Читать книгу Primula Veris - Hans-Georg Lanzendorfer - Страница 8
Kapitel 6
ОглавлениеLaute Stimmen in den Korridoren und das ferne Knallen von schweren Türen raubten Judith den Schlaf. Ruhelos wälzte sie sich hin und her. Fürchterliche Angst, aber auch Neugier, Wissensdrang und ein brennendes Heimweh kämpften in ihren Gedanken um die Oberhand. Die weiche Decke lag schwer auf ihrem Körper und das Kissen war ihr ungewohnt. Ebenso die fremden und unbekannten Gegenstände im Raum. Einzig die roten Rosen auf dem Tisch vermochten ihr ein Gefühl der Geborgenheit und der Zuversicht zu geben. Ein kleines Lämpchen erhellte die Finsternis und ließ seinen schwachen Schein auf die edlen und duftenden Blumen fallen. Mit einem leisen Rascheln löste sich ein einzelnes Blatt und glitt entlang der glänzenden Vase zu Boden. Helle Lichtblitze drangen plötzlich durch die Nacht ins Zimmer und ließen Schattenbilder an den Wänden tanzen. Grollender Donner folgte. Die Sorge um ihre Mutter schmerzte und immerfort sah sie das Antlitz ihrer Liebsten vor Augen. Was mag geschehen sein mit ihrer jüngeren Schwester, wo war ihr Vater?
„Meine liebste Agnes, verzeih mir mein untröstliches Versagen. Ich war nicht fähig, das Kindelein der Rachenbräune zu entreißen. Sie haben mir das kleine Geschöpf geraubt“, flüsterte Judith leise und starrte traurig an die dunkle Zimmerdecke. Der flehende Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter Katharina war Judith in jeder ihrer Erinnerungen gegenwärtig. Stets war diese in Sorge um das Wohl ihrer wissbegierigen Tochter. Bereits mehrmals waren Onkel und Tanten, Geschwister, Nichten und Cousins von der Inquisition gefoltert und getötet worden. Reformation und Kirchenkritik waren seit Generationen in ihrer Familie weit verbreitet. Es war daher nur verständlich, dass Katharina ihre Tochter mit Argusaugen vor der Inquisition und deren Schergen zu verbergen suchte.
'Was ist mit Vater geschehen? Wurde er bei den Unruhen verletzt? Was ist aus der Bibliothek geworden?' Fragen über Fragen, die Judith unaufhörlich quälten. An Schlaf war nicht zu denken in dieser fremden Welt.
'Es muss mir möglich sein, von hier zu fliehen. Die Zeit drängt und meine Liebsten sind so fern', grübelte sie. Sie schlug die Decke zurück und schlich sich leichten Schrittes zu der Zimmertür. Vorsichtig legte sie das Ohr daran und drückte die Klinke. Nichts bewegte sich, sie war eingeschlossen. Die Fenster waren verschlossen und keine Griffe, mit denen man sie hätte öffnen können, waren vorhanden. An eine Flucht aus dem Fenster war zudem aus dieser Höhe nicht zu denken. Tränen des Sehnens nach ihrem Zuhause liefen über ihre Wangen. Dem Schicksal ergeben und die verschlossene Tür im Rücken, eilte sie durch den dunklen Raum zum großen Fenster. Verzweifelt legte sie ihre Hände auf die Scheibe. Ferne Lichter tanzten über den See.
'Verzweifle nicht, Judith, sei dir selbst die beste Freundin. Sei stark und mach deiner Mutter alle Ehre. Du wirst sie bald schon wiedersehen', versuchte sie sich selbst zu trösten und wischte sich die Tränen aus den Augen.
Die Gewitterwolken hatten sich verzogen. Der Mond stand hell am Himmel zwischen Wolkenschlieren und ließ sein Licht auf den Wellen des Wassers tanzen. Das Glas spiegelte vor dem dunklen Hintergrund ihr Gesicht.
