Читать книгу Primula Veris - Hans-Georg Lanzendorfer - Страница 7
Kapitel 5
Оглавление„Hier Einsatzzentrale an Keller und Adler“, war plötzlich eine rauschende Stimme aus dem Funkgerät zu hören.
„Hier Adler, was gibt’s?“
„Die forensische Psychiatrie Münsterlingen hat uns eben gemeldet, dass die Unbekannte von der Kartause vernehmbar wäre. Könnt ihr nach Münsterlingen fahren?“
„Verstanden. Wir sind in etwa 30 Minuten vor Ort.“
„Also los Marina, du hast es gehört. Auf nach Münsterlingen. Bin wirklich gespannt, was uns dort erwartet.“ Minuten später waren Frauenfeld und die Auffahrt zur A7 erreicht. Kurz darauf lenkte Marina den Wagen über die Autobahn in Richtung Kreuzlingen.
„Du kennst die Blitzer da vorne. Mach unserer Bussenabteilung keine unnötige Arbeit.“ Sie rauschten der Ausfahrt Ost entgegen.
„Nimm bei Kreuzlingen die Ausfahrt zur Brunnenstraße. Dann sind wir auf der Romanshornerstraße schnell durch die Stadt. Auf der Seestraße ist es dann nicht mehr weit.“
„Okay“, bestätigte Marina und verließ kurz darauf die A7.
„Weißt du, auf welcher Station wir sie finden?“
„Forensische Psychiatrie C2. Auf P5 können wir parkieren.“
„Das mittlere Gebäude müsste es sein.“ Alexander stieß die Wagentüre zu.
„Ehrlich gesagt, hab ich immer ein beklemmendes Gefühl auf einem Psychiatrieareal“, stöhnte Marina.
„Das geht mir ähnlich. Ich kann es aber recht gut wegstecken. Wahrscheinlich bin ich auch schon zu lange in dem Verein“, Alexander grinste.
„Aber die Aussicht auf den See ist toll“, schwärmte Marina.
Kurz darauf hatten sie die geschlossenen Sicherheitsbereiche des Gebäudes hinter sich gelassen.
„Guten Tag. Hell ist mein Name. Ich bin der Leiter der Abteilung. Sie sind von der Kapo Frauenfeld?“
„Korrekt, Adler und meine Kollegin Keller.“
„Wir haben Sie bereits erwartet! Kennen Sie sich aus in unserem Gebäude?“, kam der sympathische Leiter gleich zur Sache. Offensichtlich war er ein unkonventioneller Typ, unkompliziert und nicht so genormt. In der Knopfreihe seines weißen Hemdes steckte ein brauner Füllfederhalter. Die Ärmel waren hochgekrempelt und die mittellangen braunen Haare zu einem kurzen Pferdeschweif zusammengebunden.
„Nicht unbedingt. Ich bin eher selten auf dem Areal. Meiner Kollegin geht es wohl ebenso.“ Sie versuchten, mit dem Vorausgehenden Schritt zu halten. Rhythmisch erschallten ihre schnellen Schritte durch die langen Flure. Vereinzelte Blumengestecke und Grünpflanzen verliehen der Trostlosigkeit der Klinik eine angenehmere Atmosphäre. Ein Gefühl der Beklemmung durchfuhr Marina. Mit einem langen Atemzug verschaffte sie sich Erleichterung.
„Wir versuchen für unsere Patienten ein möglichst angenehmes Klima zu schaffen“, quittierte der Stationsleiter ihre kritischen Blicke.
„Sie sind sehr aufmerksam. Sieht man mir die Beklemmung an?“, Marina lachte verlegen.
„Es gehört zu meinem Beruf, die Zeichen und Signale der Menschen richtig einzuschätzen und zu deuten.“ Er schickte ihr ein verschmitztes und geheimnisvolles Lächeln.
„Ich würde Sie gerne über den Stand informieren“, blieb Hell kurz beim Stationsbüro stehen.
„Gerne – besten Dank.“
„Wir haben mit der Klientin eine erste Eingangsuntersuchung gemacht. Leider sind wir noch nicht sehr viel weiter gekommen. Wir kennen nicht einmal ihren Namen“, er blätterte in einem Dossier.
„Was heißt das genau?“, interessierte sich Marina.
„Kurz gesagt. Ich denke, sie hat schlicht und einfach Angst. Man merkt es ihr nicht an, aber sie fürchtet sich vor ihrer Umgebung.“
„Wie kommen Sie darauf, Herr Hell?“
„Es wurden bisher forensische Basisabklärungen mittels evaluierter klinischer Methoden und Prognoseinstrumenten durchgeführt. Wie bereits erklärt, sind wir jedoch offen gesagt keinen Schritt weiter gekommen. Sie ist wirklich ein außergewöhnlicher Fall“, äußerte sich der Stationsleiter etwas verlegen.
„Außergewöhnlich?“, forderte ihn Marina mit einem fragenden Blick zu einer genauen Erklärung auf.
„Ja außergewöhnlich. Sie zeigt eigentlich keinerlei Anzeichen einer psychischen Störung. Ich kann mich in meiner Laufbahn an keinen vergleichbaren Fall erinnern“, wurde Hell nachdenklich und warf einen Blick auf seine Uhr.
„Ihre Sprache und die mittelalterliche Ausdrucksweise lassen jedoch noch eine andere Möglichkeit offen. Sie ist jedoch etwas ausgefallen.“
„... das bedeutet?“
„Haben Sie beide schon einmal etwas von dem Fremdsprachen-Akzent-Syndrom gehört?“
„Noch nie!“, die beiden Beamten blickten sich ratlos an.
