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1.3 Die Refiguration des Paradigmas moderner Identität

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Der moderne Roman als offenes Genre, so wurde eingangs erläutert, spricht, indem er sie narrativ gestaltet, transitorische Identitätserfahrungen an und lässt sie in der Interaktion zwischen Text und Leser/innen thematisch werden. Die Grundstruktur dieser Interaktion besteht darin, dass der literarische Text nicht als ein Objekt begriffen wird, das sich von außen analysieren lässt, sondern als ein, wie oben gezeigt, subjektiver Weltentwurf, durch den Leser/innen zu kreativen Mitspielern werden. Die Welt des narrativen Textes entsteht in der Interaktion zwischen Text und Leser/innen. Das bedeutet, dass literarische Texte von den Erfahrungen her, die Leser/innen mit ihnen machen, verstanden werden müssen. Ästhetische Erfahrung wird zur transformativen Energie, die den Horizont der Rezipient/innen, unter Rückbezug auf das individuelle Vorverständnis, für Neues öffnet.1

Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne geben ihren Protagonistinnen und Protagonisten als Waise und Außenseiter Gestalt. Mit Helmut Plessner und Karl Jaspers formuliert, symbolisieren sie die exzentrische Positionalität des Menschen in Grenzsituationen. Auf der Suche nach dem Ich, die diese Romane als transitorisches Werden zu sich selbst gestalten, werden sie mit Erfahrungen des Leidens, der Krankheit, des Kampfes um Liebe, des Zufalls und des Todes konfrontiert. Hunger, Kälte und Illusionsverlust kommen hinzu.

Nach Karl Jaspers sind dies keine philosophischen, sondern existenzerhellende Grenzsituationen des Menschen, denen man nicht ausweichen, die man aber mit dem Mut zum Neubeginn bewältigen kann.2 Das trifft auch auf den eigenen Tod zu:

Der Tod ist nur als ein Faktum eine immer gleiche Tatsache, in der Grenzsituation hört er nicht auf zu sein, aber er ist in seiner Gestalt wandelbar, ist so, wie ich jeweils als Existenz bin. Er ist nicht endgültig, was er ist, sondern aufgenommen in die Geschichtlichkeit meiner sich erscheinenden Existenz.3

Grenzsituationen als lebendige Notwendigkeit erfahren, heißt folglich, sie zum Eigentlichen unserer Existenz werden lassen: „(…) wir werden wir selbst, wenn wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten. Sie werden, dem Wissen nur äußerlich kennbar, als Wirklichkeit nur für Existenz fühlbar. Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe. In der Hilflosigkeit des Daseins ist es der Aufschwung des Seins in mir.“4

Die Nicht-Endgültigkeit der Endgültigkeit des menschlichen Todes stellt ein Paradoxon dar: Zwar macht jeder Mensch die Erfahrung, dass andere Menschen sterben können, aber die Bedeutung von Tot-Sein kann man nicht erfahren.5 Jaspers bringt die Erfahrungen der Grenzen menschlichen Daseins, auch das Paradoxon der menschlichen Todeserfahrung, in den Zusammenhang der Fähigkeit des Menschen zur immanenten Transzendenz: Der Einzelne könne, so Jaspers, als Teil einer Gesamtheit, mit der er kommuniziere, seine Existenz verstehen. Menschsein entstehe aus Krisenerfahrungen, nämlich in der individuellen Fähigkeit zu freier Selbstschöpfung.6 Eine analoge Weltdeutung findet sich in Virginia Woolfs Werk, in Varianten aber auch in den anderen hier vorgestellten Romanen.

Die jeweilige Form der Romane nimmt Grenzerfahrungen menschlicher Existenz und ihre narrativen Aufschwungs- und Lösungsmöglichkeiten in ihre kontingenzästhetische und multiperspektivische Struktur als fiktionale Existenzerhellung auf. Die jeweilige erzählerische Form wird zum fiktionalen „Wagnis des Lebens“7 und damit zum interessanten, spannenden, unterhaltsamen, die Gefühle und kognitiven Fähigkeiten der Rezipient/innen des dritten Lebensalters anregenden Lektüre- und Diskursangebot.

