Читать книгу Primula Veris - Hans-Georg Lanzendorfer - Страница 5
Kapitel 3
Оглавление„Du musst deine Aussage noch zu Protokoll geben, Alexander“, wies ihn Marina an, nahm einen letzten Schluck von ihrem kalten Kaffee und startete das Schreibprogramm.
„Stimmt, das haben wir noch gar nicht erledigt – Okay, dann lass mich überlegen ...
“ Alexander setzte sich neben einen mächtigen Ficus Benjaminus.
„Wann hast du sie das erste Mal gesehen?“, startete Marina die Befragung.
„Das war vor rund zwei Wochen in der Nähe vom Hasensee.“ Er begann in Gedanken die Fakten zu sortieren und zupfte an einem Blatt. „Sie ist mir durch ihr eigenartiges Verhalten aufgefallen. Ich dachte zuerst, dass sie vielleicht Hilfe benötigt. Ich weiß noch, dass sie mich mit ihrer weißen Kopfbedeckung an das Mittelalterfest vom Schloss Wellenberg erinnerte.“
„Du interessierst dich für Mittelaltermärkte, Alexander?
„Meine Partnerin mag die Welt der Burgen und Schlösser. Wir gehen ganz gerne zu den Open-Air-Konzerten auf der Ruine Hälfenberg.“
„Wie bringst du das in Zusammenhang mit der Unbekannten aus der Kartause?“
„Weil ich daher zufällig weiß, dass der Handwerkermarkt auf Wellenberg dieses Jahr am 24. und 25. Mai stattfindet. Das ist also erst in rund einer Woche. Das bedeutet, dass ihre Mittelalterkleidung nicht mit dem Fest im Zusammenhang stehen konnte.“
„Okay - erzähl weiter“, bat ihn Marina fortzufahren.
„Das erste Mal ist sie mir am 27.4. dieses Jahres aufgefallen.“
„Woher weißt du aber mit dieser Bestimmtheit, dass es der 27. April war“, unterbrach ihn Marina.
„Das weiß ich daher so genau, weil ich am selben Tag zum Geburtstag meines Bruders gefahren bin. Es war an einem Sonntagvormittag. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, vorher zum Hasensee zu joggen.“
„... also von Nussbaumen bis zum Hasensee“, fuhr Marina fort, seine Aussage in den Computer zu tippen, griff zur Kaffeetasse, warf einen enttäuschten Blick hinein und stellte sie zurück auf das Pult. „Ist das nicht eine ganz ansehnliche Strecke? Wow! Okay, du bist ja ziemlich gut trainiert“, sagte sie und feixte.
„Die wärmende Sonne im Gesicht und die Klänge von Lindisfarne in den Ohren, genoss ich den Moment der Freiheit und der Sorglosigkeit“, begann er etwas weitschweifig mit seiner Schilderung. „Mein Atem ging schnell und meine Muskeln vibrierten mit jedem Schlag auf meinen Fußsohlen. Steinchen spien unter meinen Schuhen davon und verschwanden im Gras. Zum Glück ist die Asphaltstrecke nur so kurz, ich hatte in schnellem Tempo in Nussbaumen die Soldatengasse hinter mich gebracht, bog kurz nach links und überquerte die Hüttwilerstraße. Bei der Postauto-Haltestelle Tobelbrunnen verließ ich die Hauptstraße, um auf dem Feldweg und an der Grüngut-Sammelstelle vorbei zum Hüttwilersee zu laufen. Die Kieselsteine knirschten unter meinem schnellen Lauf. Kurz darauf überquerte ich die kleine Brücke über den Seebach in Richtung Hälfenberg. Bei den beiden Bauernhöfen angekommen, habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, den Feldweg parallel zum Hasensee in Richtung Nussbaumersee einzuschlagen. Einige Hundert Meter nach den Höfen führt rechts ein Feldweg direkt zum Hasensee. Auf der Höhe des oberen Stegs entschloss ich mich, eine erste Pause einzulegen.“ Aufmerksam schrieb Marina die wichtigsten Fakten in das Protokoll.