„Man spricht auch vom sogenannten ‚foreign accent syndrom‘, oder kurz FAS.“
„Wir sind keine Mediziner. Was hat das mit der Patientin zu tun?“
„Das FAS ist eine sehr seltene neurologische Störung, die nach einem Schlaganfall oder nach einem Schädel-Hirn-Trauma auftreten kann. Die Erkrankung äußert sich in einer Änderung der Sprachmelodie, der Aussprache oder der Wortwahl des Patienten. Von der Umwelt werden diese Veränderungen als plötzliche Fremdsprache interpretiert. Von einer Norwegerin ist beispielsweise bekannt, dass sie nach einer Schädelverletzung mit einem deutschen Akzent sprach. Angeblich spricht eine Patientin aus Thüringen nach ihrem dritten Schlaganfall seit Jahren nur noch mit einem Schweizer Akzent. In einem weiteren Fall sprach eine Engländerin nach einem starken Migräne-Anfall nur noch mit einem französischen Akzent. Ich möchte damit sagen, es ist durchaus möglich, dass wir im vorliegenden Fall eine Patientin mit FAS haben.“
„Das würde also bedeutet, dass ihre mittelalterliche Ausdrucksweise auf ein medizinisches Problem schließen könnte?“
„So ist es, Frau Keller. Mit Betonung auf ‚könnte‘. Ohne klaren Befund ist es aber schwierig festzustellen. Vielleicht existiert sogar irgendwo eine Krankenakte. Ohne ihre Identität können wir natürlich keine Nachforschungen anstellen.“
„Klingt verrückt, aber nach einer plausiblen Antwort“, fügte Alexander an.
„Konnte sie zumindest irgendwelche Auskünfte über ihre Herkunft oder über das Kind geben?“
„Das ist das Problem, Herr Adler. Sie spricht nicht darüber. Das heißt, eigentlich nur das Notwendigste. Aber abgesehen von einigen Mangelerscheinungen infolge einer Unterernährung ist die Patientin in einer sehr guten körperlichen Verfassung. Sie schweigt zu allen unseren Fragen, lacht jedoch gelegentlich.“
„... und dennoch diagnostizieren Sie ihr keine psychische Störung, obschon sie nicht mal ihren Namen nennt?“
„Als Polizistin ist das für Sie wohl ungewöhnlich.“
„Ehrlich gesagt, eigentlich schon.“
„Schweigen ist aber nicht verboten, Frau Keller“, Hell lachte. „Ich spreche natürlich von schwerwiegenden Verhaltensstörungen und Auffälligkeiten. Selbst ihre körperlichen Reaktionen sind eigentlich völlig normal“, fuhr Hell weiter fort. „Sie können gerne einen Blick in den Untersuchungsbericht der Klientin werfen. Bedenken Sie jedoch bitte das Recht der Klientin auf Persönlichkeitsschutz. Wie Sie vielleicht wissen, werden bei den Ausdrucksstörungen vor allem das äußere Erscheinungsbild und das soziale und situative Verhalten der Klientin untersucht. Der Untersucher kann hier die Psychomotorik und den Antrieb, die Mimik, den sprachlichen Ausdruck und das Sprechverhalten beschreiben. Im weiteren Sinne beobachtbare Veränderungen, betreffend der Bewusstseinslage der Patientin“, reichte er das Dossier an Alexander weiter.
„Warum sprechen Sie einerseits von der Patientin und dann wieder Klientin. Gibt es einen Grund dafür?“
„Sie sind aber sehr aufmerksam, Frau Keller. Polizeilicher Spürsinn?“ Er schmunzelte.
„Mir selber fällt das gar nicht so auf - aber Sie haben Recht. Es fällt mir nicht leicht, die Patientin als solche zu betrachten, daher wahrscheinlich mein Abschweifen zur Klientin“, argumentierte er augenfällig verunsichert und nahm die Unterlagen von Alexander wieder entgegen.
„Wie lange dauert eigentlich der Aufenthalt auf Ihrer Station, Herr Hell?“
„Das ist sehr unterschiedlich, Frau Keller.“ Er legte das Dossier wieder zurück ins Büro, wechselte ein paar Worte mit einer Pflegerin und fuhr mit der Erklärung fort.
„Die Behandlungsdauer kann sich in extremen Fällen bis zu mehrere Jahre hinziehen. Sie richtet sich natürlich nach den Fortschritten im therapeutischen Prozess, die sich auf die individuelle Legalbewährung auswirken. Die aktive und konstruktive Mitarbeit des Patienten ist hierbei entscheidend.“
„... und die ist bei ihr gegenwärtig nicht vorhanden. Ich verstehe, das macht es nicht einfacher.“
„Das ist so, Frau Keller. Ohne den klaren Nachweis einer Notwendigkeit können wir sie eigentlich nicht länger hier behalten. Es existiert kein richterlicher Freiheitsentzug.
„Ich verstehe.“
Unsere Klinik hatte in der Vergangenheit keinen guten Ruf.“
„Ich erinnere mich an einen Artikel im ‚Beobachter‘ vom Februar dieses Jahres. Sie meinen die Sache mit Professor Roland Kuhn und den Menschenversuchen?“
„Ja genau, Frau Keller, das war eine sehr üble Angelegenheit“, Hell runzelte die Stirn.
„Ach, übrigens ist die Labor-Untersuchung der Kleidung schon in die Wege geleitet worden?“, brachte Marina das Gespräch zurück auf den eigentlichen Zweck des Besuches.
„Gut, dass Sie darauf zu sprechen kommen. Wir haben im Auftrag der Abteilung für forensische Pathologie in Frauenfeld eine kleine Probe an das Institut für Rechtsmedizin in Zürich weitergegeben. Meines Wissens auch an das Institut für Teilchenphysik an der ETH-Hönggerberg. Offensichtlich bestehen größere Unklarheiten über ihre Herkunft. Aber warum gleich eine C14-Untersuchung?“, staunte Hell.
„Darüber können wir Ihnen leider keine näheren Auskünfte geben, Herr Hell. Der Fall ist aber, wie Sie sagen, wirklich außergewöhnlich“, erklärte ihm Alexander.
„Aha verstehe. Kommen Sie bitte weiter“, bat er die beiden Beamten, ihm zu folgen.