Sie können ein großes Spektrum menschlicher Grenzsituationen, in denen sich die Protagonisten der Romane befinden und ihre Bewältigungsmöglichkeiten, erschließen: Im Oliver Twist als Todeserfahrungen im Leben, in Jane Eyre als drohende Existenzvernichtung, in Wuthering Heights als archaische Gegenperspektive gegen viktorianische bzw. bürgerliche Ordnungsvorstellungen, bei Virginia Woolf als „Zeitlichkeit und Veränderlichkeit“8 des individuellen Lebens, in seiner Ambivalenz von Leben und Tod.

Ins Spiel kommen dabei Fragen der Alternsidentität, die, nach Erikson, an die Aufgabe gebunden sind, das eigene Leben in seiner Gesamtheit als stimmig zu erfahren und in seinen positiven wie negativen Aspekten als einmalig, unumkehrbar und endlich zu bejahen.9 In der Weiterführung der Entwicklungstheorie Eriksons hebt Andreas Kruse mit Günter Anders und Hans Thomae hervor, dass Identitätserfahrungen im Alter durch Offenheit, als „Fähigkeit und Bereitschaft (…), sich von der Welt berühren, beeindrucken, ergreifen zu lassen“, entstehen. Daraus folgen „Mitverantwortung“ für die Welt und ihre Veränderungsmöglichkeiten und Dispositionen für „im Lebenslauf entwickelte (…) neue Möglichkeiten und Anforderungen“.10 Entscheidend ist hierbei, dass im Alternsprozess eine „tragfähige Lebensperspektive“ entwickelt werden kann, die sich in Bezug auf die verbleibenden Jahre des Lebens als positive Lebensbewertung und als Wunsch nach sozialer Teilhabe äußert.11 Dieses Konzept der Generativität im Alter, das sich familiär und gesellschaftlich verwirklichen kann, ist in engem Zusammenhang mit Identitätstheorien zu sehen, in deren Zentrum Erfahrungen der transitorischen Identität und ihre Möglichkeiten der Selbstorganisation subjektiven Lebens in der Moderne stehen.

Die mit Industrialisierung, Kapitalisierung und unterschiedlichen Strömungen von Individualisierung entstandene Moderne, die sich durch das lange 19. Jahrhundert erstreckte, wird von Soziologen und Kulturkritikern, wie Charles Taylor, Peter Gay, Ulrich Beck, Anthony Giddens, Axel Honneth, mit einer reflexiven, sich ständig revidierenden Moderne, dem Verlust stabiler Wertorientierungen, extrem gesteigerter Auswahlmöglichkeiten, mit Reflexionen auf transitorische Identitäts- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten und transformatorischen Bildungschancen in Verbindung gebracht.

Romane des Viktorianischen Zeitalters und des frühen 20. Jahrhunderts generieren das Paradigma moderner, transitorischer Identität: „The fact that so many novels centre on a search, quest or voyage suggests that meaning is no longer given in advance.”12

In Bezug auf Identitäts- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten in der Moderne spricht Jürgen Straub, wie oben erläutert, von unabschließbaren Ambitionen, die aktiv keine Kohärenz des Selbst herbeiführen. In der Auseinandersetzung mit den Romanen wird das Selbst als Fremdes, als Anderes, als nicht einholbarer, konstitutiver Selbstentzug, der kreative Potenziale und Möglichkeiten der Selbsttranszendierung freisetzen kann, thematisch.13

