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Kapitel 1

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Primula Veris

Die Kartause Ittingen, Ruine Hälfenberg

und das Seebachtal im Mittelpunkt

einer mystischen Kriminalgeschichte

Hans-Georg Lanzendorfer

2. Auflage 2018

Hüttwilen - Am Freitagvormittag (16.05.2014), in der Zeit zwischen 10.00 Uhr und 12.00 Uhr, sind von einem Areal an der „Hauptstraße“ mehrere Kleidungsstücke gestohlen worden. Die Bekleidung hing zum Trocknen über der Wäscheleine und wurde von einer unbekannten Täterschaft entwendet. Bereits am 27.04.2014 kam es auf dem Grundstück zu einem gleichgelagerten Fall. Sachdienliche Hinweise sind bitte an die Polizeistelle in Frauenfeld zu richten.

„Bitte bezahlen“, sagte der Gast, legte mit einem verschmitzten Lächeln über die witzige Meldung die Zeitung auf den Tisch, schob die Tasse etwas beiseite und griff nach dem Portemonnaie in seiner abgegriffenen Sakkotasche.

„Der Rest ist für Sie“, sagte Peter Lüscher und kramte seine Sachen zusammen.

„Auf Wiedersehen und bis zu nächsten Mal.“ Er lächelte verlegen.

„Merci vielmals“, bedankte sich die junge Kellnerin und räumte mit flinken Händen das Gedeck zusammen. Von der mittäglichen Sonne verwöhnt, warf Lüscher einen flüchtigen Blick durch die Büsche und Sträucher zur Spitze der Kloster-Kirche im Zentrum der alten Kartause. Ein kleines Rinnsal plätscherte in der alten Rossschwemme, dem unteren Mühleweiher neben dem Restaurant. Ein ehemaliger Waschplatz für Arbeitspferde solle es gewesen sein, hatte er in einer Informationsschrift gelesen. Interessiert bestaunte Lüscher bei den Handwerksbetrieben gegenüber die Beschriftungen der Tafeln. Buchbindearbeiten, Restaurierungen, Einrahmungen. Gemächlich schlenderte er entlang der niederen Teichmauer über den Kiesplatz. Vorbei an abgestellten Fahrrädern. Seine Blicke suchten intensiv nach etwaigen Fischen oder Enten im Teich. Ein leises Schnattern verriet ihre Anwesenheit. Der angenehme Duft von Frühlingskräutern und der ersten Wiesenblumen begleitete seine gemütlichen Schritte, während seine Hand hektisch nach dem Autoschlüssel in seiner kleinen Tasche kramte. Ein angenehm warmer Luftzug strömte ihm durch das lichte Haar. Er war fasziniert von der Anlage, die er seit seiner frühesten Jugend kannte. Damals, als sie noch eine baufällige Ruine war. Es wäre doch keine schlechte Idee, meiner Barbara etwas für den Garten nach Hause zu bringen, dachte er, als seine Aufmerksamkeit von dem ansehnlichen Klosterladen zu seiner Linken in den Bann gezogen wurde. Pflanzensetzlinge, Küchenkräuter, Insektenhotels und allerlei Handwerksarbeiten waren einladend beim Eingang des Ladens präsentiert. Vielleicht noch einen kleinen Klosterkäse oder ein feines Fläschchen Weinbeerblut. Daran hätte sie sicherlich ihre Freude, schoss es ihm spontan durch seinen Kopf. Während er sich begeistert von seiner Idee mit der Qual der Wahl befasste, wurde die klösterliche Ruhe ganz unerwartet von Hilferufen durchbrochen. Sichtlich aufgeregt verließ eine ältere Dame eilenden Schrittes die vorgebaute Loggia des Priorats.

„Polizei, Polizei. Sie ist tot - sie ist tot.“ Aufgeschreckt eilte ihr Lüscher entgegen. Bestürzt fiel sie ihm atemlos in die Arme.

„Rufen Sie bitte die Polizei. Eine junge Frau mit einem leblosen Säugling.“ „Ich werde mich darum kümmern.“ Lüscher winkte einige Passanten aus der Nähe um Hilfe heran.