„So, wir sind da“, der Stationsleiter griff nach einem Schlüsselbund in seiner Tasche, steckte ihn ins Schloss und öffnete vorsichtig die Tür. Besonnen traten sie in den Raum. Entgegen den Erwartungen öffnete sich den Beamten ein helles und modern eingerichtetes Zimmer. Auf einem runden Tisch stand eine gläserne Blumenvase, in der sich zwei rote Rosen befanden. Sie verbreiteten einen angenehmen Duft. Ein rotes Sofa durchbrach das klare Weiß des Raumes, und ein großes Bett war ordentlich gerichtet. Die Wände wurden von verschiedenen Bildern, überwiegend von zeitgenössischen Künstlern, geschmückt.
„Die Zeiten der engen und düsteren Psychiatriezimmer sind zum Glück vorbei“, quittierte der Leiter die verwunderten Blicke seiner beiden Besucher und stellte sich neben die Eingangstür, die er hinter sich ins Schloss fallen ließ. Regungslos stand die junge Frau vor einem Fenster und stützte ihre Hände auf eine hölzerne Kommode. Sie war ordentlich gekleidet, trug ihre weiße Haube und das mittelalterliche Kleid mit den verschiedenen Brauntönen.
„Sie trägt noch immer dieselben Sachen?“, wunderte sich Marina.
„Ja, Frau Keller. Sie weigert sich, etwas anderes anzuziehen und verlangte danach, die Sachen selber zu waschen.“
„Gibt es keine Wäscherei?“
„Natürlich. Sie hat ihre Kleidung aber nicht aus der Hand gegeben und sogar selber gewaschen - und das von Hand in einem Spültrog“, klärte Hell den erstaunlichen Sachverhalt. Den hellbraunen Umhang hatte sie sich über die Schultern gelegt und das Oberteil fein säuberlich geschnürt. Ein geflochtenes Lederband hatte sie sich um die Hüfte gebunden. Mit einem sanften Lächeln schweifte sie über den unweit entfernten Bodensee und nahm scheinbar kaum Notiz von ihrem Besuch.
„Eine gläserne Vase mit Rosen?“, reagierte Alexander erstaunt.
„Blumen wirken beruhigend - ja. Ich habe Ihnen ja erklärt, sie hat keinerlei psychotische Symptome. Eine Selbstgefährdung kann weitgehend ausgeschlossen werden.“
„Hallo, wie geht es Ihnen?“ Alexander ging zu der jungen Unbekannten. Freundlich reichte er ihr zur Begrüßung die Hand. Lächelnd blickte sie ihn an. Sanft nahm sie seine Hand und blickte ihm tief in die Augen.
„Seid Ihr hergekommen, um mir zu helfen, werter Herr, oder um mich weiterhin in diesem Karzer gefangen zu halten?“, flüsterte sie ihm leise ins Ohr. Diese Frage hatte Alexander nicht erwartet. Sie wirkte menschlich, vertrauenswürdig aber irgendwie etwas weltfremd und verloren.
„Es liegt durchaus nicht in meinem Interesse, Sie gefangen zu halten. Darf ich ein paar Worte mit Ihnen sprechen?“
„Ihr habt wirklich ziere Augen, werter Herr. Wie nennet Ihr Euch?“, ließ sie ihn ihr Vertrauen spüren.
„Alexander. Mein Name ist Alexander. Ich hatte ihn Ihnen schon einmal genannt. Damals im Krankenwagen. Entsinnen Sie sich nicht mehr?“, entschied er sich, ihr seinen Vornamen zu nennen. „Darf ich Ihren Namen ebenfalls erfahren?“
„Man nennt mich Judith, Judith von Hälfenberg“, sie lächelte zum Erstaunen des Stationsleiters freundlich.
„Es gibt an diesem Ort sehr viel Siechtum, edler Herr. Die Augen sind finster und leer und die Seelen werden von einem starken Brand geplaget. Nehmet mich mit Euch hinfort von hier, ich bitt.“
„Ich freue mich sehr, Sie wieder gesund zu sehen, Judith“, Alexander spürte etwas befremdet, wie sehr sein Mitgefühl für die Frau entbrannte. Sie war eine wundersame Erscheinung, hübsch und von einer natürlichen Erhabenheit. Dennoch war sie keine Laufsteg-Schönheit im herkömmlichen Sinne. Fasziniert von ihrer starken Ausstrahlung und von ihrer natürlichen Bescheidenheit, drängte es ihn danach, ihr Geheimnis zu ergründen. Ein unangenehmes Gefühl des Zwiespaltes und der Zerrissenheit begann sich in ihm auszubreiten. Niemals zuvor war es ihm so schwer gefallen, das Berufliche von seinem Privatleben zu trennen und auseinanderzuhalten. In den wenigen Sekunden dieser Begegnung hatte sie ihm seine innersten Wünsche nach harmonischer Geborgenheit und Liebe vor Augen geführt. Sie schien ihm so fremd in dieser Welt, so endlos fern und doch so nah.
„Möchten Sie sich setzen, oder sollen wir uns am Fenster unterhalten, Frau Helfenberg?“
„Nennet mich Judith, werter Herr. Es ist schön, auf die Wasser des Sees zu blicken. Am großen Glas wäre schön“, sie hielt seinen Arm und führte ihn langsam an die Fensterfront.
„Dann nenne ich Sie gerne beim Vornamen. Judith von Hälfenberg ist kein alltäglicher Name. Er erinnert mich sehr an die Ruine zwischen Nussbaumersee und Hüttwilersee. Stammen Sie aus der
Region?“
„Ihr kennet den Burgstall am Steineggersee, edler Herr?“, sie lächelte verwundert.
„Steineggersee? Dieser Name wird seit langer Zeit nicht mehr für den Hüttwilersee verwendet“, staunte Alexander.
„Oh, verzeihet mein Herr, wahrlich, er wird heute Hüttwilersee genannt“, reagierte sie etwas verlegen.
'Sie zieht ihre Mittelalterrolle echt durch. Entweder sie spielt so gut oder sie lebt wirklich in einem Wahn. Ich bin echt konsterniert', ging es Alexander etwas befremdend durch den Kopf. Zweifel über seine unerklärliche Bewunderung für diese Frau breiteten sich aus.
