Читать книгу Der eiserne Gustav - Ханс Фаллада - Страница 35

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Die andere Schwester Hackendahl, die Eva, hatte Eltern und Geschwister getrieben, daß man nur rasch genug in die Wohnung zurückkam. Nun saß sie leer und ausgelaufen in ihrem Zimmer. Nein, kein Eugen war in der Wohnung gewesen, kein Schreibtisch war erbrochen worden, das kleine törichte Dienstmädchen Doris nicht überwältigt oder vergewaltigt – es war alles genau, wie es sein sollte!

Und das war das Schlimmste! Daß Eugen noch nichts getan hatte, das war das Schlimmste! Daß er noch alles tun konnte, daß alles immer weiter drohte, daß man immer weiter warten mußte – das war das Schlimmste!

Sie sitzt da, sie hat die Hände in den Schoß gelegt, sie hört durch das offene Fenster den Vater mit Rabause im Stall reden und sie denkt: Ja, Vater hat es gut. Er hat seinen Stall und seine Droschken und seinen Rabause. Vater fehlt nichts. Aber ich …

Und sie hört die Mutter eifrig mit der Doris in der Küche reden, und Mutter hat es auch gut. Der Otto, dem es noch am schlechtesten von ihnen allen ging, der ist nun weggefahren, ist etwas Geehrtes geworden, etwas Angesehenes, er hat eine Aufgabe. Aber sie …! Und die Sophie hat auch eine Aufgabe, und wenn sie die nur muffig erfüllt, so liegt das nur an der Sophie – sie hat doch eine Aufgabe! Und Heinz hat seine Penne, und Erich hat auch immer was, immer was Neues, immer was anderes, aber sie!

Sie hat bloß ein Schicksal, ein schäbiges, gemeines Schicksal. Sie hat bloß den Eugen an der nächsten Straßenecke, der pfeift nach ihr auf einem Finger, den Ludenpfiff, und wenn er pfeift, dann muß sie kommen. Dem gehört sie nun. Der ist ihre Aufgabe!

Als er sie vorgestern zum Trinken zwang, als sie sah, er würde nicht nachgeben, er wollte sie unbedingt haben, sofort – und nicht etwa, weil er Verlangen hatte nach ihr, sondern bloß, damit sie wußte, sie gehörte ihm auch darin, sie hatte nichts Eigenes, nichts Sauberes mehr –, also, da war ihr plötzlich ein Gedanke gekommen wie ein ferner Trost, etwas, das ihr über die nächste schreckliche Stunde hinweghelfen konnte, und sie hatte gefragt: „Ja, Eugen, mußt du dich denn nicht auch stellen? Wirst du nicht auch Soldat?“

(Und sie hatte den Krieg als Befreier gesehen, genau wie ihre Schwester. Er würde fortmüssen, und wenn er wiederkam – aber er kam nicht wieder! Solche durften nicht wiederkommen, wozu war denn ein Krieg sonst nütze?)

Er hatte sie von der Seite angesehen und hatte höhnisch gelacht: „Det möchtste wohl, mein Liebchen!“

„Aber nein, Eugen! – Nur, es müssen sich doch alle jungen Männer stellen …“

„Nee, meine Süße, mir lassen se nich dienen, ick bin unabkömmlich. Mir liebt mein Vaterland zu sehr.“

„Du bist unabkömmlich? Aber alle jungen Männer …“

„Mußt keine Angst haben, Evchen, ick bleibe bei dir.“

„Aber …“

„Du möchtst ja jewaltig jerne, det ick rauskomme! Daraus wird nischt. Knochen kaputt schießen lassen – dazu sind die anderen jut.“

„Aber wenn man sich nicht stellt, dann ist man doch fahnenflüchtig! Und dann …“

„Du hast aber ’ne lange Leitung! Ick bin nich fahnenflüchtig, ick sare dir doch, ick bin unabkömmlich! Mein Vaterland vazichtet uff mir! Noch nich kapiert! Ick habe se nich mehr, Dowe! Ick habe nich mehr die bürgerlichen Ehrenrechte …“

„Wieso …?“ fragte sie verwirrt. „Die Ehrenrechte …?“

„Jawoll, meine Süße! Wie se mir Zuchthaus uffjebrummt haben, da ham se mir die bürgerlichen Ehrenrechte abjeknöpft, for drei Jahre. Un nu darf ick meines Kaisers Ehrenrock nich tragen – und jewaltig traurig biste darüber, wie ick sehe …“

Er lehnte sich über den Tisch und grinste. Noch in der Erinnerung schauderte sie. Nein, sie war wirklich nicht zimperlich, aber daß ein Mensch auf seine Schande stolz sein konnte!

