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Kapitel 8

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„Guten Morgen Marina!“ Alexander warf sein Sakko zielsicher über die Stuhllehne.

„Hallo Alexander - Kaffee?“

„Ja gerne, bitte mit Milch und Zucker.“ Das braune Gebräu duftete bereits angenehm durch das Büro.

„Klar, wie immer.“ Marina stellte ihm die dampfende Tasse hin.

„Guten Morgen Leute, was haben wir?“ Der Kommandant Ramseier erschien in der morgendlichen Sitzungsrunde. Die Sonne warf ihr Licht in quadratischen Formen auf den dunklen Teppichboden. „Lasst uns erst mal die Details zum Fall Kartause Ittingen zusammentragen. Wer ist an dem Fall dran?“

„Ähm, das sind wir Chef, Marina und ich.“ Alexander räusperte sich und kramte etwas verlegen in seinen kärglichen Unterlagen.

„Ehrlich gesagt sind unsere Ergebnisse bis jetzt etwas spärlich - aber durchaus interessant.“ Er rutschte mit seinem Bürostuhl hin und her.

„Also zur Erinnerung: Wir haben einen verstorbenen Säugling und eine junge Frau, von der wir mittlerweile wissen, dass sie Judith von Hälfenberg heißt. Gemäß ihren eigenen Angaben ist sie nicht die Mutter des Kindes.“

„Gibt es dafür irgendeinen Nachweis?“, wandte Ramseier ein.

„Wir waren bei ihr in der Klinik. Einerseits haben wir von ihr eine durchaus glaubwürdige Aussage, und zweitens hat dies auch die forensische Pathologie bestätigt. Die genetische Untersuchung weist tatsächlich keine Übereinstimmung des Kindes mit Frau von Hälfenberg auf“, ergänzte Marina.

„Okay“, gab sich Ramseier zufrieden.

„Das Kind starb an Diphtherie“, fuhr Alexander fort.

„Ein Fremdverschulden kann einwandfrei ausgeschlossen werden. Judith von Hälfenberg kann

also aus strafrechtlicher Sicht nicht angeklagt und weiterhin nicht mehr festgehalten werden.“

„Wir müssen sie also auf freien Fuß setzen?“, erkundigte sich der Kollege Hürzeler.

„Nein, nicht unbedingt. So einfach ist das Ganze nicht“, intervenierte Marina.

„Das scheint mir auch so“, schloss sich Ramseier an.

„Einerseits ist die Identität des Kindes noch nicht einwandfrei geklärt. Wer ist seine Mutter und vor allem, wo ist sie? Die Frage ist noch offen. Andererseits haben wir noch den Verdacht des zweifachen Diebstahls von Kleidern in Hüttwilen. Hierzu liegt eine Anzeige gegen Unbekannt vor. Meines Wissens hat Alexander die Kleidung im Besitz von Frau von Hälfenberg wieder erkannt. Ist das korrekt?“, stellte Ramseier die Frage in den Raum.

„Gemäß seiner Aussage ist das so. Die Kleidung ist aber verschwunden. Es könnte sich auch um einen Zufall handeln. Ähnliche Kleider sind nicht selten. Der Diebstahl bleibt ein Verdacht und kann daher eigentlich nicht gegen sie verwendet werden“, berichtigte Marina. „Im Weiteren haben wir noch den vermeintlichen Diebstahl von Eiern und Petersilie beim Siedlerhof in der Nähe der Ruine Hälfenberg. Es liegt aber keine Anzeige der Bauersleute vor. Fazit jegliche Beweise gegen Judith von Hälfenberg fehlen“, fuhr Marina fort und überreichte Alexander mit einer freundlichen Geste das Wort.

„Danke Marina. Von Hälfenberg ist gegenwärtig in der Klinik Münsterlingen auf der geschlossenen Abteilung, bzw. in der forensischen Psychiatrie. Ihre Herkunft bzw. ihre Identität ist noch immer nicht einwandfrei geklärt. Also genau genommen haben wir nur ihren Namen. Sie ist auch nirgends als vermisst gemeldet. Das macht die Sache schwieriger. Den Namen der Mutter des Kindes hat sie uns mit Agnes Kantengiesser genannt. Wir konnten jedoch bis jetzt so gut wie nichts über diese Person in Erfahrung bringen. Eine Agnes Kantengiesser existiert nicht in der Schweiz.“

„Offensichtlich handelt es sich aber um eine Freundin“, schob Marina eine kurze Erklärung nach.