'Was, wenn ich mich von ihr verarschen lasse, ohne es zu merken? Psychopathen sind die perfekten Schauspieler. Ich bin voll disqualifiziert', versuchte er sich schweigend ein Bild von ihr zu machen.
„Können Sie sich eigentlich an mich erinnern, Judith? Wir haben uns bereits zweimal in der Nähe der Ruine Hälfenberg getroffen.“
„Ja, edler Herr, ich erinnere mich gut. Ersteres war beim Burgstall am Hasensee. Ich war mit dem Sammeln von edlen Heilkroidtern beschäftigt. Zweites auf einer kleinen Holzbank unter einem wundervollen Nussbaum. Es war ein sonniger Tag“, erstaunte sie ihn mit ihrer klaren Antwort. Selten fühlte sich Alexander so nahe mit einem Menschen verbunden. Eingenommen von ihrem außergewöhnlich starken Wesen und ihren braunen Augen, hätte er gerne jegliche Regeln und Normen vergessen und ihr mit seiner Hand sanft über das Gesicht gestreichelt.
'Was geschieht hier mit mir - verdammt'?
„Ihr werdet mich doch wegen der stibitzten Petersilie nicht vor das Niedergericht bringen, hehrer Recke?“, sie lächelte ihn an.
„Es war mir schwer zu widerstehen. Petersilie ist in unseren Gefilden zwischen Stammheim und Hüttwilen nur mit arger Mühsal zu bekommen. Herr Alexander, wo seid Ihr mit Euren Sinnen?“
„Nein, natürlich nicht. Die rohen Sitten des Mittelalters sind vorbei“, riss sie ihn mit ihrer Frage aus seinen Gedanken.
„Sie scheinen aber zumindest die Mode jener Zeit sehr zu mögen“, bemühte er sich, den verlorenen roten Faden des begonnenen Gespräches wiederzufinden.
„Ihr wohnet unweit des Burgstalls?“, lenkte sie geschickt von einer Antwort ab.
„Ja ganz in der Nähe. In Nussbaumen, um genau zu sein“, sagte er erleichtert, um auf ihren Themenwechsel einzugehen. Schweigend wandte sie sich von Alexander ab, um ihre Blicke wieder hinaus auf den See und auf die weit entfernten Boote zu lenken.
„Ich mag den Frühling, wenn die ersten Blumen die Erde verlassen und die Wiesen in allen Farben leuchten. Schauet nur diese Pracht und die Birken an den Gestaden. Sind sie nicht wunderbar?“
„Ja, das ist es tatsächlich. Es ist ein schöner Anblick und sehr wohltuend, wenn nach dem Winter die ersten Schneeglöckchen, Krokusse und Schlüsselblumen als Frühlingsboten wachsen.“
„Ja, die Schlüsselblumen. Sie haben ein so leuchtendes Gelb und duften so wundervoll unweit unseres Gehöfts“, strich sie über die Blume an ihrem Handgelenk.
„Eure Kate steht in Nussbaumen, werter Alexander? Oder lebet Ihr auf einem Hubengut? Dann sind wir in gewisser Weise fast schon Nachbarn“, sie lächelte.
„Das haben Sie vor einigen Tagen bereits einmal angedeutet. Wo sind Sie denn zuhause“, versuchte er erneut eine klare Antwort über ihre Herkunft zu erhalten. Auf keinen Fall wollte er sich ihr Vertrauen verspielen. Sie war sehr feinfühlig und ließ ihn dies auch spüren. Offensichtlich gab es jedoch ihrerseits gute Gründe, von ihrer Herkunft abzulenken. Sie war sichtlich bemüht, nicht über sich selbst zu sprechen, und sie verstand es perfekt, die Aufmerksamkeit von sich abzulenken und das Gegenüber in den Mit telpunkt zu stellen. Sehr schnell war Alexander diese Fähigkeit aufgefallen.
„Hören Sie, Frau von Hälfenberg - Entschuldigung, Judith. Ich würde Ihnen wirklich gerne helfen, das müssen Sie mir glauben. Als Polizist ist es aber eine meiner Aufgaben, in dieser außergewöhnlichen Situation Ihre Identität zu klären. Wer sind Sie und woher kommen Sie? Wie sind Sie in die Büroräume der Kartause gelangt? Es ist mein Beruf, diese Fragen zu klären.“
„Die Zeiten sind unser Zuhause, werter Herr. Es gibt so vieles, das wir mit unserem Augenlicht nicht gewahr werden und dennoch ist es vorhanden, unberührbar und doch so nah, denket Ihr nicht auch?“
„Unsere fünf Sinne sind tatsächlich sehr beschränkt. Das ist für uns Menschen sicherlich ein großer Nachteil. Da haben Sie Recht, Judith.“
„Sieben Sinne, es sind deren sieben – edler Herr, nicht fünf!“, sie drehte sich mit einem Lächeln in seine Richtung.
„Sieben - wie kommen Sie darauf, dass es sieben sind? Sie erstaunen mich.“
„Meine Großmutter war eine wissende Frau“, blieb die Fremde weiterhin geheimnisvoll.
„Diese Erkenntnis der sieben Sinne ist eigentlich nicht weit verbreitet. Sogar die Psychologie ist sich da nicht einig. Haben Sie studiert?“
„Studiert?“, reagierte Judith sichtlich derangiert auf die Frage.
„Waren Sie an einer Universität? Sie sprechen von sieben Sinnen. Ich nehme an, Sie befassen sich mit der menschlichen Psyche oder mit unserem Bewusstsein. Wo haben Sie studiert?“
„Ich lernete fleißig bei unserem Dorflehrer in Stammheim, wenn Ihr meine Gelehrigkeit meinet.“
„Und Sie haben dieses Wissen von ihm erhalten? Er muss ein sehr gebildeter Mann sein. Ich kenne wenige Menschen, die sich eingehend und tiefgründig damit beschäftigen und ebenfalls die Ansicht vertreten, dass der Mensch über sieben Sinne verfügt; zum Einen das Empfangen mit dem Bewusstsein und das Erfühlen mit unserer Psyche.“
„So ist es, edler Herr“, wandte sie sich nachdenklich ab.