Er mußte ihr die Gedanken vom Gesicht abgelesen haben. Mit seinem jähen Übergang wurde er finster und zornig. „Du schämst dir wohl? Du schämst dir wohl für deinen Eugen?! Komm trudeln! Ick werd dir zeigen, wat bei mir Scham heißt. Un wenn du deine bürgerlichen Ehrenrechte noch hast …“

Schon hatte er wieder gegrinst … Und dann kam das andere. Dann – kam – das – andere …

Sie sitzt ganz still da, Vater redet noch immer mit Rabause im Stall. Man hört die Eimer klappern … Mutter redet auch noch … Bubi flötet …

Plötzlich kommt ihr die Erinnerung an die Gudde, wie sie da vorhin auf dem Bahnsteig stand, ein kleines, verkrüppeltes Geschöpf, aber sie hatte ein gesundes Kind an der Hand. Ihr schaudert bei dem Gedanken, daß sie ein Kind haben könnte, ein Kind von diesem Kerl, der äußerlich gesund ist, aber innen faul und schlecht … Der kleine Krüppel hat etwas vom Leben bekommen, was sie nie bekommen wird … Denn: Es ist vorbei!

Sie nimmt aus der Schieblade einen Stoff, schlägt ihn in Papier, sie ruft zu Heinz hinüber: „Wenn Mutter fragt, ich bin noch ein Stündchen weggegangen.“

„Sag’s ihr doch selber!“ ruft Bubi mit aller brüderlichen Höflichkeit. „Ich bin nicht dein Botenjunge!“

Aber sie will es nicht selber der Mutter sagen, sie will ihr nicht erzählen, daß sie zur Schneiderin geht, die Mutter denkt dann gleich, sie geht „darum“! Sie geht aber nicht darum, sie geht ganz für sich allein.

Sie geht? Nein, sie läuft fast. Sie läuft so schnell, wie ein junges Mädchen 1914 bei langen Kleidern und engen Schicklichkeitsbegriffen auf der Straße nur laufen darf. Sie sieht sich immer wieder um, ob er sie auch nicht verfolgt, er ist ihr Alpdruck, die stets drohende Gefahr. Aber unangefochten erreicht sie die stillere Nebenstraße, sie kommt über die Höfe, steigt die Treppen hinauf …

Auf ihr Klingeln öffnet die Gudde sofort. Sie hat gerötete Augen, die aber jetzt fast feindlich blicken. Das Kind, dieser kleine, zweijährige Junge, hält sich an ihrem Rock.

„Entschuldigen Sie, Fräulein Gudde“, sagt Eva etwas verwirrt von dem abwehrenden Blick. „Ich sah Sie eben auf der Bahn, und da fiel mir ein, daß ich den Stoff noch liegen habe … Es ist ein Sommerstoff, und wenn ich jetzt kein Kleid daraus kriege, bleibt er ein ganzes Jahr liegen …“

Sie lacht ein wenig albern, sie ist wirklich verwirrt durch den bösen Blick der anderen.

„Nein!“ sagt die Gudde. „Nein! Tut mir leid, Fräulein. Nein! Ich kann die Arbeit nicht annehmen. Nein!“

Dieses mehrfach wiederholte, mit aller Erbitterung hervorgestoßene Nein steigert Evas Verwirrung noch.

