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Kapitel 8
Оглавление„Na, Frau Esslinger, was haben Sie herausgefunden? Sie haben doch die Vermisstenfälle der vergangenen Wochen recherchiert?“
Ich warf die Bürotür hinter mir ins Schloss, schlüpfte aus meinem Mantel und warf ihn über die Lehne eines freien Bürostuhls. Ich wartete nicht die Antwort meiner Kollegin ab, die mich mit großen Augen ansah und offensichtlich krampfhaft nach einer Antwort suchte.
„Weiblich, vielleicht 30 Jahre, korpulent, dunkelblond, maximal 1,70 Meter groß. Haben Sie da was gefunden?“, schob ich hinterher,
Die Tür öffnete sich erneut und Laufenberg betrat das Zimmer, den Kopf missmutig schüttelnd. Dass ich ihm die Tür einfach in Gedanken und ohne ihn brüskieren zu wollen vor der Nase zugeschlagen hatte, konnte er nicht ahnen. Er ging an mir vorbei und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
Simone blätterte indessen ohne hochzusehen in dem Stapel Unterlagen vor sich auf dem Schreibtisch. „Besondere Merkmale?“, fragte sie beiläufig und hob ihren Blick in meine Richtung.
„Ein zugenähter Mund“, entfuhr es mir, ehe ich die Worte zurückhalten konnte. „Entschuldigung, nein, keine Merkmale“, sagte ich schnell, als ich den Blick Simones auf mich gerichtet sah. Verdammt, was ist mit mir? Ich wollte auf keinen Fall pietätlos wirken und rief mich innerlich zur Raison.
„Eine Frau, vielleicht dreißig, vielleicht etwas weniger, vielleicht etwas mehr“, sagte ich und ließ mich auf einen der drei gepolsterten Stühle nieder, die für Gäste oder Klienten um einen kleinen Tisch angeordnet waren. „Laufenberg hat Fotos, er soll Ihnen eines ausdrucken.“
Dann griff ich zum Telefonhörer und wählte die Nummer von Oberstaatsanwalt Philipp Rodermund. Ich hatte ihn auch binnen weniger Sekunden am anderen Ende der Telefonleitung.
„Thalbach hier, Herr Oberstaatsanwalt. Ich wollte Sie darüber in Kenntnis setzen, dass wir eine Leichensache haben. Offensichtlich Fremdverschulden. Eine Frau, um die dreißig, Identität noch unbekannt. Sie wurde aus der Mosel gefischt. Die Umstände sind allerdings etwas makaber.“
„Eine Frau? Gibt es bei Ihnen irgendwelche Vermisstenfälle, die ein Feststellen der Identität ermöglichen?“, fragte er.
Oberstaatsanwalt Philipp Rodermund war einer derjenigen, die sich richtig in eine Sache reinhängten. Manchmal verbiss er sich sogar so sehr, dass er wieder ein Stück zurückrudern musste. Dennoch, auf seine Unterstützung konnten wir stets hoffen, das konnte man nicht unbedingt von allen Staatsanwälten behaupten.
„Die Frau wurde offensichtlich erstickt. Nein, nicht erwürgt“, gab ich Antwort auf eine Zwischenfrage.
„Ich vermute, man hat ihr eine Plastiktüte über den Hals gezogen. Aber da ist noch was.“
Ich zögerte kurz und sah zu Simone hinüber, deren Aufmerksamkeit sich mir nach dieser Aussage zugewandt hatte. „Man hat ihr … man hat ihr den Mund zugenäht.“
„Haben Sie Anhaltspunkte, warum so etwas geschehen ist? Scheinen mir doch sehr perverse Motive zu sein.“
„Nein, ein Motiv ist noch nicht erkennbar. Wir stehen ja auch erst am Anfang der Ermittlungen. Außerdem wissen wir nicht einmal, wer die Frau ist. Unsere Recherchen laufen auf Hochtouren. Ich wollte … es geht um die Obduktion.“
„Ja, natürlich, ich kümmere mich darum. Sie haben Glück. Der Obduzent, Professor Habermann, hat eine Leichenöffnung in Idar-Oberstein. Ich veranlasse, dass er herkommt. Sie werden informiert. Schätze, dass er in zwei Stunden hier sein kann.“
Rodermund gab mir noch einige Ratschläge, derer es nicht bedurft hätte und ich legte den Hörer auf die Gabel. Ich sah auf meine Uhr und wandte mich an Laufenberg.