„... genau, wie Marina sagt, ließ sich das zumindest aus ihrer Aussage ableiten.“

„Okay. Die Sache mit dem Kind und ihrer vermeintlichen Mutterschaft ist offensichtlich halbwegs geklärt. Dann bleibt dran, diese Kantengiesser zu finden. Von mir aus mit Interpol. Was sagen die Ärzte in Münsterlingen in ihrem Bericht?“, fuhr Kommandant Ramseier fort.

„Ja, das ist auch nicht so einfach“, sagte Alexander und rutschte auf seinem Stuhl hin und her.

„Die ersten Untersuchungen weisen zwar auf eine gewisse Verwirrung hin. Laut dem heute Morgen eingetroffenen Bericht kann aber nicht einwandfrei eine psychische Störung in diesem Sinne diagnostiziert werden.“

„Habt ihr schon mit ihr gesprochen? Was macht sie auf euch für einen Eindruck?“

„Ja, haben wir, Chef. Ehrlich gesagt, war es eine sehr angenehme Begegnung. Sie macht einen vernünftigen Eindruck. Zugegeben etwas außergewöhnlich, aber nicht ‚verrückt‘. Ich würde sie nicht als Psychopatin bezeichnen.“

„... und sie hat sogar von seinen schönen Augen geschwärmt“, scherzte Marina, womit sie ein auflockerndes Gelächter erntete.

„Unser eigentliches Problem liegt aber ganz woanders“, fuhr Alexander fort und versuchte das Raunen in der Runde zu übertönen.

„Was die ganze Sache so außergewöhnlich macht, ist die Tatsache, dass zwei unabhängige Untersuchungen und Gutachten einwandfrei festgestellt haben, dass das Gewebe ihrer Kleidung und die des Säuglings rund 500 Jahre alt seien.“ Ein ungläubiges Raunen folgte auf Alexanders Aussage.

„Machst du Witze, oder sind wir jetzt bei den X-Akten?“, sagte Hürzeler und lachte.

„Lies die Berichte“, drückte ihm Alexander aufgebracht die Papiere in die Hand.

„Okay, lasst das. Fassen wir zusammen. Es gibt also juristisch betrachtet keinen begründeten Anlass, Frau von Hälfenberg weiterhin festzuhalten. Der vermeintliche Diebstahl der Kleider ist kein Grund für eine längere Untersuchungshaft“, fasste Ramseier zusammen.

„Juristisch betrachtet vielleicht nicht, aber was ist mit den forensischen Untersuchungen und den C14-Ergebnissen?“, warf Hürzeler erneut ein.

„Du selber hast die C14-Untersuchung eingeleitet, Chef. Warum gehst Du nicht auf das Ergebnis ein. Es steht allemal im Raum.“

„Das ist mir durchaus bewusst.“ Ramseier legte seine Notizen beiseite.

„Es ist zweifellos eine interessante Geschichte, Hürzeler. Das Ergebnis hat mich selber konsterniert. Das muss ich zugeben. Erkläre mir aber bitte, wie ich der Presse klar machen soll, dass wir eine 500-jährige junge Frau in Gewahrsam halten?“, argumentierte Ramseier sichtlich ratlos.

„Ehrlich gesagt glaube ich nicht an Gespenster und die C14-Methode - bei allem Respekt, aber ich muss mich an juristische Fakten halten oder hat jemand Vorschläge.“ Ramseier blickte in die Runde.

„Was sagt denn unser Jurist Baumgartner“, durchbrach Marina das konsternierte Schweigen.

„Also die Sache mit der C14 Altersbestimmung kann ich nicht beurteilen“, trat Baumgartner etwas verlegen aus dem Hintergrund und strich über die Krawatte.

„Das ist ein Fall für die Wissenschaft und sicherlich nicht uninteressant“, er runzelte nachdenklich die Stirn.

„Aber bitte nicht wieder in einem so trockenen Juristenjargon“, scherzte Marina.

„Ich versuch‘s mal.“ Er lachte und blickte nachdenklich auf die Akten.

„Es gibt meinerseits durchaus gute Gründe, den Fall noch etwas näher zu betrachten. Die C14-Geschichte ist nicht zu verleugnen. Die Identität des Kindes und der leiblichen Mutter sind noch nicht einwandfrei geklärt. Ebenso die von Judith von Hälfenberg selbst. Es gibt keinen Beweis über die Richtigkeit ihrer Angaben“, fuhr er fort.