„Wohin habet Ihr das verstorbene Kindelein gebracht“, unterbrach sie plötzlich ihr kurzes Schweigen.
„Es ist noch im gerichtsmedizinischen Institut“, bemühte er sich um eine schonende Antwort.
„Sie sagten ‚DAS‘ Kindelein, nicht ‚MEIN‘ Kind? Sind Sie denn nicht dessen Mutter?“
„Mitnichten, mein Herr. Eine andere Frouwe war ihm die leibliche Mutter. Ich war ihm in Liebesstatt die Wase.“
„Haben Sie die Mutter gekannt? Wissen Sie, wer sie ist oder wo wir sie finden?“
„Sie ist mir sehr wohl bekannt“, begann Judith mit leiser und besinnlicher Stimme zu sprechen.
„Ihr Name ist Agnes, Agnes Kantengiesser. Sie ist mir eine edle Schwester“, sie strich sich eine Träne aus den Augen.
„Wollen Sie mit mir darüber sprechen, was geschehen ist?“, Alexander griff nach einem Papiertaschentuch.
„Sie wurde das Opfer von Niedertracht und Lasterhaftigkeit eines Geistlichen“, wandte sich Judith ab und wischte sich mit dem Tuch die Augen.
„Werdet Ihr mir bitte helfen, in die Kartause zurück zu gelangen, mein Herr?“, sie blickte ihn mit traurigen und bettelnden Augen an.
„Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um Ihnen zu helfen, Judith. Wir wissen jedoch nicht, wer Sie sind und woher Sie kommen. Aus diesem Grund sind Sie hier. Es müssen zuerst polizeiliche Abklärungen getroffen werden. Ich bitte Sie, das zu verstehen. Man wird Sie nicht einfach gehen lassen, ohne genau zu wissen, was geschehen ist.“
„Aus welchem Grund werde ich in diesem Karzer festgehalten? Niemand hat durch mich eine Last erfahren. Das arme Kindelein“, sie wischte sich abermals eine Träne aus dem Gesicht.
„Es bestand aus polizeilicher Sicht bis anhin der dringende Verdacht, dass Sie etwas mit dem Tod des Kindes zu tun haben, Judith. Ich bin erleichtert, dass sich dieser Verdacht nicht bestätigt hat. Es starb tatsächlich an einer Krankheit.“
„Die Rachenbräune hinterlässt viele unglückliche und trauernde Mütter, werter Herr.“
„Rachenbräune?“, Alexander blickte sich etwas verwundert nach dem Stationsleiter um. Mit einer Geste der Verwunderung signalisierte ihm dieser seine Ratlosigkeit.
„Sie werden leider auch des Diebstahls von Kleidern verdächtigt, Judith. Können Sie mir zumindest diesbezüglich weiterhelfen?“
„Das niedere Gericht wird mich für diese unrechte kleine Dieberei bestrafen, mein Herr. Werdet Ihr mir dennoch helfen, diese ungemächliche Stätte zu verlassen?“, flehte sie ihn sehnlichst an.
„Lasset mich nach Hause. Meine Mutter wird sich zu Tode ängstigen. Habet Huld mit mir, diesen Kerker zu verlassen“, sie hielt Alexander mit festem Griff an seinem Arm.
„Es fürchtet mich sehr an diesem Ort, edler Herr“, sie blickte in seine Augen.
'Keine Minute länger möchte ich selber hier verbringen. Ich bin schon froh, wenn ich hier später wieder rauskomme. Sie tut mir echt leid und ich hab keinerlei Möglichkeit, sie rauszuholen', erfühlte Alexander hilflos ihre große Not.
„Sie haben mir schon einmal von Ihrer Mutter erzählt. Gibt es etwas, was wir für sie tun könnten. Sagen Sie mir doch bitte, wo wir sie finden?“
„Helfet mir von hier hinfort, werter Herr. Lasst es mich Euch erklären an meinem Ankunftsort.“
„Ich denke, wir sollten das Gespräch für heute beenden“, trat der Stationsleiter heran. Eindringlich spürte Alexander die tiefgründige Verzweiflung dieser jungen Frau, als ob sie ihr ganzes Leiden auf ihn übertragen könnte. Zahllose Gedanken und Fragen eilten ihm durch den Kopf. Wer war sie tatsächlich? Hatte sie wirklich die Fähigkeit, ihm ein unbeschreibliches Schauspiel vorzuführen und ein derart starkes Leiden vorzuspielen? Führte sie ihn absichtlich hinters Licht, war sie eine raffinierte Psychopathin, die ihn eben um den Finger gewickelt hatte, oder verbarg sich hinter ihrer Existenz ein unfassbares Rätsel?
„Es ist Euch ohne mich nicht möglich, meine Mutter zu erreichen, werter Alexander. Bitte hülfet mir zur Rückkehr in die Kartause.“
„Es ist besser, wenn Sie ein anderes Mal wieder kommen, Herr Adler“, ließ sich Alexander widerwillig davon überzeugen, das Gespräch mit dieser eindrücklichen Frau zu beenden.
„Das denke ich auch, Alexander“, pflichtete Marina dem Stationsleiter bei.
„Werdet Ihr bald wiederkehren?“, Judith klammerte sich an ihm fest.
„Wir werden uns bald melden. Das ist versprochen“, löste Alexander feinfühlig und mitgenommen ihren festen Griff von seinem Arm.
„Im Moment kann ich aber wirklich nicht mehr für Sie tun, Judith“, Alexander hielt ihre Hand. Zögerlich löste sie sich von ihm, während er langsamen Schrittes zum Ausgang des Zimmers ging.
„Leben Sie wohl, Judith.“ Die schwere Tür fiel mit einem dumpfen Erschüttern hinter ihnen ins Schloss und der Stationsleiter drehte den Schlüssel.