„Kümmern Sie sich bitte um die Dame.“ Er zückte sein Handy und wählte rennend und mit zitternden Fingern die Notfallnummer 112. Umgehend lief er entlang des Zaunes über das Kopfsteinpflaster zur Loggia. Mit einem kraftvollen Sprung überwand er die vier Stufen der kleinen Treppe, durchschritt aufgeregt den runden Torbogen und eilte über den gelben Mosaik-Boden zum Eingang des Gebäudes. Sein Herz raste. Selten hatte er die eigenen Schritte so laut in seinen Ohren gehört. Die mächtige Holztür war nur einen Spalt breit geöffnet. Die Klingel des Priorats verwirrte ihn. Klingeln oder einfach eintreten? Beunruhigt von der Ungewissheit, schob er den knarrenden Türflügel auf und blickte hinein. Der Raum war düster und kaum beleuchtet. Der Geruch von Papier und Büro schlug ihm entgegen. Endlich summte das Telefon an seinem Ohr. Eine junge Frau kauerte leise jammernd vor ihm am Boden.

„Kantonale Notfallzentrale Frauenfeld, Meister“, meldete sich schließlich eine erlösende Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Hören Sie, ich bin gerade beim Priorat in der Kartause Ittingen. Ich brauche dringend einen Notarzt“, japste Lüscher aufgeregt in den Hörer.

„Können Sie mir bitte Ihren Namen nennen?“

„Mein Name ist Peter Lüscher. Hören Sie bitte, hier liegt eine junge Frau mit ihrem Kind. Die beiden brauchen dringend Hilfe.“

„Können Sie mir etwas Genaueres sagen, bitte?“

„Nein, das kann ich nicht. Kommen Sie bitte so schnell wie möglich vorbei.“

„Wir sind umgehend in der Kartause. Es ist bereits ein Fahrzeug unterwegs. Bitte bleiben Sie vor Ort. Der Notfalldienst ist alarmiert.“ Erleichtert steckte Lüscher das warme Gerät in die Jackentasche. Seine Hände waren nass vor Aufregung. Vorsichtig bückte er sich zu der seufzenden Unbekannten. Die Strähnen ihrer wild zerzausten und langen Haare fielen ihr unter einer weißen, stiefmütterlichen Haube ins Gesicht. Krampfhaft klammerte sie sich an dem regungslosen Säugling fest. Er war in zerrissene graue Lumpen eingewickelt. Ihr altertümlicher Rock war kunstvoll gearbeitet, das dunkelbraune Oberteil mit eindrücklichen Verzierungen und Stickereien versehen. Sie hatte es auf der Vorderseite mit einem geflochtenen und dreifarbigen Lederriemen zusammengebunden. Das hellbraune Kleid bedeckte ihren gesamten Körper. Unweit von ihr entfernt lagen zwei abgewetzte lederne Sandalen. Ein Oberteil mit weit geschnittenen Ärmeln trug sie als Jacke oder Umhang. An einem ledernen Gürtel befand sich eine kunstvoll gearbeitete Messerscheide. Ein einfacher Dolch mit einem schlichten Holzgriff steckte darin, an dem die Backen und der Knauf aus Messing angefertigt waren.

„Kann ich Ihnen helfen?“, versuchte ihr Lüscher etwas ratlos unter die Arme zu greifen. Sie schien keine offensichtlichen Verletzungen zu haben. Schnell hatte Lüscher sie nach einer sichtbaren offenen Wunde überprüft.

„Nein“, stieß sie ihn sichtlich verwirrt beiseite und flüchtete ruhelos in eine Ecke des schummrigen Raumes. Mütterlich hielt sie das unbewegliche und ruhige Kind in ihren Armen. Zitternd blickte sie umher, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und drückte sich ängstlich gegen die kühle Wand. Warum ist sie im Gesicht so verschmutzt und warum riecht sie so stark nach Rauch, er blieb einige Schritte entfernt verwundert stehen.

„Hilfe ist unterwegs. Sie brauchen keine Angst zu haben“, versuchte er die Unbekannte zu beruhigen. Erleichtert über die näher kommenden Martinshörner, setzte sich Lüscher auf eine hölzerne Kommode. Mit stechenden Augen tastete sich die Fremde vorsichtig entlang des alten Gemäuers. Schnelle Schritte und laute Stimmen näherten sich der mächtigen Holztür.

„Hallo, hierher bitte“, rief Lüscher erleichtert.

Mit einem knarrenden Pfeifen öffnete sich die Tür und mehrere uniformierte Personen betraten den Raum. Umsichtig übernahm eine junge Polizistin mit einem blonden Pferdeschwanz das Kommando.„Sind Sie Herr Lüscher?“

„Die junge Frau braucht Ihre Hilfe“, verwies er mit einem Nicken auf die Unbekannte.

„Marina Keller, Kapo Frauenfeld“, reichte sie ihm kurz die Hand.