„Schnaufend stütze ich mich in gebeugter Haltung auf meine Knie, um etwas auszuruhen. Das Blut schoss durch meinen Körper und der Puls raste“, fuhr er mit seiner Aussage fort.
„Langsamen Schrittes ging ich weiter. Unerwartet huschte eine dunkle Gestalt hinter den Bäumen durch das Unterholz. Offensichtlich war sie bemüht, sich zu verbergen. Reglos blieb sie hinter einem größeren Baum stehen. Angetrieben von meiner polizeilichen Neugier, ging ich langsam in Richtung des Seeufers. Die Situation schien dennoch entspannt. Umsichtig lief ich zwischen die Bäume über den schmalen Trampelpfad und betrat den hölzernen Steg. Eindrücklich spiegelten sich der blaue Himmel und die dahinziehenden Wolken auf der glasklaren Wasseroberfläche. Die alten Holzbohlen des Stegs knarrten unter meinen Schritten. Das Rascheln des Laubes und das Knistern des morschen Gehölzes waren mir im Hintergrund nicht verborgen geblieben, ich bin es gewohnt, meine Aufmerksamkeit auch auf das Unscheinbare zu lenken. Beiläufig drehte ich mich wieder um und schlenderte zurück ans Ufer. Längst hatte ich die unbekannte Gestalt in meine Aufmerksamkeit genommen und aus dem Augenwinkel heraus beobachtet. Noch immer versuchte sie, sich vor mir verborgen zu halten.
‚Guten Morgen, entschuldigen Sie, kann ich Ihnen helfen‘, rief ich freundlich ins Unterholz.
‚Seid bedankt, edler Recke. Das ist nicht von Nöten.‘ In einiger Entfernung trat die junge Frau hinter einem Baum hervor und lächelte verlegen.“
„Und sie hat dich wirklich mit ‚edler Recke‘ angesprochen, Alexander?“, fuhr ihm Marina dazwischen.
„Ja, aber jetzt, wo du es sagst, fällt es mir wieder ein, dass es mir damals auch sehr fremdartig - aber nicht unangenehm vorgekommen ist - fremd eben.“
„Okay, entschuldige, erzähl weiter.“
„Wie ich es ja von meiner Arbeit gewohnt bin, musterte ich die Unbekannte aufmerksam und prägte mir einige markante Punkte ihres Aussehens genauestens ein. Die braunen offenen Haare hatte sie zu einem Mittelscheitel gekämmt. Sie waren sehr lang und reichten ihr weit über die Schultern. Umgehend zog sie eine helle Kopfbedeckung hervor und setzte sich diese auf. Ein helles Oberteil mit blauen und violetten Blumenmustern fiel ihr bis über die Hüften. Für einen Spaziergang im Untergehölz etwas ungeeignet, dachte ich, als ich ihre weißen Hosen und die ledernen Sandalen bemerkte. Um ihren schlanken Oberkörper hatte sie ein altmodisches Stoffbündel gebunden, welches sie wie eine Tasche bei sich trug.
‚Ich bin lediglich auf der Suche nach wertvollen Pflanzen und Blumen, die wir als Aufguss, Heilkroidter und Tinkturen verwenden‘, ließ sie mich wissen und stapfte langsam weiter.
‚Aha, dann bitte ich um Entschuldigung‘, antwortete ich. ‚Es hätte ja sein können, dass Sie irgendwelche Hilfe benötigen.‘ Sie war eine sehr zierliche und hübsche Erscheinung. Eigentlich hätte ich mich gerne noch etwas länger mit ihr unterhalten. Ihr Schweigen und das langsame Entfernen machten mir jedoch deutlich, dass sie sich nicht für ein intensiveres Gespräch interessierte. Zudem hatte ich den Eindruck, als sei ihr diese unerwartete Begegnung eher unangenehm. Fasziniert von diesem Aufeinandertreffen, vergaß ich fast den Zweck meiner Gegenwart am See.
"Welch Wunder", grinste seine Kollegin.