„Aber, Fräulein Gudde“, fragt sie. „Was ist denn los? Sie haben doch immer für uns gearbeitet. Ich bin Eva Hackendahl – Sie wissen doch.“

„Ich habe es gleich gesehen“, sagt die Gudde leidenschaftlich, „daß Sie es geraten haben. Aber es ist mein Kind, es ist unser Kind ganz allein. Hier habt ihr nichts reinzureden, ihr Hackendahls. Nein! Mein Kind. Wenn euch Otto nicht genug war …“

„Otto!“ ruft Eva verblüfft.

„Tun Sie noch so! Schämen sollten Sie sich was! Jawohl, Otto, aber mein Otto, nicht euer Otto, nicht der Otto, zu dem ihr ihn gemacht habt, ihr Hackendahls, ihr mit euerm Vater! Eiserner Gustav, wahrhaftig!“ Und mit einem plötzlichen Übergang: „Eben ist er in den Krieg gefahren, und schon habe ich solche Angst um ihn! Aber wenn er zurückkommt, sorge ich, daß er sich losmacht von allem, was Hackendahl heißt. Dann will ich den Krieg segnen, segnen, segnen …!“

Sie lehnt den Kopf an den Türrahmen und fängt herzzerbrechend zu weinen an.

Eva hat mit großen Augen diesen Ausbruch angehört, nun faßt sie vorsichtig nach der Weinenden. „Fräulein Gudde, bitte, bitte nicht – das Kind!“

Denn das Kind steht dabei, es weint nicht. Es versucht, die Mutter zu umfassen. „Mutti, liebe, gute Mutti, nicht!“

„Ja, ja, es ist ja schon vorbei, Gustäving. Mutti lacht wieder. Sie lacht ja schon wieder, Gustäving. Fräulein Hackendahl, jetzt wissen Sie doch, was Sie wissen wollten, jetzt können Sie ruhig nach Haus gehen. – Ach, was werdet ihr ihm nun für Briefe in den Krieg schreiben! Nicht mal da wird er vor euch Ruhe haben …“

„Keiner hat Otto im Verdacht, glauben Sie mir doch, Fräulein Gudde! Wir haben es ihm einfach nicht zugetraut!“

„Nein, nie habt ihr ihm etwas zugetraut!“

„Und von mir erfährt auch keiner was, Sie sollen das Kind ganz allein für sich behalten. Ich verstehe Sie ja, ich verstehe ja, daß Sie alles Hackendahlsche hassen … Ich bin ja auch eine Hackendahl, und ich – ich bin genauso unglücklich wie Otto …“

Jetzt ist es an Eva, die zu weinen beginnt, aber sie fängt sich rascher.

„Sehen Sie“, sagt sie zu der stummen anderen, „ich hab kein Kleines wie Sie – und ich darf auch nie eins haben. So unglücklich bin ich! Darum bin ich hierhergekommen, weil ich Sie mit einem Kind gesehen habe, so einem hübschen, gesunden Kind. Weil ich früher immer gewünscht habe, ich möchte mal Kinder haben, und nun war ich so neidisch auf Sie … Sie müssen das doch verstehen …!“

Die Gudde sieht sie einen Augenblick stumm an, dann sagt sie kurz: „Kommen Sie rein, Fräulein Hackendahl!“

Das Kind an der Hand, ging die Gudde ihrem Gast voran in die Stube. „Geben Sie mir mal den Stoff, Fräulein.“

Und Eva gab den Stoff, und die Schneiderin holte Modeblätter und zeigte und schlug vor und fragte: „Wollen Sie es so haben?“ und: „Ich würde aber nicht die Keulenärmel nehmen, Fräulein Hackendahl, ich würde nur eine ganz kleine Puffe machen.“

Und Eva antwortete ganz ordentlich, wie man eben bei jeder Schneiderin antwortet, und war sogar schon ein bißchen interessiert. Denn der blaue Stoff mit seinen weißen Pünktchen war wirklich nett, und es ließ sich schon etwas Hübsches daraus machen.