Der Individualismus hatte sich in England bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zur Blüte entwickelt und war hauptsächlich männlich konnotiert.14 Fragen nach „moralischen Grundlagen der Marktwirtschaft“15 wurden nicht systematisch gestellt. Sie wurden von Intellektuellen in Bezug auf den Homo oeconomicus als Persönlichkeitstypus, nicht aber in Bezug auf soziale Verelendung und Ausbeutung durch Freisetzung privater Profitinteressen diskutiert.16 Sie tauchten als Skizzen eines moralischen Ökonomismus bei Adam Smith, Hegel, Durkheim und Marx auf.17 Die seit dem 18. Jahrhundert publizierten englischen Romane jedoch gingen in Varianten der Frage nach, ob ökonomisch, d.h. in der Sprache der Romane, malevolent strukturierte Machtasymmetrien moralisch legitimiert seien und ob der Typus des Homo oeconomicus nicht mit der „Gefahr einer allmählichen Aushöhlung sozialer Bindungen verknüpft sei“.18 Im Möglichkeitsraum der Fiktion entwarfen Romane Vorstellungen individueller Autonomiebildungsmöglichkeiten und brachten diese Fragen, im 19. Jahrhundert über die Paradoxie des poetischen Realismus, wie zu zeigen sein wird, als Herausforderungen in den öffentlichen Diskurs ein.19 Im 19. Jahrhundert verdichteten Romane die unauflösbare Diskrepanz des modernen Kapitalismus, die sich „(…) zwischen dem an universalisierbaren Werten orientierenden Verständigungs- und Geltungsanspruch demokratischer Politik einerseits und der sich demokratischer Politik und moralischer Gestaltung entziehenden Dynamik des Kapitalismus andererseits (…)“ als „Dauerproblem“ aufspannte20 und, wie Peter Gay dies nennt, ein normatives Vakuum erzeugte.21

In ihrer narrativ subjektiven Perspektivierung der Kulturkrise, die sie 40–50 Jahre vor ihren Publikationsdaten, meist in der Mitte des 18. Jahrhunderts, ansetzen, sind Romane des Viktorianischen Zeitalters Teil des modernen Literatursystems.22 Sie konfrontieren – wie auch die Romane, die der klassischen Moderne zugerechnet werden – die Diskrepanz des modernen Kapitalismus und die mit ihr einhergehenden Problematik des normativen Vakuums kontingentästhetisch und multiperspektivisch.

Rezipient/innen des dritten Lebensalters können diese Romane als kulturelle Gedächtnismedien über die Fähigkeit zur Aktiven Imagination refigurieren, wenn sie deren paradoxe bzw. multipersektivische narrativen Strategien erschließen und auf die epochale und ästhetische Differenz dieser fiktionalen Möglichkeitsräume zu heutigen individuellen Akten kulturellen Erinnerns reflektieren. Bei der Erschließung dieser Romanwelten kommen komplexe moderne Entfremdungserfahrungen, die „wirklichkeitsgeneriernd“23 das Erzählen des Erzählens hervorheben, ins Spiel. In narrativen Konstruktionen, die das Geschehen allererst erzeugen, erkunden Romane das moderne Selbst, loten Möglichkeiten seiner Handlungsspielräume und persönlicher Autonomie aus und dringen zu „Zonen des Vor- und Unbewussten (…) vielfach im Modus der Angst“24 vor. Da jeder dieser Romane Wahrnehmungsformen moderner Subjektivität anders perspektiviert, entsteht eine enorme Vielfalt unterschiedlicher narrativer Ausdruckswelten – auch bei Autoren, wie beispielsweise Charles Dickens, in dessen Werk kein Roman dem anderen gleicht –, so dass man von einer einheitlichen Gattung Roman nicht sprechen kann.25

In der Refiguration moderner Romane als kulturelle Gedächtnismedien durch Rezipient/innen des dritten Lebensalters, wird die Komplexität des modernen Ich, werden Gattungsmuster erschließbar, die Entwicklungsverläufe unterschiedlichster Art, bzw. archetypische Formen wie Komödie, Tragödie, Satire, Melodrama26 und ihre – besonders bei Charles Dickens ausgeformten – Mischformen zum Ausdruck bringen. Die kontingenzästhetische Multiperspektivität der Romanwelten bringt moderne Erfahrungen der transzendentalen Obdachlosigkeit (Georg Lukács) und die daraus folgenden Pathologien der Angst, der Verlusterfahrungen und Bedrohung zum Ausdruck; in Romanen des Viktorianischen Zeitalters in den Modi des Unheimlichen, der Groteske, des Erhabenen, des Grotesk-Erhabenen mit kathartische Lösungsmöglichkeiten im Modus des Märchenhaften oder der Märchen-Groteske, in Romanen der klassischen Moderne in den Modi des Selbstverlustes und der Selbsttranszendenz.