‚Gehabt Euch wohl‘, sagte sie noch, warf mir einen beiläufigen Blick zu und bückte sich zum Boden, um etwas aufzunehmen. Eiligst zog sie einen kleinen Beutel aus ihrer Kleidung und verstaute darin die Pflanze.
‚Ja, also dann auf Wiedersehen‘, stammelte ich verlegen. Na ja, dachte ich, Pflanzen sammeln ist nicht verboten – schade, und machte mich mit einem letzten Blick auf die dahinziehende Schönheit wieder auf den Weg. Im schnellen Lauf hastete ich über die Wiese zurück auf den Feldweg. Kurz vor dem schmalen Durchfluss zum kleineren Westbecken erblickte ich sie noch einmal für einen kurzen Augenblick. Unbeirrt ging sie über die Wiese und sammelte ihre Pflanzen.“
„Und du bist dir also ganz sicher, dass es sich zweifelsfrei um die junge Frau aus der Kartause handelte?“
„Ja, dessen bin ich mir absolut sicher.“
„Was macht dich so sicher?“
„Eigentlich die zweite Begegnung.“
„Moment. Kannst du hier das Protokoll der ersten Begegnung noch unterschreiben - danke dir.“
„Klar gib her. Ich lese es noch kurz durch, okay“, er nahm das Schriftstück in die Hand, anschließend zog er seinen Füllfederhalter hervor und unterschrieb.
„Ich bin bereit - leg los.“
„Es war am Freitag, also vor drei Tagen am 16. Mai, und zwar nachmittags. Das weiß ich so genau, weil ich Spätdienst hatte. Heute haben wir den 20. Mai - stimmt doch oder?
„Ja“, bestätigte Marina.
„Also weiter, ich mag den Bürokram nicht besonders“, ermahnte sie ihn allmählich zur Eile.
„Ich hatte mir vorgenommen, an diesem Tag um den Nussbaumersee zu joggen. Es gibt da eine alte Bank unter einem alten Nussbaum, auf der ich in der Regel immer eine kurze Pause einlege. Bereits von weitem glänzten in der Sonne die parkierten Fahrzeuge auf dem Waldparkplatz am Nussbaumersee. Schnell war die kurze Brücke über den Seebach überquert. Kurz darauf bog ich nach rechts in den Feldweg, um entlang des Nussbaumersees in Richtung Badestellen zu rennen. Ich hatte mir vorgenommen, auf halber Strecke bei der hölzernen Bank eine kurze Rast einzulegen. Kurz darauf war ich an meinem Ziel unter dem Baum angelangt. Zu meinem Erstaunen saß jedoch bereits jemand auf der Bank und blickte über den See.
‚Hallo‘, begrüßte ich atemlos die Unbekannte. ‚Entschuldigung, ist hier noch frei.‘
‚Gerne, wenn Ihr euch setzen möget‘, sagte die junge Frau und rutschte etwas beiseite. Ich setzte mich natürlich gerne daneben und musterte sie unauffällig. Mein Herz raste noch immer und in der Ferne lag das kleine Dorf. Schweigend blickte sie zu der recht weit entfernten Ruine Hälfenberg hinüber. Ich erkannte sie als die Kräutersammlerin vom Hasensee. Wie bereits bei der ersten kurzen Begegnung, stach mir ihre etwas altbackene Garderobe ins Auge. Sie trug eine hellblaue Jeanshose und einen eher unpassenden violett-rosa Pullover mit einem Rollkragen.
"Entschuldigen Sie, wenn ich Sie einfach so anspreche. Haben wir uns nicht erst kürzlich beim Hasensee getroffen. Haben Sie nicht Kräuter und Pflanzen gesammelt?‘
‚Dem kann schon sein, edler Herr‘, antwortete sie und schenkte mir ein kurzes Lächeln. Sie war außergewöhnlich, eine natürliche Schönheit und hatte mein Interesse geweckt. Irgendetwas wollte ich über sie in Erfahrung bringen. Sei es nur der kleinste Hinweis. Vielleicht ließe sich etwas über sie bei
Facebook finden.“
„Und hast du sie nach dem Namen gefragt?“, unterbrach Marina interessiert.
