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Kapitel 7
Оглавление„Guten Morgen, Frau von Hälfenberg, sind Sie schon wach? Haben Sie gut geschlafen?“, wurde sie von einer freundlichen Stimme und von einer sanften Musik aus dem Schlaf gerissen. Schlaftrunken richtete sie sich auf und hielt sich die Hand vor das Gesicht. Das helle Licht blendete ihre Augen. Beklommen blickte sie zurück auf die Erinnerungen der letzten Nacht. Wie gerne wäre sie jetzt zuhause an ihrer Arbeit. Schnell hatte sie jedoch die Realität der Gegenwart eingeholt.
„Habt Dank, junge Maiden. Ja, mein Schlaf war durchaus erholsam“, erwiderte sie der jungen Pflegerin.
„Wie wird sie genannt, die junge Frouwe? Ich habe Euch noch niemals zuvor gesehen in meiner Kemenate.“
„Ich mag Ihre Sprache und Ausdrucksweise, Frau von Hälfenberg. Sie sprechen gerade so, als ob Sie tatsächlich nicht aus dieser Zeit wären. Mein Name ist Rahel.“ Sie reichte Judith freundlich die Hand und setzte sich auf den Rand des Bettes. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört und werde Sie heute durch den Tag begleiten.“
„Das ist mir wohlgefällig, Euch bei mir zu haben“, reagierte Judith etwas verhalten.
„Ich war mir dessen nicht gewahr, dass allerlei Leut über mich kallen. Was wird disputiert? Habet ihr nicht ein wenig übertrieben?“
„Doch, doch. Die Ärzte sprechen oft über Ihren Fall, wie sie es nennen. Ich wollte Sie schon lange einmal kennenlernen. Leider wurde ich erst heute zu Ihnen eingeteilt.“
„Was gedenket Ihr denn heute mit mir zu verrichten, werte Maiden? Verhülfet Ihr mir zurück in die Kartause?“
„Nein, leider nicht. Dazu habe ich keine Befugnis“, wurde sie von der jungen Pflegerin enttäuscht. „Woher haben Sie denn ihr tolles Kleid, Frau von Hälfenberg. Das Mittelalter gefällt mir auch sehr. Ich gehe regelmäßig an die Handwerkermärkte auf Schloss Wellenberg bei Frauenfeld“, lenkte die Pflegerin vom Thema ab und hielt das Kleid an ihren schlanken Körper.
„Wir nähen unsere Gewandung selbst, holde Rahel. Meine Mutter ist darin gar geschickt. Wir haben nicht die notwendige Penunse, um einen Nähknecht oder den Schneidermeister zu beauftragen“, antwortete Judith.
„Es ist gar nicht so einfach, gute Mittelalterkleidung zu finden“, klagte Rahel.
„In Islikon kenne ich einen kleinen Laden, in dem sich immer etwas Derartiges finden lässt, und dann habe ich auch noch eine Freundin, die mir hilft, meine Mittelalterkleidung zu nähen“, fuhr die Pflegerin fort.
„Was machen Sie denn beruflich, Frau von Hälfenberg?“
„Beruflich?“, antwortete Judith sichtlich erstaunt.
„Verzeihung, werte Rahel. Worin liegt der Sinn Eurer Frage?“
„Womit verdienen Sie Ihr Geld oder Penunse, wie Sie sagen? Sind Sie eine Künstlerin oder eine Schneiderin?“, wiederholte Rahel etwas konsterniert.
„Wir haben alles, was wir benötigen. Wir bbrauchen keine fremden Batzen. Ich versorge daheim die Hühner, die Gänse und unsere Schafe. Natürlich auch unseren Garten. Hin und wieder halten wir etwas wohlfeil am Markt in Frauenfeld. Das genüget uns gut zum Leben.“
„Aha, Sie sind eine Selbstversorgerin?“ Rahel setzte sich abermals neben Judith.