'Du musst stark bleiben, Judith. Nutze die Kraft deiner Gedanken, wie es dich dein Vater lehrte', begann sie mit ihrem eigenen Spiegelbild zu sprechen. Erleichtert fühlte sie, wie die Zuversicht, die Gewissheit und das Vertrauen allmählich wieder in ihr Bewusstsein stiegen. Mit dem Gefühl der Ruhe und der Gelassenheit legte sie sich zurück auf das große Bett und schloss die Augen.
„Judith, Judith, Wo bist du? Du hast Besuch“, hörte sie ihre Mutter Katharina über den Hof rufen. Das gemächliche Klappern von Pferdehufen begleitete ihre freundliche Stimme. Singend hüpfte die kleine Schwester Clara neben ihr her. Aufgeregt äugte Judith durch die Ritzen der Bretterwand nach draußen. Freudig überrascht, ließ sie ihre Arbeit fallen und eilte aus dem Hühnerstall, der unerwarteten und in einer schwarz-weißen Robe gekleideten Besucherin entgegen.
„Seid gegrüßt, holde Agnes. Seid willkommen! Das macht mich so wohlgemut, dass Ihr uns so überraschend besuchet.“ Aufgescheucht flatterten die gackernden Hühner davon und die Ziegen im Stall begannen zu meckern. Mit einem flinken Sprung vom Rücken des Pferdes stand die junge Nonne auf dem Boden.
„Habet Ihr endlich etwas Zeit gefunden. Ihr wart lange nicht mehr zugegen an unserem Hof.“ Die beiden jungen Frauen umarmten sich herzlich. „Wie ist es Euch ergangen? Das ist wirklich eine große Freude, meine Liebe“, war Judith außer sich und übergab ihrer Mutter den Korb mit frisch gelegten Eiern.
„Habt Ihr es tatsächlich geschafft, Kalchrain für eine Weile alleine zu lassen“, staunte diese und ergriff vorsichtig den Korb. „Kommet in die Küche. Ihr habet doch sicherlich Durst und Hunger“, bat Katharina die beiden Freundinnen ins Haus, während die Nonne ihr schnaubendes Pferd zum Brunnen führte.
„Du bist aber schon mächtig gewachsen, liebe Clara.“ Die Nonne strich der kleinen Schwester über die Haare, die umgehend zu dem Pferd eilte.
„Ich möchte Euch nicht lange zur Last fallen, meine Lieben“, entschuldigte sich die Zisterzienserin.
„Die Arbeit im Kloster wartet und wird nicht wenig. Leider bleibt mir nur wenig Zeit. Es ist mir jedoch ein dringendes Anliegen, mit Euch zu sprechen, meine liebste Judith.“ Sie legte ihrer Freundin die Hand auf die Schulter und blickte ihr tief in die Augen.
„Dann werde ich Euch beide jetzt alleine lassen. Es wartet noch viel an Arbeit“, verstand Katharina feinfühlig das Anliegen der jungen Frauen, zog sich höflich zurück und verabschiedete sich von der Nonne. „Vielleicht sehen wir uns noch, bevor Ihr wieder zurück ins Kloster reitet, liebste Agnes.“ Sie reichte der Nonne die Hand.
„Das wäre schön“, sagte diese freundlich und lächelte.
„Wollen wir ins Haus gehen?“
„Nein, liebe Judith. Habet Dank. Es ist für einmal wohlgefällig, nicht vom hohen Gemäuer in Kalchrain eingeenget zu sein“, Agnes blickte erleichtert in den Himmel.
„Lasset uns lieber ein paar Schritte an die Gestade zum See wandern, wo wir ungestört konversieren können, meine Liebste.“
„Ja gerne, Agnes, lasset mich nur kurz meiner Mutter berichten.“ Sie eilte zum Haus. Schnell war sie wieder zurückgekehrt.
„Es ist wirklich schön auf Eurem Gehöft, liebe Judith. Die Bäume, euer Garten, die Blumen, die Wiesen und das Vieh. Es kommen wundervolle Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit.“ Sie nahm ihre Freundin liebevoll in den Arm und schlenderte mit ihr langsam zum See hinunter.