„Hast du etwas über sie erfahren – ihren Namen, Telefonnummer, E-Mail-Adresse, Facebook-Profil?“
„Klar, sie hat mir gleich ihre Visitenkarte in die Hand gedrückt“, sagte er und feixte.
„Nein, natürlich nicht. Sonst würde es wohl schon lange in den Akten stehen.
"War Ihre Kräutersuche noch erfolgreich? Die Frage konnte ich mir natürlich nicht verkneifen. Unerwartet wandte sie sich um. Ein kurzer Windhauch blies ihr eine Strähne ins Gesicht. Mit einer schnellen Handbewegung streifte sie das Haar beiseite. Ihre stechenden Augen haben mich förmlich elektrisiert.“
„Ihre stechenden Augen? – Aha! Soll das auch ins Protokoll? Ramseier freut sich sicher sehr über diesen Satz“, scherzte Marina lachend. Aufmerksam notierte sie seine Aussagen.
„Bei dieser Gelegenheit habe ich die Tätowierung am Handgelenk gesehen. Es war diese außergewöhnliche Schlüsselblume."
"Ja durchaus, edler Herr. Es ließen sich gute und wertvolle Heilkroidter finden", schwärmte die unbekannte Schöne mit einer unüberhörbaren Freude in ihrer Stimme.
"Es waren sogar ein paar Wurzeln der zweijährigen großen Klette für die Entgiftung dabei. Ebenso eine ganze Hauff junger Wegerichblätter für die Wundheilung. Sogar noch ein paar Petersil ...‘, hier stoppte sie unerwartet ihre Aufzählung.
"Für die Wundheilung?", fragte ich.
"Ja. Sie werden meiner lieben Mutter gute Linderung ihrer Ungemach bringen. Sie hatte sich am Antonius-Feuer verdorben. Es geht ihr aber bereits wieder sehr viel besser", sagte sie.
"Sie scheinen sich aber sehr gut mit der Heilkunde auszukennen", bemühte ich mich, das Gespräch zu intensivieren.
"Von dieser Krankheit habe ich ehrlich gesagt noch niemals zuvor gehört. Gibt es dagegen nicht wirksamere Mittel heutzutage?" erheischte ich bei ihr das Interesse an einem Gespräch zu wecken. Entgegen meiner Bemühungen hatte sie sich jedoch wieder abgewandt und ihre Blicke zur Ruine Hälfenberg gerichtet. Ihre Haare wehten im Wind und ein wundervoller Duft nach Lavendel strich durch meine Nase.
"Mich deucht, es wäre wohl mählich an der Zeit heimzukehren, junger Herr", sie stand unerwartet auf und reichte mir mit gesenktem Blick die Hand. Von ihrer Geste überrascht, erhob ich mich von der Bank. Ihre Hand war weich wie Samt, der Händedruck angenehm sanft und ihre langen Finger geschmeidig.
"Leben Sie hier in der Nähe?" unternahm ich einen letzten und verzweifelten Versuch, irgendeinen verwertbaren und klaren Hinweis über sie zu erhalten.
"Das könnte man so sagen – ja, werter Herr. Unweit von diesem Ort befindet sich unser Hubengut", sagte sie freundlich, drehte sich um und machte sich auf den Weg. Okay. Keine Antwort ist eine klare Antwort, aber ihr Dialekt ist schon sehr eigenartig, dachte ich. Befangen zwischen Schüchternheit und Anstand folgte ich ihr mit Blicken bis in die Ferne. Mehr kann ich dir nicht sagen. Bis gestern in der Kartause habe ich sie nie mehr gesehen. Ich war selber sehr überrascht, sie in dieser Situation anzutreffen.“
„Sorry, Alexander für die Unterbrechung. Wie hatte sie die Krankheit der Mutter genannt?“, warf der Kollege Hürzeler interessiert ein und kratzte sich grüblerisch an der Stirn.