„Mein Vater pfleget jeweils zu sagen: Gold verdirbt das Wesen des Menschen.“
„Ihr Vater scheint ein gebildeter Mann zu sein“, erwiderte die junge Pflegerin.
„Das ist er. Mein Vater, Johannes von Hälfenberg, ist ein geachteter Mann. Er hat auch große Kenntnisse von Büchern. Er bindet sie.“
„Das ist aber interessant. Ich habe auch einen Bruder, der als Buchbinder arbeitet.“ Rahel lachte fröhlich.
„Ich habe Ihnen übrigens ein paar neue Blumen aus der Klinikgärtnerei gebracht. Ich hoffe, sie gefallen Ihnen“, sie zeigte auf den Tisch.
„Eine Schlüsselblume. Ihr seid nett, Jungfer Rahel. Schade, dass Ihr meinen Vater nie kennen lernet. Es ist schön, mit Euch zu konversieren.“
„Ganz meinerseits, Frau von Hälfenberg.“
„Warum nennet Ihr mich Frau von Hälfenberg. Die Nobilisten sind meiner Familie fern. Nennet mich doch einfach bei meinem Namen, Judith. Aber saget an, Ihr seid so freundlich. Gibt es einen Ausweg oder eine Möglichkeit zur Flucht aus diesem Karzer? Wer haltet mich gefangen an diesem finsteren
Ort?“
„Das ist kein Kerker“, sagte Rahel und lächelte.
„Münsterlingen ist eine psychiatrische Klinik.“
„Ihr verzeiht, wenn ich Euch nicht verstehe?“, reagierte Judith verwundert.
„Wir sind in einer psychiatrischen Klinik, in einem Hospital.“
„Aber ich bin von keinerlei Ungemach verdorben. Sehet her“, Judith sprang auf und griff nach ihren Kleidern. „Das ist ein Missverständnis. Bitte kündet dies Eurem Medicus, er könne mich bedenkenlos ziehen lassen.“ Sie schlüpfte schnell in das Kleid.
„Das ist nicht so einfach, Judith. Wir sind hier auf der geschlossenen Abteilung, und solange die Behörden und die Polizei nicht wissen, woher Sie kommen und wer Sie sind, werden Sie zu Ihrem eigenen Schutz hier behalten“.
„Habt Dank, aber das ist nicht von Nöten. Bitte lasset Eure Jus Politiae wissen, dass ich mich zeitlebens selber gegen Pfaffen und Wegelagerer sehr gut zu wehren wusste. Bitte besorget mir doch ein Ross. Wie viele Taler müsste ich dafür aus meiner Geldkatze kratzen?“
„Ein Pferd? Wozu benötigen Sie ein Pferd, Judith?“, zeigte sich die junge Pflegerin etwas perplex.
„Es wird mich in die Kartause tragen. Sie ist mir die Pforte nach Hause.“
„Wie meinen Sie das?“
„Das werdet Ihr kaum verstehen, werte Rahel. Verzeihet, aber könnet Ihr meine Bitte erfüllen?“
„Ich werde sehen, was sich machen lässt. Jetzt muss ich Sie aber kurz alleine lassen.“
Rahel verließ mit einer freundlichen Geste den Raum. Vorsichtig ließ sie hinter sich die Türe ins Schloss fallen.
„Das war gut, Rahel, besten Dank.“ Der Stationsleiter Hell trat ihr entgegen.
„Sie sind die geborene Schauspielerin. Zumindest können wir jetzt unser Bild etwas erweitern. Was haben Sie für einen Eindruck, Rahel?“
„Sie ist wirklich nett und irgendwie tut sie mir leid. Es umgibt sie etwas Geheimnisvolles. Gerade so, als ob sie tatsächlich nicht aus dieser Zeit wäre. Sie wirkt so echt. Ich habe den Eindruck, sie ist verzweifelt und kann es aber nicht wirklich zeigen.“