„Was denken Sie, Herr Hell“, sinnierte Alexander, noch immer stark betroffen von der eindrücklichen Begegnung. „Ist es aus Ihrer Sicht als Fachmann überhaupt möglich, dass uns Frau von Hälfenberg ein unsägliches Theater vorspielt? Ich bin zugegeben schwer beeindruckt von der ganzen Situation.“
„Das ist nicht zu übersehen.“ Hell schmunzelte. „Wissen Sie, Herr Adler, wenn man mit Menschen in der Psychiatrie arbeitet, ist grundsätzlich nichts unmöglich. Die menschliche Psyche und ihre Störungen sind in der Regel unbeschreiblich komplex. Oft ist nichts wie es scheint. Scheinwelten werden erschaffen und fallen in sich zusammen. Auch wenn wir versuchen, mit allen möglichen Tests und Untersuchungen eine Diagnose zu stellen. Das menschliche Bewusstsein oder die Psyche des Menschen gehören wohl zu den noch lange Zeit ungelösten Rätseln unserer medizinischen Wissenschaft.“
„Es erstaunt mich, derartige Worte aus dem Mund einer Fachperson zu hören“, vermochte Marina ihr Erstaunen nicht zurückzuhalten.
„Schauen Sie. Ich arbeite seit über 25 Jahre in leitenden Positionen der Psychiatrie. Wenn ich etwas gelernt habe, dann ist es die Tatsache, dass wir mit jedem einzelnen Patienten im Grunde genommen am Anfang aller Erkenntnis stehen.“
„Das klingt etwas resigniert, finden Sie nicht. Gehört es denn nicht zu Ihren Aufgaben, eine klare Diagnose zu stellen? Die Öffentlichkeit verlässt sich auf Ihre Gutachten.“
„Ehrlichkeit ist keine Disqualifizierung, Frau Keller. Vieles in der Psychiatrie ist mit klaren Untersuchungen zu erkennen und abzuklären. Vielfach stoßen wir aber bei der menschlichen Psyche an unsere Grenzen. Niemand kann die Garantie für das Verhalten anderer Menschen übernehmen. Selbst dann nicht, wenn sie ein psychologisches Profil von einem Menschen erstellen.“
„Das bringt uns aber in eine Zwickmühle. Wir sind mitten in polizeilichen Ermittlungen und auf Ihre verbindlichen psychiatrischen Ergebnisse angewiesen.“
„In der Regel sind wir durchaus verbindlich, Frau Keller. Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Vor allem, wenn klare Krankheitsbilder vorliegen.“ Hell ging ein paar Schritte hin und her und senkte die Stimme.
„Hier haben wir aber, ganz nüchtern betrachtet, lediglich eine junge Frau mit dem Hang zu einer außergewöhnlichen Kleidung – mehr nicht. Ihre Originalität und Individualität ist keine Krankheit.“
„... aber dann fragt es sich natürlich, warum sie hier festgehalten wird?“, wunderte sich Alexander.
„Ich sagte ja bereits, Frau von Hälfenberg ist außergewöhnlich. Unsere Gesellschaft weiß nicht mit dem Außergewöhnlichen umzugehen, Herr Adler. Das ist das eigentliche Problem“, wurde Hell sichtlich impulsiver.
„Ein Beispiel: Unsere Angestellten mussten ihr erst einmal den Umgang mit den einfachsten Dingen wie die Benutzung der Toiletten oder das Duschen erklären.“
„Das ist wirklich verwunderlich, fast unglaublich, das muss ich zugeben.“
„Eben, Herr Adler. Sie ist aber sehr intelligent und scheint dennoch nicht von dieser Welt. Das sollte uns zu denken geben. Stattdessen versuchen wir mit Medikamenten eine Normalität zu erreichen. In ihrem Fall ist aber die Normalität vorhanden - einfach verschoben. Ich kann Ihnen aber auch nicht erklären, in welcher Richtung - gemessen an unserer sehr subjektiven Norm.“
„Nochmals zurück zu meiner eigentlichen Frage, Herr Hell. Ist sie eine perfekte Schauspielerin?“
„Wenn Sie meine ehrliche und inoffizielle Meinung hören wollen, Herr Adler.“
„Gerne.“
„Dann antworte ich Ihnen mit einem klaren NEIN.“
„Womit unsere juristischen Probleme nicht weniger werden“, drehte sich Marina mit einer abweisenden und verständnislosen Gestik ab.
„Okay. Meine Kollegin sucht nach logischen Antworten. Sie mag das Lehrbuch. Sorry Marina. Aber fahren Sie weiter fort, Herr Hell, bitte.“
„In meiner langjährigen Laufbahn ist mir ein derartiger Fall noch nicht begegnet. Das muss ich zugeben.“
„Sie ist Ausländerin. Es gibt viele Länder, in denen man schlicht die Wassertoilette nicht kennt“, wird Hell von Marinas Ungeduld unterbrochen.
„Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sie aus dem Ausland eingereist sein könnte, und die Wassertoiletten sind zumindest in Europa sehr verbreitet“, fährt Hell gelassen weiter.
„Lass ihn bitte ausreden, Marina. Mich interessiert, was er zu sagen hat“, wird sie von Alexander zur Einsicht und Zurückhaltung ermahnt.
„Meine persönlichen Beobachtungen lassen durchaus gewisse Spekulationen aufkommen.“
„Das heißt?“
„Ich spreche von unkonventionellen Belangen. Sagen wir mal parapsychologische Phänomene, die ich als Fachmann eigentlich lieber nicht offen nennen möchte.“
„Sie haben die Diskussion begonnen, Herr Hell. Machen Sie es nicht noch geheimnisvoller.“
„Also ich denke, der Fall wird uns noch mit höchst überraschenden und neuartigen Fakten beschäftigen. Vielleicht werden wir umdenken müssen. Ich habe da so eine Ahnung. Das ist aber ganz inoffiziell, Herr Adler, und ich bitte Sie, dieses kurze Gespräch nicht publik zu machen. Den offiziellen Bericht werden Sie umgehend erhalten.“
„Was geschieht denn jetzt mit ihr. Ich meine, können wir sie überhaupt in der Klinik festhalten, wenn die Todesursache des Kindes eigentlich geklärt und ihre Unschuld damit bewiesen ist?“
„Das ist es eben noch nicht. Der Bericht ist noch nicht offiziell. Die Pathologie hat die Todesursache noch nicht eindeutig freigegeben. Solange wird sie hier wohl noch in Untersuchungshaft gehalten.“
„Das ist leider so, Frau Keller“, bestätigte der Stationsleiter.