„Antonius-Feuer, warum fragst du?“
„Hat sie tatsächlich gesagt Antonius-Feuer?“, doppelte Hürzeler augenfällig konsterniert nach.
„Ja genau, daran erinnere ich mich gut. Und weißt du warum? Weil mir bei dem Namen Antonius immer dieser dämliche Spruch über den Eingängen der alten Bauernhäuser einfällt. Heiliger Sankt Florian, schütze dieses Haus und zünd lieber ein anderes an.“
„Aha, Florian wie Antonius, klingt logisch“, sagte Marina und lachte.
„Ihr wisst ja selber, wie das ist mit den kuriosen Assoziationen. Irgendwie kommt das bei mir aber wirklich so zusammen.“ Alexander lachte über die eigene Situationskomik.
„Gibt‘s eigentlich auch was zu trinken in dem Laden?“ Er erhob sich und ging zum Getränkeautomat.
„Hey Leute, das ist echt interessant. Hört bitte mal kurz, was unser Lexikon darüber weiß“, promenierte Ramseier mit einem dicken Buch in der Hand durch den Raum.
„Also ich zitiere: Der weitläufig als Mutterkorn bekannte und parasitär auf Roggen und an deren Süßgräsern lebende Schlauchpilz Claviceps purpurea hat sich schon früh in der Geschichte der Menschheit einen Namen gemacht und wahre Epidemien ausgelöst, die als Antonius-Feuer oder Brandseuche bekannt wurden. Die von diesem Pilz infizierten Getreidegräser bilden an Stelle von gesunden Körnern schwarze, gebogene Dauerstadien, Sklerotien genannt. Bei der Ernte gelangten sie in das Mehl und führten bei den betroffenen Personen zu schweren Vergiftungen. Als Folge der toxischen Wirkung des Mutterkornpilzes krampften sich die Muskeln zusammen, und die Blutgefäße verengten sich zunehmend. Falls kurz danach die Haut anfing zu kribbeln und sich taub anfühlte, war das ein sicheres Zeichen für Durchblutungsstörungen und erst der Beginn eines schmerzhaften Verlustes: Finger, Zehen und nicht selten ganze Gliedmaße fingen an abzusterben und hinterließen nur noch verstümmelte Überreste. Erst im 17. Jahrhundert erkannte man, dass es sich nicht um eine ansteckende Erkrankung, sondern vielmehr um eine Vergiftung, nämlich eine Pilzvergiftung, hervorgerufen durch das später sogenannte Mutterkorn, handelte. Hatte sie dir tatsächlich erklärt, ihre Mutter hätte sich daran verdorben. Sagte sie wirklich ‚verdorben‘?“
„Ja ganz sicher, sie sagte wirklich verdorben.“ Alexander stellte das kühle Getränk auf den Schreibtisch.
„Irgendwie war sie wohl nicht nur mittelalterlich gekleidet, sondern hatte auch ganz mittelalterliche Ansichten“, stutzte Marina, als sie in ihr Protokoll sah.
„Hier heißt es“, sagte Hürzeler:
„Erst im 17. Jahrhundert erkannte man, dass es sich nicht um eine ansteckende Erkrankung, sondern vielmehr um eine Vergiftung, nämlich eine Pilzvergiftung, hervorgerufen durch das später sogenannte Mutterkorn, handelte.“
„Wenn sie also tatsächlich ‚verdorben‘ sagte, dann liegt sie mit ihren Ansichten vor dem 17. Jahrhundert“, wunderte sich Marina. „Wie ist denn das möglich im Zeitalter von Internet und Hochbildung?“ Sie widmete sich wieder dem Protokoll.
„Vielleicht gehört sie zu einer Sekte wie die Mormonen, Quäker oder die Amish People? Heutzutage ist doch gar nichts mehr ausgeschlossen“, warf Hürzeler in den Raum.
„Die meiden doch das Moderne wie der Teufel das Weihwasser - oder etwa nicht?“
„Stimmt“, sagte Alexander nachdenklich. „Das müsste man eigentlich überprüfen.“
„Haben wir derartige Vereinigungen in der Nähe? In Frauenfeld, oder im Zürcher Oberland? Das nennt der Volksmund nicht umsonst, Stündlerengadin“, sinnierte Marina laut.