„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“ Umgehend waren mehrere Rettungssanitäter zur Stelle. Geschwächt kauerte die junge Frau noch immer am Boden. Ein kurzes Raunen unterbrach plötzlich die hektische Geschäftigkeit.

„Bitte verlassen Sie alle rasch den Raum“, wandte sich der Notarzt an die anwesenden Beamten, während sich die Rettungssanitäter eiligst einen Mundschutz und Gummihandschuhe überzogen.

„Der Säugling ist verstorben“, informierte der Notarzt die junge Polizistin mit gesenkter Stimme, während sich seine Assistenten um die schluchzende Unbekannte und den Zeugen Lüscher kümmerten.

„Er zeigt offensichtlich die Symptome einer seltenen Form der Haut-Diphtherie. Die Geschwüre mit blutig wässrigen Absonderungen sind ein klares Zeichen und sehr ansteckend“, fuhr der Mediziner fort. „Wir müssen den kleinen Leichnam umgehend isolieren.“

„Haben Sie den Namen der Mutter, Herr Kappeler?“

„Nein, sie gibt diesbezüglich keine Auskunft.“

„Diphtherie“, reagierte die Polizistin überrascht.

„Ist diese Krankheit nicht längst ausgerottet?“

„Was denken Sie, warum mich der Fall erstaunt. Die Krankheit ist meldepflichtig“, sagte der Arzt und wickelte den leblosen Körper bedachtsam in das zerlumpte Tuch.

„Könnte es sein, dass sie aus einer psychiatrischen Klinik entwichen ist“,

fragte die Polizistin und zog ihn diskret beiseite.

„Das ist wohl eher Ihre Aufgabe, die Herkunft zu klären, Frau Keller“, sagte der Arzt lächelnd, zog sein Telefon aus der Tasche und trat vor die offene Tür hinaus.

'Das arme Geschöpf tut mir so leid'. Marina fühlte sich vom Anblick des verstorbenen Kindes betroffen. So jung und schon dermaßen von Krankheit und Leid gezeichnet, rang sie nach Haltung. 'Raff dich zusammen, Mädchen. Das ist dein Beruf. Du wolltest doch unbedingt zur Kripo'. Sie strich sich nachdenklich durch die blonden Haare. Obschon es ihr zum Heulen war, versuchte sie eine professionelle Distanz zu wahren. Krampfhaft vermied sie jeglichen Blick auf das verstorbene Kleinkind.

„Marina, kommst du voran?“ Einer ihrer Kollegen betrat den Raum.

„Kapo Frauenfeld, Adler“, reichte er dem Zeugen Peter Lüscher die Hand, den ein Sanitäter gerade hinausbegleiten wollte.

„Würden Sie sich bitte zu unserer Verfügung halten. Wir müssten noch Ihre Personalien aufnehmen – ist das okay?“

„Selbstverständlich.“

„Danke.“

„Hast du die Personalien der Zeugin, Alexander?“

„Ja, habe ich. Sie ist Sekretärin hier in den Büros. Wir müssen sie später auf den Posten kommen lassen. Sie steht noch unter Schock.“ Er steckte seinen kleinen Notizblock in die Hosentasche. „Die Kollegen von der Spurensicherung sind hier, bist du soweit?“ Er warf seiner Kollegin einen Blick zu, legte ihr die Hand auf die Schulter und nahm sie etwas beiseite.

„Das mit dem Kind ist schlimm, Marina. Ich weiß. Da musst du durch. Ist bei dir trotzdem alles okay?“

„Wir sollten vorsichtig sein, meinte der Arzt. Komm lass uns gehen. Ist aber nett, dass du fragst. Es geht schon – danke.“ Sie gingen beiden über das gelbe Mosaik. Nichts machte Marina auch nach

Jahren mehr zu schaffen als Kinder, die vom Leid und Elend der Erwachsenen betroffen sind. Dann wurde ihr für einen kurzen Augenblick selbst der leuchtend weiße Schriftzug Polizei auf der blauen Uniform zur Last.

„Die Forensik ist informiert“, kam ihnen der Notarzt entgegen und verstaute sein Telefon. „Ich kann die genaue Todesursache des Kindes nicht eindeutig bestimmen. Die Krankheit ist nur eine Möglichkeit. Eine Fremdeinwirkung ist aber in dieser Situation nicht ausgeschlossen.“

„Gibt es Hinweise, woher sie kommt, Alexander, lebt sie vielleicht hier im Wohnheim der Kartause?“

„Die Geschäftsleitung ist dabei, das zu klären, Marina. Ich habe mich bereits darum gekümmert.“

„Vorsicht bitte!“ Die Fremde wurde von zwei Sanitäterinnen aus dem Gebäude geführt und zum Krankenwagen geleitet. Aufmerksam musterte Alexander Adler die junge Unbekannte. Nachdenklich sah er ihr im Vorbeigehen nach.