Plötzlich aber sagte die Gudde: „Einen Augenblick mal!“ und ging ins Nebenzimmer, und nach einer Weile kam sie wieder und trug vorsichtig etwas in der Hand. Sie zeigte es Eva und sagte stolz: „Sehen Sie, diesen Christus am Kreuz hat er auch geschnitzt – ist er nicht schön?“ Sie wartete aber keine Antwort ab, sondern sagte: „Ich hätte ihn schon zehnmal verkaufen können, ich geb ihn aber nicht her. Sonst trage ich alles, was er schnitzt, in ein Geschäft. Sie bezahlen nicht schlecht, und der Inhaber sagt, er hätte das Zeug zu einem richtigen Künstler, er müßte nur ein bißchen Ausbildung und Material haben. – Aber daraus wird nichts“, sagte sie mit der alten Feindseligkeit im Ton und stellte den Christus vorsichtig beiseite. „Er muß ja bei euch die Pferde putzen und den Stall fegen!“

Eva sah die Schwägerin hilflos an, die aber sagte schon wieder ganz ruhig: „Ich rede natürlich nie so zu ihm wie jetzt zu Ihnen. Ich habe ihm immer gesagt: ›Otto, tu, was dein Vater sagt.‹ Denn das sehe ich auch, daß er einen schwachen Willen hat und daß ich ihn bloß unglücklich mache, wenn ich ihn zum Streit mit euch reize.“

Eva sagte vorsichtig: „Vielleicht kommt er wirklich stärker aus dem Krieg zurück. Sie können doch hier nicht immer allein mit dem Kind sitzen, und wenn Otto solche Gaben hat … Vater hat doch Geld genug …“

„Doch, das kann ich! Ich kann hier gut allein mit meinem Kind sitzen und auf ihn warten. Dann habe ich das Kind allein und ihn allein, wenn es auch immer nur für eine kurze Zeit ist. Und das Geld – nie will ich einen Pfennig von eurem Geld. Ihr denkt, Geld macht glücklich, aber euch alle hat es bloß unglücklich gemacht!“

Sie sah Eva wieder zornig an, aber sie besänftigte sich gleich wieder, als sie deren blasses, müdes Gesicht sah. „Nein, nun will ich auch nicht mehr schelten. Sie sagen ja, Sie sind ebenso unglücklich wie Otto. – Aber Sie wissen gar nicht, wie unglücklich der ist.“

„Sie wissen ja auch nicht, wie unglücklich ich bin“, sagte Eva. Aber sie besann sich schnell und fragte: „Wann kann ich denn zur Anprobe kommen? Oder soll ich gar nicht mehr kommen? Ich sage bestimmt nie etwas zu Haus.“

„Sie können alle Tage kommen – wenn Sie Gustäving sehen wollen.“

„Und“, sagte Eva, „es kann ja sein, daß Mutter nach Ihnen schickt oder selber zu Ihnen kommt, denn Mutter ist neugierig. Da dürfen Sie sich nicht verraten – Mutter denkt mit keinem Gedanken an Otto. Sie können ja sagen, es ist das Kind von einer Verwandten.“

„Ich wegen Gustäving lügen? Nie! Ich werde es ihr schon sagen, daß es mein Kind ist, aber wer der Vater ist, das kann sie mir nun doch nicht abfragen.“

„Dann gehe ich also“, sagte Eva und sah noch einmal durch die Stube und auf das spielende Kind.

Gertrud Gudde sah den Blick. „Geben Sie ihm doch einen Kuß“, sagte sie. „Ich bin Ihnen bestimmt nicht mehr böse.“

Aber Eva machte bloß eine abwehrende Bewegung, sie flüsterte leise: „Nein, nein“, und ging wie gehetzt über den kleinen dunklen Flur zur Wohnungstür, ohne jeden Abschied. Sie öffnete die Tür, und erst, als sie auf dem Treppenabsatz stand, sagte sie: „Vielleicht komme ich schon morgen wieder.“

„Gut“, sagte die Gudde und nickte.

„Ich überlege immer“, sagte Eva und bückte sich nieder zu dem Namensschild an der Klingel, „wie Sie mit Vornamen heißen. Gertrud also. Ich heiße Eva.“

„Er sagt Tutti …“, sagte die Gudde ganz leise.

„Adieu – Tutti“, nickte Eva.

„Adieu – Eva“, sagte die Gudde.

Dann ging Eva – auf die Straße zurück.

Der eiserne Gustav

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