„Nein. Es gibt keinerlei Einträge im Polizeicomputer“, erklärte Hürzeler vor seinem Bildschirm.
"Dem würde aber ihre moderne Kleidung widersprechen, in der ich sie zweimal angetroffen habe“, berichtigte Alexander.
"Zugegeben, sie war nicht gerade topmodern, etwas rückständig, aber immerhin alles andere als mittelalterlich“, fügte er an.
„Kannst du mir bitte nochmals kurz die Kleidung beschreiben? Mir ist da etwas aufgefallen, wenn ich mich nicht verhört habe.“
„Klar, Hürzeler! Also das erste Mal trug sie eine weiße Hose, ein helles Oberteil mit violetten und blauen Blumenmustern und beim zweiten Mal eine hellblaue Jeans ...“
„ ... und einen violett-rosa Pullover?“, quittierte Ramseier.
„Deine Beschreibung ist wirklich gut. Ich sehe, du hast deine Hausaufgaben aus der Polizeischule gemacht“, Hürzeler grinste.
„Aber im Ernst. Jetzt wird es spannend, Leute.“
„Ich verstehe kein Wort - was meinst du damit, Hürzeler?“, wunderte sich Marina.
„Ihr erinnert euch bestimmt an die Kleiderdiebstähle vom 27.4. und 16.5. in Hüttwilen.“
„Ja klar - warum?“
„Gemäß den Angaben der Geschädigten, stimmt deine Beschreibung der Kleidung haargenau mit den gestohlenen Kleidungsstücken in Hüttwilen überein. Da staunt ihr, was!“
„Im Ernst“, Alexander griff nach dem schriftlichen Bericht seines Kollegen und vertiefte sich in den Zeilen.
„Also, zumindest haben wir jetzt schon mal den Verdacht auf Kleiderdiebstahl gegen sie. Vielleicht bringt uns das schon mal weiter.“
„Gegen sie, Hürzeler? Das klingt irgendwie ziemlich hart. Sie hat ihr Kind verloren. Denkt bitte daran.“
„Wir kennen nicht mal die genauen Zusammenhänge, geschweige denn ihren Namen.“
„Also Leute, es muss doch möglich sein, etwas über ihre Identität zu erfahren. Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter, irgendwo muss sie doch registriert sein. Was sagen die Vermisst-Meldungen?“, ließ Alexander die Sache keine Ruhe.
„In der Schweiz verschwindet doch keiner einfach so.“
„Eben nicht, Marina“, Hürzeler lachte hämisch.
„Zumindest das Steueramt weiß immer, wo sie dich finden.“
„Nochmals rekapitulieren.“ Marina drehte ihren Stuhl und las vom Bildschirm:
„Ich habe sie noch nie zuvor in der Gegend von Nussbaumen oder Hüttwilen gesehen. Trotzdem hat sie mir klar und deutlich auf meine Frage, ob sie in der Nähe wohne mit: ‚Das könnte man so sagen – ja‘, geantwortet. - Die Antwort ist aber nicht ganz klar, Alexander. Eigentlich ist unklar, was sie damit sagen wollte.“
„Vielleicht finden wir mehr heraus, wenn wir uns nochmal kurz in der Region umsehen und etwas herumfragen. Vielleicht gehört sie auf einen der Höfe. Ich meine es gibt immer wieder Fälle von psychisch Beeinträchtigten die versteckt bei ihren Familien hausen“, schlug Marina vor.
„Das ist eine gute Idee. Ich schlage vor, wir fahren zur Ruine Hälfenberg, wo ich sie das erste Mal gesehen habe, beim Hasensee. Versuchen wir es doch mal bei den beiden Aussiedlerhöfen neben der Ruine. Vielleicht wissen die Leute vor Ort mehr.“
„Ist das okay, Chef?“, Marina warf dem Kommandanten Ramseier einen fragenden Blick zu.
„Okay - macht das.“