„Berichte mir, werte Judith. Wie gedeihen die Pläne Eures Vaters, den alten Burgstall Hälfenberg zu erwerben?“
„Ach, die Ruine ist seit anno 1492 noch immer im Besitz der Familie Hohenlandenberg. Sie steht leider nicht zum Verkauf.“
„Das ist schade. Zumal sie sich ja eigentlich vor vielen Generationen bereits in Eurem Familienbesitz befand.“
„Blicket sie Euch an, werte Agnes. Die Ruine ist nur noch ihrem Zerfall überlassen.“ Die beiden blieben auf ihrem Weg zum See und unweit des alten Gemäuers stehen.
„Das ist lange her seit jener Zeit. Bereits mein Urgroßvater bemühte sich schon um ihren Erwerb. Damals war die Herrschaft Hälfenberg noch ein Lehen der Abtei St. Gallen und im Besitze der Ritter von Schwandegg. Leider ging sie nicht an unsere Ahnen, sondern an Hans von Münchwil, dessen Gattin, Verena von Sehen, von Niklaus von Schwandegg abstammte“, ging Judith ausführlich auf die Frage ihrer Freundin ein.
„Aber Ihr kennet ja diese Geschichte. Nach einem heftigen Besitzstreit mit Wölfli von Schwandegg kam es zu einem Schiedspruch des Winterthurer Schultheissen Hans Sal. Die Familie von Münchwil behielt den Burgstall und die umliegenden Ländereien, bis diese in den Besitz der von Hohenlandenberg gelangten“, erläuterte Judith ihre Familiengeschichte.
„Vielleicht wird sich für Euren Vater die passende Gelegenheit noch bieten, liebe Judith.“ Die beiden gingen weiter. Ein helles Rauschen des Windes in den Kronen der Birken durchbrach die Stille. Das Gezwitscher der Amseln begleitete ihre Unterhaltung.
„Was ist der eigentliche Grund eures Besuches, werte Agnes? Ich fühle, dass euch etwas auf dem Herzen lieget. Was bedrücket euch, liebste Freundin? Ihr würdet niemals so überraschend erscheinen, wie ich euch kenne.“ Sie strich ihrer Freundin zärtlich über das Gesicht.
„Ihr seid noch immer sehr einfühlsam, liebe Judith. Es wäre nicht einfach, euch etwas zu tragieren“, die Nonne lächelte und blickte zu Boden. Der Klang ihrer Stimme wurde hörbar besorgter. „Ihr wisset, mein Glaube war mir immer höchste Treu und Ehr, liebste Judith.“ Die Nonne ergriff ihren Arm.
„Daran bestünden niemals irgendwelche Zweifel, liebste Freundin.“
„Ihr seid sicherlich im Bilde darüber, dass in Stammheim und in Nussbaumen die Reformation des Glaubens um sich greift. Die Menschen erheben sich gegen unsere heilige katholische Kirche und gegen die Allmächtigkeit des Papstes. Unser Kloster ist dadurch ebenfalls bedroht. Vielleicht werden die Zisterzienserinnen diese Region bald verlassen müssen, wenn unsere Gemeinschaft zerfällt“, erklärte sie mit trauriger Stimme.
„Das klingt nicht gut. Es ist schön, Euch wohlauf in meiner Nähe zu wissen. Auch wenn unsere Welten so weit auseinanderliegen.“
„Es ist mir durchaus bewusst, dass euch unsere Kirche nie sonderlich nahe stand. Ihr habet stets eure eigenen Wege beschritten, werte Judith.“
„Die religiösen Verflechtungen der Kirche und Nobilisten sind mir nach wie vor sehr fremd, liebe Agnes. Ihr wisst, dass mir beides nicht sonderlich beliebt. Sie bringen den Menschen Kriege, Unfrieden und Gewalt. Ihr wisset auch, wie sehr die Sippschaft und die Ahnen meiner Mutter seit Generationen unter der Inquisition gelitten habet.“
„Dessen bin ich mir durchaus gewahr, Judith. Lasset es mich euch kurz erklären. Vielleicht werden Euch eines Tages die Augen für die Zusammenhänge geöffnet, so Ihr gewisse Geschehen besser zu verstehen möget“, bat sie Judith mit eindrücklicher Stimme. Vorsichtig stiegen sie über die am Boden liegenden Stämme und durch das Unterholz in der Ufernähe des Steineggersees.