„Eigenartig“, wandte er sich sichtlich konsterniert an seine Kollegin. Nachdenklich ließ er seine Blicke über den belebten Hof der Kartause schweifen. Amseln erfreuten mit ihrem Gesang. Die frühsommerliche Sonne wärmte sein Gesicht. „Wenn ich jetzt wüsste, woher ich die Frau kenne“, er legte seine Hände auf die Umzäunung.

„Lass mich überlegen, Marina. Irgendwo habe ich das Gesicht schon mal gesehen“, konzentrierte er sich auf seine Erinnerungen.

„Genau, in ihrer mittelalterlichen Kleidung habe ich sie fast nicht erkannt. Sie sieht ziemlich verändert aus. Sie ist mir beim Joggen begegnet“, ließ Alexander seine Polizeikollegin wissen.

„Bist du dir ganz sicher, Alexander?“

„Ganz sicher, Marina. Das ist es. Ich wohne ja ganz in der Nähe, in Nussbaumen. Meine Jogging-Route geht meistens runter zur Ruine Hälfenberg und wieder zurück.“

„Wann war denn das?“

„Es ist noch nicht so lange her. An den genauen Tag erinnere ich mich ehrlich

gesagt nicht mehr.“

„Hast du dich mit ihr unterhalten oder gibt’s irgendwas Besonderes, woran du dich erinnern kannst und was uns weiterhelfen könnte?“

„Ich gehöre nicht zu denen, die gleich ins Gespräch kommen, Marina. Vorallem nicht bei Frauen. Schließlich stelle ich nicht gleich jeder nach“, verteidigte sich Alexander.

„Ja, natürlich nicht“, sie grinste. „Als Frau tut man das eben.“

„Was, nachstellen?“

„Nein, ins Gespräch kommen!“, sagte sie schmunzelnd.

„Also, die Begegnungen waren nur ganz flüchtig. Ein bisschen Smalltalk mehr nicht.“

„Hat sie dir bei diesem Smalltalk schon mal ihren Namen genannt?“, hakte Marina gespannt nach.

„Nein, das hat sie nicht. An ihrem Handgelenk ist mir aber eine außergewöhnliche Tätowierung aufgefallen. Eine Blume - eine Schlüsselblume glaube ich“, erinnerte sich Alexander.

„Das ist ja schon mal etwas!“ Marina wandte sich an die Rettungssanitäter.

„Können Sie das kurz überprüfen, bitte.“ Vorsichtig schoben diese der Unbekannten den Ärmel ihres Kleides etwas zurück.

„Tatsächlich, Alexander, du hast recht - sie trägt am rechten Handgelenk eine tätowierte Schlüsselblume.“

„Sie ist soweit stabil, Frau Keller. Wir würden sie jetzt gerne in die Klinik bringen.“

„Das ist in Ordnung, danke. – Alexander, würdest du bitte deine Aussage noch zu Protokoll geben. Vielleicht bringt uns das etwas weiter.“

„Klar, werde ich tun, wenn wir im Büro sind.“

„Okay – zurück zum Polizeiposten nach Frauenfeld. Für uns gibt es hier nichts mehr zu tun. Jetzt noch den Schreibkram erledigen.“

„Wartest du bitte noch einen Moment, Marina? Ich würde sie gerne nochmals kurz sehen. Bin gleich zurück“, bat Alexander und lief zum Krankenwagen.

„Ich würde gerne noch kurz ein paar Worte mit ihr sprechen“, bat er die Sanitäter um einen kurzen Augenblick.

„Ja - aber nur kurz bitte.“

„In welche Klinik wird sie gebracht, Herr Kappeler?“

„Nach Münsterlingen, in die forensische Abteilung.“

„Hallo“, Alexander setzte sich zu der Unbekannten. Der Geruch von Salbei und Lavendel lag in der Luft. „Was riecht hier drinnen so fein?“

„Das sind diese beiden Beutelchen. Wir haben sie in ihrer Rocktasche gefunden“, sagte eine der Sanitäterinnen und reichte ihm die Säckchen.

„Die riechen ja wirklich fein.“ Er gab der jungen Mutter freundlich seine Hand. „Erinnern Sie sich an mich?“ Schweigend musterte sie ihn und zog ihre Hand zurück.