„Okay, Ich denke, wir sollten uns erst einmal darauf beschränken, ihre Herkunft zu klären. Besten Dank für Ihre Offenheit, Herr Hell“, Marina reichte ihm freundlich die Hand.
„Zumindest hat sie uns einen Namen genannt. Das bringt uns einen Schritt weiter. Auf Wiedersehen, Frau Keller, Herr Adler. Sie hören von uns“, verabschiedete sich der Stationsleiter.
„Kannst du mich in Nussbaumen absetzen, Marina?“ Sie liefen über den Parkplatz zum Polizeiwagen. Zufrieden über die beiden Gespräche, beobachtete Alexander eine Amsel auf der Spitze einer nahen Fichte. Dies, obschon seine zahlreichen Fragen in ihrem Kern unbeantwortet geblieben und die vertraulichen Aussagen des Stationsleiters Tausende weitere Fragen aufkommen ließen.
„Klar Alexander“, vernahm er ihre Antwort wie durch einen Nebelschleier.
„Was machst du eigentlich heute Abend?“, fragte Alexander, als sie in das Fahrzeug stiegen.
„Eigentlich wollte ich mit meiner Freundin mal wieder essen gehen. Ich bin aber ehrlich gesagt etwas aufgewühlt. Vielleicht bleiben wir auch einfach zuhause und ich lese in meinem Buch weiter.“ Sie setzte sich ans Steuer und beobachtete die Seemöwen, die entlang des Ufers ihre Runden drehten. Was sie jetzt wohl gerade tut in ihrem Zimmer, dachte Marina. Sie startete den Motor und fuhr langsam los.
„Und wie sieht‘s bei dir aus heute Abend?“ Sie verließ den Parkplatz und steuerte das Fahrzeug auf die Hauptstraße.
„Ja also ... Moment bitte“, Alexander kramte das klingelnde Handy aus seiner Tasche hervor.
„Adler.“ Er lauschte mit sichtlich erstaunter Miene am Hörer.
„Wirklich unglaublich, ja. Und Sie sind sich wirklich ganz sicher?“, signalisierte er seiner Kollegin eine Geste des Erstaunens. „Danke für die Information und dann bis morgen.“ Er steckte das Handy wieder zurück in die Jackentasche.
„Und ...?“, Marina blickte ihn mit großen Augen ungeduldig an.
„Das war der Gassmann von der forensischen Pathologie. Sie haben die Testergebnisse der Untersuchungen ihrer Kleidung und jetzt halte dich fest – auch die Zürcher sind mit der C14-Datierung auf ein Alter von knapp 500 Jahren gekommen. Sie datieren es zwischen 1510 und 1530, ebenfalls das Tuch, in dem das Kind eingewickelt war.“
„Das ist ja wirklich unglaublich. Jetzt wird es aber kompliziert. Wie soll die Hälfenberg an so alte Kleidung kommen?“, sagte Marina zweifelnd.
„Ich glaube, der Hell hatte mit seiner Diagnose, dass der Fall höchst überraschend enden wird, gar nicht mal so unrecht.“
„Das ist wirklich eigenartig. Ich frage mich aber, ob ein Stoff nach 500 Jahren in einem so guten Zustand sein kann wie bei Frau von Hälfenberg.“
„Stimmt, das ist eine gute Frage, Marina. Das kann ich mir irgendwie auch nicht vorstellen. Aber du hast ihr Kleid vorhin gesehen, keine Spur von einem speziellen Alterungsprozess. Ich dachte eigentlich immer, es sei fast neu!“, staunte Alexander ungläubig.
„Oh Mann, wir kommen wieder voll in den Abendverkehr durch Kreuzlingen“, sagte Marina und ordnete sich in die stockende Kolonne.
„Blaulicht?“ Sie schaute ihn grinsend an.
„Das können wir nicht machen“, lachte er.
„Wir sind gleich beim Bärenstraße-Kreisel, von da an wird es besser“, versuchte er sie etwas aufzumuntern. Marina hasste den Stau. Das beklemmende Gefühl, eingeengt zu sein, erforderte von ihr die höchste Selbstbeherrschung. Niemals würde sie freiwillig durch den Gotthardtunnel ins Tessin reisen, sondern grundsätzlich und in jedem Fall immer über den San Bernardino Pass. Die Röhre war ihr jeweils der blanke Horror.
„Ich hasse diese übervölkerten Straßen.“
„Es gibt leider keine bessere Abkürzung – Kopf hoch Mädchen, das GPS sagt 30 Minuten“, ermunterte er seine Kollegin und blickte sich nachdenklich um.
„Jetzt kommt mir grade eine gute Idee“, er kramte plötzlich nach seinem Handy.
„Ich frage doch einfach mal schnell meine Schwägerin. Sie ist eigentlich Physikerin, arbeitet aber beim Amt für Archäologie in Frauenfeld. Die kann uns bei der Frage nach dem Stoff sicher weiterhelfen!“ Alexander wählte aufgeregt die Nummer.
„Da bin ich jetzt aber echt gespannt. Kannst du bitte auf laut stellen, damit ich mithören kann?“
„So, so, auch noch fremde Telefonate belauschen ...!“ Alexander feixte.
„Aber klar.“ Er musterte erwartungsvoll das GPS - 23 Minuten! Der Rufton fiepte an seinem Ohr.
„Hallo.“
„Daniela, hier ist Alexander, wie geht‘s euch?“
„Hallo Alexander, wir können nicht klagen, danke und dir?“
„Ganz okay, danke. Hör mal, warum ich dich kurz anrufe. Wir sind grade an einem nicht ganz unkomplizierten Fall. Ich bräuchte mal kurz von dir als Wissenschaftlerin eine Auskunft.“
„Ja klar, um was geht‘s denn? Habe ich falsch geparkt?“ Sie lachte hämisch ins Telefon.