„So, hier sind wir ungestört, Agnes, lassen wir uns auf diesem Baumstrunk nieder. Also, werte Agnes, dann berichtet mir die Zusammenhänge“, Judith wartete gespannt darauf, was ihr die Freundin zu sagen hatte.
„Die Furcht vor den Landvögten verzögert die Reformation im Thurgau“, begann diese mit ihren Erklärungen und ließ ihre Blicke über das Wasser schweifen.
„Sie wird sie aber nicht aufhalten können. Stammheim und Nussbaumen haben sich zu den Zentren der Reformation entwickelt. Protestantische Schutz- und Trutzgemeinschaften dringen gegenwärtig in katholische Kirchen ein. Sie zerstören Heiligenbilder, Statuen und Glasfenster. Lehrer hetzen ihre Schüler auf, die Heiligenbilder mit Steinen zu bewerfen. Gebet auf Euch acht, liebe Freundin, denn bereits hat auch die Kartause Ittingen am 28. des dritten Monats anno 1523 an die Tagsatzung eine Bitte um Schutz erlassen. Es könnte eines Tages auch für Euren Vater gefährlich werden in der Kartause.“
„Meine liebste Agnes. Ihr wisset, dass ich in diesen Belangen meine eigenen Ansichten pflege und dass ich mich noch niemals auf die Aussagen und falsche Laudatio der Füchse verlassen habe. Ihr kennet meinen Vater seit Eurer frühesten Kindheit. Er wird sich sehr gut zu wehren wissen“, erwiderte
Judith.
„Daher freuet es mich auch sehr“, entgegnete ihr die Nonne, „dass wir dennoch gute Freundinnen bleiben konnten, obschon Ihr Euch von unserer Kirche entfremdet habet und Eure eigenen Wege gegangen seid.“
„Werte Agnes. Politik und Religion waren noch niemals wirklich ein Steckenpferd zwischen uns. Ihr seied doch nicht gekommen, um mit mir über diese Dinge zu konversieren. Mein Herz saget mir, dass Euch etwas Belastendes auf dem Herzen lieget“, sie strich sanft über Agnes Hände.
„Was ist der wahrliche Grund Eures Besuches an einem solch außergewöhnlichen Tag?“
„Ihr habet recht, liebe Freundin“, die junge Nonne blickte verlegen zu Boden.
„Es sind mitnichten die Veränderungen des Glaubens und der Kirche, die mir Sorgen bereiten, sondern jene in mir selber.“ Eine hörbare Verzweiflung in ihre Stimme war zu vernehmen und ihr Atem veränderte sich.
„Was ist geschehen, liebe Agnes? Ihr wisset, dass Ihr mir alles anvertrauen könnet“, Judith legte ihr fürsorglich die Hand auf die Schulter. Beschämt griff die Nonne danach und legte sich diese auf ihren Bauch.
„Ihr meinet ...?“ Judith erschrak.
„Ich bin in größter Not, meine liebste Freundin. Ihr seid meine einzige Hilfe!“ Sie blickte Judith mit flehenden Augen an.
„Ihr traget ein Kindelein unter Eurem Herzen? Wie ist das zu begreifen? Ihr habet der fleischlichen Liebe mit einem Gelübde entsaget!“, reagierte Judith sichtlich konsterniert.
