im Zuge der zweiten Modernisierungsphase bei Virginia Woolf, geht es Ihnen nicht um eine nachahmende Reproduktion kultureller Zusammenhänge, sondern um die erzählerisch experimentelle Aufdeckung von Fragen nach den Konstitutionsbedingungen des modernen Subjekts. Diese Aufdeckung macht literarische Verfahren erforderlich, die Lösungsansätze für die Diskrepanzen des Zeitalters anbieten. Die Suche nach Lösungsansätzen kollidiert in den Werken des Viktorianischen Zeitalters mit ihren affirmativen Ansprüchen, den Erwartungen ihrer Leser/innen entgegen zu kommen. In Werken der zweiten Moderne wird ein Entgegenkommen den Leser/innen gegenüber durch eine Ästhetik narrativer Brüche verweigert.
Es geht im Rezeptionsprozess also nicht um die Aufdeckung einer geheimen Wahrheit hinter den Erzählwelten, es geht nicht um eine Erschließung einer ihr eingelagerten bewussten Intention. Es geht darum, das dynamische Kräftefeld zwischen Inhalts- und Ausdrucksebene, Inhalt und Form, als dynamische Spannung gegensätzlicher Kräfte zwischen episodischer Kohärenz auf der Inhaltsebene und fragmentarischer Kontingenz auf der Ausdrucksebene in Gestalt narrativer Ambivalenzen zu erschließen. Dieses Kräftefeld relationiert normative Dimensionen der Erzählwelt, lässt sie im Prozess des Erschließens der erzählten Welt fragwürdig und zum Diskursangebot werden. Daraus resultieren Einsichten der Rezipient/innen in die autoreferenzielle Reflexion der erzählten Welt, die „Fragen nach den spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten der Fiktion“63 zulässt, ferner: Einsichten in ihre „Dialogizität“, die narrative „konträre Auffassungen und Positionen unablässig aufeinander projiziert und in diesem Prozeß füreinander durchlässig werden“ lässt64 und Einsichten in die Fragmentierung ihrer Form.
Dieses besondere „Form- und Sinnbildungsmuster“65 des bürgerlichen Romans in Großbritannien, das als Signatur des Sinnverfalls und der Kohärenzauflösung der Identitätsmöglichkeiten des Subjekts in der Moderne gelesen werden kann, wird zum Angebot für heutige Leser/innen des dritten Lebensalters, ihr oben umrissenes kulturelles und biografisches Vorverstehen im Lektüreprozess durch eine produktive Zusammenführung der narrativ unverbundenen Zusammenhänge zu problematisieren. Im Erschließungs- und Reflexionsprozess erhält die hermeneutische Progressionsmethode ihre dialogische Dynamik aus den Erwartungs- und Reflexionshaltungen ihrer Leser/innen.
Die erzählerische Form als dialektisches Kräftefeld zwischen Inhalts- und Ausdrucksebene ist eine hermeneutische Formbestimmung, die die erzählerische Form nicht formalistisch als „Befreiung vom Inhalt“, sondern in ihrer Dialektik zur „unerlässlich(en)“66, dialogermöglichenden Bedingung der Erschließung der ästhetischen Differenz und damit des Verstehensprozesses werden lässt.
Indem diese Romane in ihren narratologisch differenten Ausdrucksgestalten den Sinn- und Orientierungsentzug der reflexiven Moderne anschaulich werden lassen, bieten sie ihren Leser/innen Entfremdungs- und Unheilerfahrungen der modernen Welt und die mit ihr einhergehende Identitätsfrage als erzählerische Problemdiagnose und als Sinnangebot an: Autonomieansprüche der Protagonisten werden perspektivisch gegen patriarchale Hegemonialansprüche in Stellung gebracht und laufen narrativ auf eine tödliche Gefährdung ihrer Identitätsmöglichkeiten hinaus. Es entstehen narrative Strukturen einer reflektierten Vergeblichkeit, die die Sehnsucht nach erfüllter Ganzheit bzw. den Schrecken vor ihrer Nicht-Erfüllbarkeit erzählerisch zum Vorschein bringen.
Die Rolle der Literatur in der Moderne wird vor dem Hintergrund der Beschleunigung, einer rasanten Veränderung von Zeit und Raum, der offenen und fortschrittsbezogenen Zukunftsorientierung, sozialer Verwerfungen, des Werteverfalls und Sinnvakuums, die der Modernisierungsprozess seit dem 18. Jahrhundert mit sich brachte, problematisch. Sie übernimmt die Rolle einer Konfrontation und Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen dieses ungeheuren Transformationsprozesses, indem sie ihn erforscht, in Bilder einer wiederverzauberten Welt zu kleiden sucht67 und narrativ kritisiert.
Heute evozieren Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne Leselust, Neugier auf Handlungsentscheidungen und -verwicklungen in den Plots und kritisches Interesse an den kulturdiagnostischen Lösungen, die die Romane vorschlagen. Indem die reflektierende Urteilskraft der Rezipient/innen angeregt wird, kommen kathartische Moment ins Spiel, die verletzende Erinnerungen affizieren.68