„Untersuchungshaft in diesem Sinne scheint mir in ihrem Fall unangemessen. Daher sehe ich nur die Möglichkeit eines FU.“

„Das heißt konkret?“, intervenierte Marina.

„Gemäß ZGB, Art. 397a ff. ist in ihrem Fall die fürsorgliche Unterbringung, also ehemals FFE, angebracht. Die Voraussetzung für eine solche Einweisung ist nach dem Gesetz eine Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunksucht, andere Suchterkrankung oder schwere Verwahrlosung, wenn der Person die nötige persönliche Fürsorge nicht anders erwiesen werden kann und sie somit in einer geeigneten Anstalt untergebracht oder zurückbehalten werden sollte. Ich sehe nur diese Möglichkeit, wenn wir den Fall noch nicht abschließen wollen“, legte Baumgartner dar.

„Das sieht nicht gut aus für sie“, sagte Marina und warf ihrem Kollegen Alexander einen mitfühlenden Blick zu.

„Okay, dann lassen wir die Akte Judith von Hälfenberg noch offen“, beschloss Ramseier nach kurzem Schweigen.

„Ich werde die Staatsanwaltschaft informieren, beim Zwangsmaßnahmegericht den entsprechenden Antrag für den FU zu stellen. Alexander und Marina, könnt ihr an dem Fall dranbleiben, bis die Diebstahlgeschichte und ihre Identität eindeutig geklärt sind“, richtete er die Anweisung an die beiden.

„Klar“, antwortete Alexander.

„Sicher“, bestätigte ihm Marina.

„Kümmerst du dich um die Veröffentlichung des Polizeifotos, Hürzeler, inkl. Fernsehfahndung und Internet. Wer kennt diese Frau, das Übliche, die KAPO bittet um Ihre Mithilfe, wie immer.“

„Wird sofort erledigt, Chef.“

„Dann wieder alle an die Arbeit - Danke.“

„Also Alexander, wo fangen wir an?“

„Wenn ich das wüsste.“

„Aber ich habe mal die Datenbank durchforstet. In der gesamten Schweiz existieren keine Personen mit dem Namen von Hälfenberg. Es ist lediglich Hälfenberger vorhanden. Eine Judith von Hälfenberg ist überhaupt nicht aufgeführt.“ Interessiert und staunend trat Marina zu ihm an den Bildschirm.

„Warum fahren wir nicht nach Münsterlingen und verhören sie nochmal? Vielleicht haben wir jetzt mehr Erfolg Oder wir haben etwas interessantes übersehen“, schlug Marina vor.

„Das ist sicher naheliegend. Ehrlich gesagt, habe ich noch eine andere Idee, die uns vielleicht etwas weiterbringen könnte“, er kratzte sich nachdenklich am Kinn.

„Was meinst du damit?“

„Halte mich jetzt nicht gleich für durchgeknallt, Marina. Die X-Akte-Bemerkung von Hürzeler hat mich aber irgendwie zum Nachdenken gebracht. Wir suchen immer nach einer für uns logischen Lösung per Handbuch. Warum aber das Unvorstellbare nicht einmal genauer betrachten. Die C14-Ergebnisse sind nicht von der Hand zu weisen. Aber was zum Teufel bedeuten sie? Mir scheint, sie werden von uns allen bisher einfach ausgeblendet.“

„Jetzt bin ich aber echt gespannt.“

„Okay. Dann lass uns mal schnell was googeln.“

„Was suchst du denn ganz konkret, Alexander?

„Einerseits geht mir der Name Agnes Kantengiesser nicht mehr aus dem Kopf. Auch diesbezüglich geben weder unsere Datenbanken noch Interpol etwas her.“

„Was sagt das Internet?“

„Eben, hier wird es interessant. Eine Agnes Kantengiesser war Priorin im Kloster Kalchrain so um 1528 bis 1540 oder so. Mehr ist aber auch nicht zu erfahren.“

„Verblüffend, ja. Eine Namensgenossin vor 500 Jahren – warum nicht? Vielleicht ist Frau von Hälfenberg eine Historikerin und einfach nur ein bisschen durchgeknallt? Du hast ja Hell gehört. FAS, oder wie hat er das Syndrom genannt“, kommentierte Marina nüchtern.

„Klar, mit einem 500-jährigen Kleid aus dem Museum. Die Lebenszeit dieser Agnes liegt aber ebenfalls rund 500 Jahre zurück. Das kann doch kein Zufall sein“, grübelte Alexander weiter.