„Eure Entgegnung ist verständlich. Ich gab ein heiliges Versprechen der Ehelosigkeit, liebste Freundin“, sie senkte ihren Blick und schlug sich die Hände vor das Gesicht.
„Es ist kein Kindelein der Liebe“, sie umarmte Judith mit dem festen Griff der Verzweiflung.
„Er nahm mich mit Gewalt und mit gebundenen Händen. Das Kindelein ist ein Bankert. Meine Schreie verhallten im Gemäuer der Kartause. Stellet Euch vor, Judith. Ein Mann des Glaubens hat mich geschändet“, erzählte sie unter Tränen.
„Wer hat Euch das angetan?“
„Bitte fraget mich nicht, liebste Freundin. Ihr würdet in große Gefahr geraten, wenn Ihr seinen Namen wüsstet. Er ist zu allem fähig. Er ist ein Mann der Sünde, doch man fürchtet sich vor ihm.“
„Ist es Bruder Konrad?“ Sie blickte ihre Freundin fragend an. Erschrocken fuhr diese hoch.
„Woher ...“, stotterte Agnes sichtlich bestürzt.
„Er ist gefährlich – bitte schweiget darüber. Das müsst Ihr mir versprechen.“ Sie ergriff flehend ihre
Hand.
„Ihr seid nicht die einzige Maiden, welcher in der Kartause ein körperliches Leid zugefüget wurde. Bruder Konrad wurde mir in diesem Belang schon mehrmals genannt. Seine Sündhaftigkeit ist mir bereits viele male zugetragen worden. Er habet auch mich selbst des Öfteren bedränget, wenn ich meinen Vater in der Buchbinderei der Kartause besuchete.“
„Ihr müsset mir versprechen, dies Geheimnis zeitlebens bei Euch zu bewahren, meine liebste Freundin. Ihr seiet ansonsten Eures Lebens nicht mehr sicher. Es wäre mir ein großes Leid, wenn Euch irgendetwas geschehete“, wurde sie von der Nonne eingehend gebeten.
„Prior Thaler scheinet mir ein durchaus rechtschaffener Mann zu sein. Warum vertrauet Ihr Euch ihm nicht an?“
„Euer Mitgefühl ehret Euch, Judith. Hinter den klösterlichen Mauern wird jedoch nicht nur die Lehre Gottes studieret. Auch der Teufel hat seine Zellen, glaubet mir bitte.“
„Aber Ihr müsset Euch wehren, Agnes. Ihr seid eine Botin der göttlichen Nächstenliebe.“
„Ihr seid so unbedarft und voller Unschuld, liebe Judith. Bedenket, wir sind Weiber. Seit der Dominikaner Henricus Institoris im Jahre des Herrn anno 1486 sein Verfolgungswerk Malleus Maleficarum veröffentlichte, sind auch wir Ordensschwestern und Nonnen nicht mehr sicher vor der Inquisition. Ein Weib würde der Verleumdung gegen einen Mann Gottes angeklagt, gefoltert oder lebend eingemauert werden.“
„Ihr erschrecket mich, Agnes. Es ist erschütternd, solches aus Eurem Munde zu vernehmen. Es kann doch nicht sein. Ist denn Euer Glaube nicht auf dem Grund der christlichen Nächstenliebe aufgebauet?“
„Der katholische Glaube ist eine Institution der Männer, liebe Judith. Bereits vor 300 Jahren lehrete Thomas von Aquin, das Weib sei ein Missgriff der Natur. Mit ihrem Feuchtigkeitsüberschuss und ihrer Untertemperatur sei sie körperlich und geistig minderwertiger.“
„Seine Lehre ist mir durchaus bewusst. Vater hat mich eingehend in dieser Lehre der Verachtung des Weibes und der Frouwen unterwiesen. Ich solle mich zeitlebens vor ihren Auswüchsen zu schützen lernen.“
„Euer Vater ist ein weiser Mann. Ihr wisset, auch er ist einigen kirchlichen Würdenträgern ein Dorn im Auge. Man bezichtigt ihn mit der Reformation und gar den Atheisten zu sympathisieren.“
„Ihr verstehet daher wohl meine Abneigung gegen die Kirche und die Scheinheiligkeit der Pfaffen, liebe Agnes. Ihr werdet von mir geehret und geachtet. Es fallet mir jedoch schwer zu begreifen, dass Ihr Euch nicht gegen diese Unterdrückung zur Wehr setzet“, vermochte Judith ihre Wut gegen diese offensichtlichen Ungerechtigkeiten nicht zu verbergen.