„Beeilen Sie sich. In spätestens zwei Stunden ist der Termin in der Gerichtsmedizin. Wir haben Glück. Oberstaatsanwalt Rodermund nimmt Kontakt mit dem Obduzenten auf. Der hat gerade heute in Idar-Oberstein eine Autopsie und wird vermutlich anschließend die Frau aus der Mosel im Sektionsraum der Stadtklinik obduzieren. Rodermund wird dafür sorgen, dass es klappt.“
„Wer ist es denn?“
Es klang wiederum beiläufig, denn Simone blätterte immer noch in den Akten, auf der Suche nach einer Vermissten der vergangenen Tage.
„Professor Habermann“, antwortete ich. Wer sollte es sonst schon sein. Habermann obduzierte immer in Trier. In seltenen Ausnahmen kam ein Pathologe aus Homburg. Habermann praktizierte als Pathologe an der Mainzer Universität und gerne griff man auf Kräfte aus dem eigenen Bundesland zurück.
Mein Rücken fühlte sich verspannt an und ich dehnte die gestreckten Arme bis zum Anschlag nach hinten.
„Bin ja gespannt, ob er noch mit dem gleichen Gehilfen zusammenarbeitet, diesem … der mit dem polnischen Namen.“
„Paulsen? Ist doch ein deutscher Name“, kam es erstaunt aus der Ecke Laufenbergs.
„Wladimir ist sein Vorname“, belehrte ihn Simone. „Und der ist polnisch.“
„Ich halte ihn eher für russisch, aber egal“, gab ich meinen Senf dazu. „Frau Esslinger, es wäre toll, wenn Sie innerhalb der nächsten Stunde etwas herausfinden könnten. Bezüglich der vermissten Personen, meine ich. Die Presse muss noch informiert werden und eine Statusmeldung an das LKA sollte auch baldmöglichst geschehen.“
Simone sah stirnrunzelnd kurz zu mir herüber und blätterte dann mit einem leichten Kopfnicken in ihren Akten weiter.
Das Läuten des Telefons auf dem Schreibtisch Laufenbergs drängte sich in die entstandene Stille. Er hob ab, hörte kurz zu und wandte sich mir zu, während er mit der freien Hand die Sprechmuschel zuhielt.
„Der Dauerdienst. Kollege Endres sagt, ein Mann wolle seine Frau als vermisst melden. Ein Arzt, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Endres dachte dabei an die Tote aus der Mosel. Was soll ich ihm sagen?“
Ich überlegte kurz, dann sagte ich: „Er soll ihn kommentarlos zu uns bringen.“
Dann wandte ich mich Simone zu. „Verdammter Mist. Mein Gefühl sagt mir, dass Sie nicht mehr weitersuchen müssen.“
Kurz darauf stand er vor uns, ein kräftiger, leicht untersetzter junger Mann, dessen blasses Gesicht sich von den dunklen Haaren deutlich abhob. Er sah uns erwartungsvoll an.
Ich stand auf und ging ihm entgegen. „Kommen Sie, nehmen Sie Platz. Der Kollege sagte, Sie wollten eine Vermisstenanzeige aufgeben? Sagen Sie uns, wer Sie sind und was Ihr Anliegen ist.“
„Das hier ist doch die Kriminalpolizei. Warum schickt man mich zur Kriminalpolizei? Ist etwas mit meiner Frau? Ist etwas …?“
Ich schüttelte den Kopf und gab dem Mann ein Zeichen, auf einem der Gästestühle Platz zu nehmen.
„Natürlich ist das hier die Kriminalpolizei, Herr …“
„Brunner, Dr. Frederik Brunner, entschuldigen Sie, ich vergaß mich vorzustellen, aber …“
„Sie wollen eine Vermisstenanzeige aufgeben. Das ist nun mal Angelegenheit der Kriminalpolizei, Herr Dr. Brunner. Worum geht es denn?“
Ich stellte die Frage in bewusst ruhigem Ton, denn ich wollte den jungen Mann erst einmal aus seinem Erregungszustand befreien. Das Gespräch würde Erkenntnisse darüber geben, ob es sich bei der Toten eventuell um die Person handelte, die Brunner als vermisst melden wollte.
„Vera, meine Frau, ist seit gestern Abend spurlos verschwunden.“ Brunner sah mich hilfesuchend an. „Sie hatte gestern Probe. Sie proben immer mittwochs. Sie ist jedoch dort nicht aufgetaucht und auch danach nicht nach Hause zurückgekehrt.“
„Nun mal eins nach dem anderen, Herr Brunner. Ihre Frau ging gestern Abend zu Probe. Was für eine Probe meinen Sie?“
„Vera singt im Projektchor des städtischen Theaters. Demnächst steht ein großer Auftritt bevor. Aber dort ist sie nicht erschienen. Sie hängt an diesem Chor und würde nie eine Probe verpassen.“
„Waren Sie zuhause, als sie ging? Haben Sie auf sie zuhause gewartet?“
Ich wartete gespannt auf die Antwort und sah Brunner prüfend an.