„Vielleicht existieren noch weitere Schriften aus dieser Zeit in der Kartause. Dort befand sich doch sicherlich eine Bibliothek?“, schlug Marina vor.

„Okay. Na hier - wer sagt‘s denn. Das ist genau, wonach ich suche“, Alexander las den Eintrag vor:

'Nach der Aufhebung der Thurgauer Klöster 1848 gelangte eine große Anzahl Bücher aus den Klosterbibliotheken von Ittingen, Fischingen und Kreuzlingen in die Kantonsbibliothek. Über zehntausend Bücher erweiterten die Bestände der noch jungen Institution, darunter auch zahlreiche „Inkunabeln“ oder auch „Wiegendrucke“. Unter diesem Fachbegriff versteht man Erzeugnisse des frühen Buchdrucks. Um 1450 hatte Johannes Gutenberg in Mainz ein revolutionäres Verfahren mit beweglichen Lettern für den Druck von Büchern entwickelt. Schnell übernahmen andere Drucker diese Technik und es entstand eine Vielfalt verschiedener Druckwerke von der reich illustrierten Bilderchronik bis zum Pamphlet. Die Kantonsbibliothek Thurgau hütet einen der wichtigsten Bestände an Inkunabeln in der Schweiz. Über 600 Inkunabeln sind nach der Auflösung der Klöster in die Bibliothek gelangt. Die Inhalte der ausgewählten Bücher geben zudem einen Einblick in die verschiedenen Wissensgebiete in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts: Gegliedert in mehrere Ausstellungsbereiche werden theologische Schriften, Grammatiken und Bücher zur Rhetorik, literarische Texte von antiken und humanistischen Autoren, medizinische und naturwissenschaftliche Schriften sowie Chroniken und Reisebeschreibungen vorgestellt. Die gezeigten Werke skizzieren so die Denkhorizonte der Menschen an der Wende zwischen Mittelalter und früher Neuzeit. Viele der ausgestellten Bücher stammen aus der ehemaligen Bibliothek der Kartause Ittingen. Das Ittinger Museum bildet daher einen idealen Rahmen für diese Ausstellung, in der eine Medienrevolution nachvollziehbar gemacht wird.'

„Hast du Lust auf einen Besuch in die Kantonsbibliothek?“

„Kleiner Betriebsausflug - warum nicht“, schwärmte Marina.

„Okay – ich werde uns noch schnell in der Bibliothek anmelden. Bin gleich wieder zurück.“ Kurze Zeit später stand er wieder euphorisch im Büro und setzte sich an seinen Schreibtisch.

„Alles erledigt. 13.00 Uhr werden wir erwartet. - Was sagen eigentlich die Zeugenberichte aus der Kartause, Marina? Wurde Frau Hälfenberg tatsächlich von keinem einzigen Menschen gesehen, bevor sie im Priorat erschien? Ich denke, sie muss doch irgendwie in die Anlage gekommen sein“, sagte Alexander und sah aus dem Fenster über den Marktplatz.

„Abgesehen von der Sekretärin aus der Kartause und von Peter Lüscher, der sie gefunden hat, gibt es keine. Die Befragungen blieben erfolglos. Sie ist niemandem aufgefallen, und das, obschon sie in dieser auffälligen Kleidung unterwegs war.“

„Wer hat die Zeugenbefragung gemacht? Hast du die Unterlagen?“, er drehte seinen Bürostuhl in den Raum. Schweigend überreichte ihm Marina das Dossier.

„Tatsächlich. Offensichtlich hat sie an dem Tag niemand gesehen“, sagte er und blätterte er in den Papieren.

„Verstehe ich auch nicht ganz. Eine Frau wie die von Hälfenberg und dazu noch in Mittelalterkleidung mit einem Kind in einem kleinen Bündel fällt doch unweigerlich auf“, erwiderte Marina.

„Vielleicht eben nicht in der Umgebung der Kartause. Die Menschen glaubten vielleicht an einen Anlass.“

„Könnte schon sein, aber vielleicht hatte sie sich erst innerhalb der Kartause umgezogen. Das fällt nicht auf in der Museumstoilette. Es fragt sich dann aber, zu welchem Zweck?“, warf Marina nachdenklich ein.

„Hast du den Wagenschlüssel? Ich glaube, wir haben vor dem Bibliotheksbesuch in der Kartause etwas nachzuholen.“

„Du fährst Marina, wenn schon, dann möchte ich diesmal die Umgebung genießen“, sagte er und grinste sie an.

Primula Veris

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