Charles Taylor leitet das in den Romanen gestaltete moderne Identitätsparadigma aus unterschiedlichen kulturgeschichtlichen Quellen her.27 Taylor entwirft drei Elemente oder Facetten des abendländischen Identitätsparadigmas: Das erste ordnet er dem Platonimus zu. Identität ist kosmologisch orientierte Innerlichkeit und an der Ordnung eines guten Lebens orientiert.28 Das zweite Element ordnet er Descartes‘ Erkenntnistheorie zu. Dieses Paradigma des distanzierten Subjekts entsteht in der Übergangszeit zwischen Augustinus und Descartes. Sein Merkmal ist eine radikale Reflexivität, die von eigenen Ideen, statt vom äußeren Sein ausgeht. Im Unterschied zur augustinischen Innerlichkeit verlegt Descartes die sittlichen Quellen in den Menschen selbst.29 Diese Verlagerung sittlicher Quellen in Erfahrungen der Endlichkeit des Lebens bildet den Übergang zum dritten Element des Identitätsparadigmas, in dem das „ganze menschliche Leben (…) nun in Begriffen von Arbeit und Produktion einerseits und Ehe und Familie andererseits definiert (wird).“30 Es entsteht die bürgerliche Ethik, die mit ihren Idealen der Gleichheit, ihrem universellen Rechtsgefühl, ihrem Arbeitsethos, ihrer Unterstützung von Erwerb und Handel, ihrer Normierung sexueller Liebe und Familie, eine wesentliche Rolle bei der Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft spielt. Das sich in der Romantik herausbildende bürgerliche Subjekt ist mit den widersprüchlichen Herausforderungen von Fortschritt, Sinnsuche und Lebensbejahung konfrontiert, die aus dem Dilemma zwischen instrumenteller Vernunft und kreativem Schöpfertum resultieren.31 Die „Synthese dieser Bejahung des normalen Lebens mit der Vorstellung des distanzierten Subjekts“32 ist das wesentliche Paradigma moderner Identität, „nach dessen Maßgabe wir uns seither zu definieren haben.“33 Die Folge ist, dass mit dem Schwinden kosmischer Ordnungen von Ideen und theologischer Perspektiven das Gefühl in der Moderne wächst, „daß die Aufgabe das Leben zu bejahen und eine Quelle inneren Wertes zu finden, uns selbst zufällt.“34

Persönliche Identität ist ein fester Bestandteil der modernen Zivilisation geworden. Es gilt: „Meine Identität gehört erst dann zu mir, wenn ich sie akzeptiere, was prinzipiell Raum für Verhandlungen mit meiner Umwelt, meiner Geschichte und meinem Schicksal öffnet.“35 Das moderne Paradigma einer Selbstdefinition, das im menschlichen Lebenslauf ausgebildet wird, kann unter der Bedingung immer wieder umdefiniert werden, dass es sich auf die Anerkennung der Anderen zu stützen vermag.36

Anthony Giddens erläutert Selbstbestimmungsmöglichkeiten als kontextbezogene „self-actualisation“, nämlich als „balance between opportunity and risk“37, die es Individuen ermöglicht, ihre Lebenswege selbstverantwortlich auszuhandeln und zu gestalten. Giddens begründet diese Selbstverantwortlichkeit mit der Fragilität und Schutzlosigkeit des modernen Selbst: „Self-Identity becomes problematic in modernity in a way which contrasts with self – society relations in more traditional contexts; yet this is not only a situation of loss, and it does not imply either that anxiety levels necessarily increase.”38

In Bezug auf Möglichkeiten einer Bildung transitorischer Identitäten in der Moderne folgert Giddens an anderer Stelle: „A person’s identity is not to be found in behaviour, nor – important though this is – in the reactions of others, but in the capacity to keep a particular narrative going. The individual’s biography (…) cannot be wholly fictive. It must continually integrate events which occur in the external world, and sort them into the ongoing ‘story’ about the self.”39

Um einen Sinnbezug zu uns als selbstentzogenen Subjekten herzustellen, müssen wir in anwesenden oder abwesenden sozialen Kontexten vergangene und gegenwärtige Erfahrungen mit unseren Zukunftserwartungen verknüpfen.