„Kriegst dafür von mir ein Falschparker-Abonnement“, flachste er zurück.
„Aber Spaß beiseite. Um es kurz zu machen. Was denkst du darüber, ist es möglich, dass sich Kleidung aus dem Mittelalter über 500 Jahre bis heute in einem einwandfreien Zustand erhalten könnte?“
„500 Jahre? Einwandfreie Kleidung? Das muss ja wirklich ein außergewöhnlicher Fall sein.“
„Ja genau, 500 Jahre!“
„Also die Leiche dazu in einwandfreiem Zustand würde mich mehr interessieren“, fuhr sie nachdenklich fort. „Hm – das kommt aber drauf an. Die Lagerungsumstände, also die Rahmenbedingungen, spielen natürlich eine sehr große Rolle. Aber grundsätzlich würde ich sagen, ist es schon möglich, dass sich der Stoff erhält - ja.“
„Meinst du, man könnte die Kleidung noch ohne weiteres tragen?“
„Nein, nein Alexander, also so gut nun auch wieder nicht. Nach 500 Jahren wäre das Gewebe natürlich sehr zerschlissen. Es würde wohl mit jeder Berührung fast auseinanderfallen. Klar kann man es noch als Kleidungsstück identifizieren, sicherlich unter Umständen sogar auch noch die Farben bestimmen, aber als tragbare Kleidung wäre es kaum mehr zu benützen.“
„Weißt du, ob irgendwo in einem Museum Kleidung in diesem Alter zu finden ist?“, erkundigte er sich interessiert.
„Ja, lass mich überlegen, da war mal etwas. Genau, ich erinnere mich an einen Fall in Osttirol. Das war etwa 2009, da haben sie in einem Schloss Kleidungsstücke aus dem Mittelalter gefunden. Die ist natürlich sehr zerschlissen, aber trotzdem noch recht gut erhalten. Vielleicht hilft dir das etwas weiter. Du kannst es ja mal googeln.“
„Okay, das werde ich. Aber grundsätzlich würdest du sagen, 500-jährige Kleidung wäre kaum geeignet, heute noch getragen zu werden?“
„Abgesehen davon, dass man darin wohl höchst unzeitgemäß gekleidet wäre, würde ich Nein sagen,. Und einwandfrei schon gar nicht. Sie würde sicher durch das Tragen sehr schnell auseinanderfallen. Mehr kann ich dir aber auch nicht sagen. Gewebe und Textilien sind nicht unbedingt mein Fachgebiet.“
„Das reicht mir schon mal, Daniela. Vielen Dank auf jeden Fall für den Hinweis. Ich werde mir das mal ansehen, im Internet – Tschüss und Grüße an mein Brüderchen“, verabschiedete er sich freundlich.
„Du hast es gehört. Ich werde gleich mal ihrem Hinweis nachgehen.“ er durchsuchte mit dem kleinen Gerät das Internet. Es waren kaum ein paar Minuten vergangen.
„Hör mal, Marina, hier haben wir es ja. Ich lese dir mal kurz was vor.“
„Da bin ich aber gespannt!“
„Kannst du dich bei dem Verkehr überhaupt konzentrieren?“
„Klar, los.“
„Sensation“, las er,
„532 Jahre alter BH gefunden. Die Geschichte der Unterwäsche muss wohl umgeschrieben werden. Bisher glaubte die Fachwelt, dass Büstenhalter erst vor 100 Jahren erfunden wurden. Nun wurde ein 532 Jahre alter BH auf Schloss Lengberg in Osttirol gefunden. Im Jahr 2009 wurde das Schloss Lengberg in Osttirol generalsaniert. Dabei kamen hinter einem Wandvorsprung viele Fundgegenstände aus dem Mittelalter zutage. Insgesamt wurden über 2.700 einzelne Stofffragmente gefunden. Fragmente aus feinem Leinen. Unter den Fundgegenständen waren eine Reihe fast vollständig erhaltener Kleidungsstücke und Fragmente leinener Innenfutter mit spärlichen Resten der ehemaligen Wollkleider. Außerdem wurden Fragmente mehrerer Leinenhemden mit starker Fältelung an Kragen und Ärmeln samt erhaltenen Textilknöpfen und zugehörigen Knopflöchern gefunden. Deren Größe legte nahe, dass sie Bestandteil weiblicher Kleidung waren oder von Kindern getragen wurden. Büstenhalter Konfektionsgröße 36 ins 15. Jahrhundert datiert. Eine eigens durchgeführte Kohlenstoff-14-Datierung an Faserproben zweier gefundener Büstenhalter bestätigte die Datierung der Stücke in das 15. Jahrhundert. Die Unterwäsche in Konfektionsgröße 36, die komplett aus Leinen besteht, ist sagenhafte 532 Jahre alt. Bisher gab es keine Beweise für die Existenz von BHs mit deutlich sichtbaren Körbchen vor dem 19. Jahrhundert. Als „Erfinder“ des Büstenhalters galten bisher unter anderem Herminie Cadolle im späten 18. Jahrhundert und Mary Phelps Jacob, die 1914 ein US-Patent erhielt.“
„Wow“, staunte Marina.
„Es sind noch ein paar Bilder von diesem ‚Tuttenseck‘ dabei. Die Kleidung ist aber niemals in einem so guten Zustand, wie die von Frau von Hälfenberg. Sieht ziemlich zerfetzt aus.“
„Frauenfeld-West müssen wir raus nach Nussbaumen, oder?“
„Ja genau, West. Die nächste Abfahrt raus!“
Die weiße Schrift auf blauem Hintergrund strahlte im abendlichen Frühlingslicht: Nussbaumen.
„Danke für den super Service, Marina. Wünsche dir einen angenehmen Feierabend und lass nicht alles zu sehr an dich rankommen, okay?“ Alexander stieg aus dem Polizeiwagen und winkte kurz den Nachbarn.
„Danke – dir auch. Bis morgen früh im Büro!“
„Alles klar.“