„Lassen wir dieses Thema ruhen, liebe Agnes. Ich denke, wir sollten uns um das ungeborene Kindelein kümmern.“
„Ihr habet Recht, Judith. Aber glaubet mir. Er war mir mit seinen Kräften überlegen. Ich vermochte mich nicht zu wehren. Seither schäme ich mich dafür, ein Weib zu sein.“
„Ihr zieret Euch dafür, an einem heiligen Ort Eurer Weiblichkeit entehret worden zu sein?“ Judith entsetzte sich erneut über alle Maßen.
„Es ist mir ein Gram, die biblische Sündhaftigkeit des Weibes zu verkörpern.“
„Bei aller Liebe und bei all meinem Verständnis für Euren Glauben, liebe Agnes. Es ist niemals des Rechtens, was Euch von einem Manne angetan wurde. Auch nicht für einen Geistlichen.“
„Aber selbst in der Bibel stehet doch geschrieben, die Sünde kam durch das Weib in die Welt.“
„Agnes, die Bibel ist keine Ausrede für eine solche Schändlichkeit“, erzürnte sie sich über die Scheinheiligkeit des Mönches.
„Legen wir diese üble Tat endgültig beiseite. Was könnt ich wohl für Euch verrichten, Agnes?“ Sie nahm ihre Freundin in den Arm.
„Verzeihet mir bitte meinen Zorn. Sag an, was ich für Euch verrichten kann.“
„Mir fehlen jegliche Worte, meine Bitte an Euch anzutragen, werte Judith. Niemand darf jemals von diesem Kindelein erfahren. Zeitlebens würde man mich ächten.“ Schweigend und eng umschlungen saßen die beiden Frauen nachdenklich am Ufer des Steineggersees.
„Sehet nur das Reh dort drüben, Judith. Das Leben könnte so friedlich sein. Doch wir sind Menschen, und Gottes Aufgaben und Prüfungen sind manchmal fast unerträglich.“
„Wann erwartet Ihr die Niederkunft, liebste Agnes, und wie gedenket Ihr dies geheimzuhalten in Eurer Position, wo wollt ihr das Kindelein gebären?“
„Das Geschehene ist nicht mehr zu ändern, liebste Freundin. Im Heumonat will das Geschöpf geboren werden, liebste Judith. Bitte stehet mir bei in jener Stunde.“ Sie blickte ihre Freundin flehend an. „Könntet Ihr ihm eine liebende und gute Mutter sein?“, flehte die sichtlich verzweifelte Äbtissin. Auf diese Frage war Judith nicht vorbereitet. Von einem auf den anderen Moment sollte sie Mutter eines Kindes werden. Niemals zuvor war sie in der Situation, sich darüber ihre Gedanken zu machen. Eine Heirat kam für sie in absehbarer Zeit nicht infrage, auch wenn sich immer wieder starke Männer um ihre Gunst bemühten. Niemals wollte sie sich von Kirche, Staat oder dem Glauben in die mütterliche Rolle oder in Traditionen zwingen lassen.
„Ihr fordert von mir schier Unerträgliches. Das ist eine große Verantwortung, werte Agnes. Wie soll ich Euer Anliegen meiner Mutter und meinem Vater erklären?“, quittierte sie ratlos die Frage.
„Euer Vater ist ein guter und weiser Mann, und auch Eure Mutter weiß ein Geheimnis zu wahren – bitte helft mir“, bat sie verzweifelt.