Axel Honneth führt in diesem Zusammenhang Paradoxien eines reflexiven Individualismus der Moderne ein, die er in Begriffe organisierter Selbstverwirklichung, bzw. in den Begriff dezentrierter Autonomie fasst.40 Unter dezentrierter Autonomie versteht Honneth eine von Kontingenz und Heteronomie bestimmte Form von Subjektivität und personaler Identität, deren Struktur so angelegt ist, dass „subjektübergreifende Mächte“ von Beginn des Lebenslaufs an zu „Konstitutionsbedingungen der Individualisierung“ und der Entwicklung persönlicher Autonomie werden.41 Persönliche Autonomie versteht Axel Honneth „(…) nicht als Gegensatz zu, sondern als bestimmte Organisationsform der kontingenten, jeder individuellen Kontrolle entzogenen Kräfte“ des Unbewussten und der Sprache.42

Seit den 1960er Jahren entwickelt sich in modernen Gesellschaften, durch sozialstrukturelle und sozialkulturelle Wandlungen bedingt, eine zentrale Paradoxie der Individualisierung der reflexiven Moderne, nämlich „das eigene Selbst genau dort zu suchen“, wo es kulturell, institutionell oder wirtschaftlich erwartet wird.43 Nach Honneth weist diese Paradoxie sozialgeschichtliche Ähnlichkeiten mit den sozialen Problemlagen auf, die im 20. Jahrhundert zur Herausforderung wurden – eine hohe Zahl Arbeitsloser und gesellschaftlicher Außenseiter, Konzerne, die ohne politische Kontrolle international agieren, Arbeitsimmigranten, die aus Armutszonen in die Metropolen strömen –, Herausforderungen, von denen man dachte, „dass sie zum erfolgreich bewältigten Erbe des 19. Jahrhunderts gehört“ haben.44 Hinzu kommen, so Honneth, „Formen sozialen Leidens“, die „ohne Vorläufer in der Geschichte kapitalistischer Gesellschaften sind“.45 Diese Formen wie Depressionen und Resignation entstehen aus Gefühlen innerer Leere, die mit einem sozialstrukturellen und sozialkulturellen normativen Vakuum verbunden sind. Dieses Vakuum zwingt Individuen zur Alternative zwischen erwarteter oder erzwungener Authentizität oder zur Flucht in hektische Betriebsamkeit bzw. in Resignation.

Auch der niederländische Psychogerontologe Gerben J. Westerhof spricht gerade in Bezug auf Menschen des dritten Lebensalters von individuellen Erfahrungen eines „value gap“, der moderne Individuen in die paradoxe Situation bringt, sich selbst in Bezug auf ihre Vergangenheit als bedeutungs- und werttragend zu deuten, um daraus für ihre Gegenwart und Zukunft neue, bedeutungsvolle und werttragende Identitätsmuster zu konstruieren, die in sozialen Kontexten verhandelt werden können.46

Die unauflösbare Diskrepanz des modernen Kapitalismus bestimmt bis heute transitorische Identitäts- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten moderner Individuen. Deren dezentrierte Autonomie ist Ausdruck der Pathologie der reflexiven Moderne und vergleichbar mit Pathologien des 18. und 19. Jahrhunderts, die das sich herausbildende bürgerlichen Subjekt affizierten. Virulent bleibt die Frage nach der Souveränität und Mündigkeit heutiger Individuen,47 und nach dem persönlichen Umgang mit Erfahrungen des Selbstentzuges und der Selbstbestimmung.

Wie oben dargelegt, fasst Martin Seel Selbstbestimmung als Modus des sich bestimmen lassens. Seel spricht davon, dass sich unsere Selbstbestimmung „notwendigerweise inmitten einer historisch entfalteten und sozial geteilten Welt vollzieht“48 und wir nur unter Anerkennung der Kräfte, die uns bestimmen, selbstbestimmt handeln können. Hier kommt die oben erläuterte Paradoxie des Identitätsbegriffs als aspirierter Einheit ins Spiel. Martin Seel nennt sie „die Freiheit der eigenen Bestimmung“ und begründet sie so: „Wer nicht in vieler Hinsicht bestimmt wäre, könnte selbst nichts bestimmen; es wäre nichts da, dem gegenüber eine eigene Bestimmung ein Gewicht haben könnte. Bestimmt zu sein ist ein konstitutiver Rückhalt von Selbstbestimmung.“49

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