„Wir sind uns schon einmal beim Hasensee begegnet. Sie haben Kräuter gesammelt“, versuchte er ihre Erinnerung zu erwecken. „Wie heißen Sie?“

„Sie hat ein Beruhigungsmittel erhalten, Herr Adler. Ich bin mir nicht sicher, ob sie etwas versteht.“

„Nur noch ganz kurz, Herr Kappeler.“ Ratlos und schweigend blickte er sie an. Die Mediziner hatten ihr die weiße Haube abgenommen. Eindrücklich bedeckten die langen braunen Haare ihren Oberkörper. In ihren Ohren trug sie auffallende Perlenohrringe. Vier kleine weiße Perlen lagen über einer tropfenförmigen und ebenfalls in Gold gefassten größeren Perle. Das bescheiden wirkende Kleid war mit einigen wenigen, aber sehr kunstvollen Verzierungsbändern versehen und wirkte sehr sauber und gepflegt.

„Wo ist das Kindelein, mein Herr?“, flüsterte sie mit fragenden Augen und griff nach seiner Hand.

„Sind Sie die Mutter des Säuglings?“, versuchte er Zeit zu gewinnen für eine adäquate Antwort.

„Es ist von uns gegangen, habe ich recht“, sie wandte ihr Gesicht beiseite. Tränen rollten ihr über die Wangen.

„Ja, das tut mir wirklich sehr leid“, rang Alexander nach den richtigen Worten.

„Mein Name ist Alexander Adler. Ich bin von der Kantonspolizei Frauenfeld“, fuhr er nach kurzem Schweigen fort.

„Können Sie mir sagen, was geschehen ist?“ Mit einem leeren Blick in den Augen drehte sie ihren Kopf und starrte gegen die medizinischen Geräte.

„Was ist das für ein Ort, mein Herr?“, wisperte sie etwas unverständlich.

„Es ist genug, Herr Adler. Wir müssen losfahren. Sie braucht medizinische Versorgung in der Klinik“, unterbrach eine junge Sanitäterin das kurze Gespräch.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Es kommt alles wieder in Ordnung.“ Alexander legte seine Hand auf ihre Schulter, erhob sich und verließ mit einem sportlichen Sprung den Krankenwagen. Schnell wurden die Türen geschlossen. Irgendwie hatte die junge Unbekannte sein tiefes Mitgefühl gewonnen. Gerade so, als wäre sie ihm eine längst vertraute Freundin.

„Können wir?“ Marina stand plötzlich neben ihm, während das blinkende Fahrzeug den Ort des Geschehens verließ. Langsam bewegte es sich über das Natursteinpflaster und vorbei an den Schaulustigen hinter den Absperrungsbändern. Kaum durch das obere Eingangstor verschwunden, wurden auch die sporadischen Martinshörner immer leiser.

„Wir sehen uns später“, wandte sich Marina an die Kollegen der Spurensicherung, während Alexander bereits nachdenklich beim Einsatzfahrzeug auf sie wartete.

„Fährst du bitte, Alexander?“, Marina warf ihm den Schlüssel zu.

Lächelnd setzte er das Fahrzeug langsam in Bewegung, während Marina eine kurze Meldung an die Einsatzzentrale schickte. Sekunden später kreuzte der Transporter der Gerichtsmedizin kurz hinter dem Tor ihren Weg, um das tote Kind zu holen.

„Das trifft mich immer sehr hart, wenn sie Kinder für die Pathologie abholen, das geht mir echt nahe.“

„Das geht mir auch so, Marina. Das sind die unschönen Dinge an unserem Beruf. Ich versuche mich dann in der Regel völlig sachlich auf die Arbeit zu konzentrieren.“

„Da hast du natürlich Recht. Ich meine, wir haben lange genug gelernt, in der Theorie damit umzugehen.“

„Du kannst nicht arbeiten, wenn du dich als Frau gefühlsmäßig auf die Fälle einlässt“, sagte er und blickte sie an.

„Habt ihr Männer keine Gefühle?“

„Natürlich! Mir wird dann bewusst, wie wichtig die Gesundheit meiner eigenen Kinder ist oder die meiner ganzen Familie.“

„Nichts ist selbstverständlich. Es kann sich verdammt schnell alles ändern.“

„Ist okay, wenn wir hier rechts abbiegen und über Uesslingen nach Frauenfeld fahren?“

„Mir egal, Alexander. Wie du willst. Hast du gesehen, sie sind schon wieder an der Arbeit auf den Hopfenfeldern für das Ittinger Bier“, lenkte Marina gezielt auf ein anderes Thema und aktivierte die Klimaanlage.

Primula Veris

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