„Nein, ich hatte Nachtdienst, in der Stadtklinik. Chirurgie. Eine Mitsängerin im Chor, oder besser gesagt, Veras Freundin, hat mich im Krankenhaus angerufen und informiert. Ich bin sofort nach Hause gefahren und habe nach ihr gesucht.“
„Sie war also nicht dort“, stellte ich fest. „Haben Sie bei Bekannten, Freunden nachgefragt? Oder hatte Ihre Frau doch etwas anders vor an diesem Abend?“
„Was meinen Sie? Was soll sie denn vorgehabt haben?“ Brunner starrte mich mit großen Augen an. „Ach, jetzt weiß ich, was Sie meinen. Nein, nein, meine Frau hat keine Liebschaft. Wir lieben uns. Das ist ausgeschlossen. Außerdem, wenn es so wäre, hätte sie mich spätestens heute darüber aufgeklärt. Aber einfach so wegbleiben? Nein, das tut meine Vera nicht.“
„Gut.“ Ich resignierte vorerst ob dieses großen Vertrauensbeweises. Mehr fiel mir im Moment dazu nicht ein. Ich dachte an die tote Frau in der Gerichtsmedizin.
„Haben Sie ein Foto Ihrer Frau dabei“, fragte ich und hoffte, dass es das Bild einer Frau sein würde ohne eine Ähnlichkeit mit der Toten.
Brunner nahm seine Briefmappe aus der Tasche seines grauen Sakkos, unter dem er nur ein weißes Hemd trug, das Hemd, das er offensichtlich auch unter seiner Dienstkleidung zu tragen pflegte.
Nach dem Nachtdienst hatte er sich wahrscheinlich nicht mehr umgezogen, sondern war in der Gegend umhergeirrt und hatte überall nach Vera gesucht. Eine Vermisstenanzeige zu erstatten war ihm sicher erst gegen Mittag in den Sinn gekommen, zu sehr müssen seine Gedanken mit der Suche beschäftigt gewesen sein.
Er reichte mir das Foto, das seine Frau lachend im Vordergrund der Mariensäule und der Weite der Stadt tief im Tal dahinter zeigte und sah mich erwartungsvoll an.
„Das Foto ist noch nicht alt“, sagte er, den Blick nicht von dem Bild lassend. „Vielleicht drei Monate“, fügte er schließlich hinzu.
Ich blickte auf das Bild und spürte die fragenden Augen Brunners auf mich gerichtet. Ich spürte sie, ohne dass ich zu ihm hinübersah. Meine Augen tasteten das Gesicht Veras ab, meine Gedanken bauten das Bild der Toten vor mir auf. Ich fühlte mich erleichtert. Die Frau auf dem Foto war nicht die Tote in der Gerichtsmedizin.
Ich atmete tief durch und sah Brunner direkt und freundlich an.
„Darf ich das Foto behalten? Sie bekommen es natürlich zurück. Der Kollege“, ich blickte in Laufenbergs Richtung, „wird die Vermisstenanzeige aufnehmen. Danach werden wir eine Suchmeldung herausgeben.“
„Eine Suchmeldung? Sie meinen …?“
„Herr Brunner, wir machen Folgendes: Unsere Fahndung wird sich, sagen wir mal für die nächsten vier Stunden, auf die polizeiliche Suche beschränken. Vielleicht ist Ihre Frau heute Abend ja wieder bei Ihnen zu Hause. Dann sagen Sie uns Bescheid und alles ist wieder in Ordnung.“
„Was ist, wenn sie … wenn sie heute Abend nicht wieder zu Hause ist? Ich muss doch wieder zum Nachtdienst.“
Die Frage Brunners klang weinerlich und ich beeilte mich, ihm den Werdegang zu erklären. „Dann werden Sie uns davon in Kenntnis setzen. Wir werden die lokale Presse und andere Medien einschalten, daran werden wir nicht vorbeikommen. Hören Sie, sobald wir hier fertig sind, gehen Sie nach Hause und legen sich etwas hin. Ein Arzt sollte doch ausgeruht sein bei seiner Arbeit, nicht wahr. Wenn sich etwas tut, werden wir Sie sofort benachrichtigen.“
Kaum hatte Brunner mein Büro verlassen, läutete das Telefon.
„Nette, du?“, wunderte ich mich, denn Antoinette rief mich selten auf meiner Dienststelle an und wenn, dann entschied sie sich für mein Mobiltelefon. „Sei mir bitte nicht böse, ich stecke in einem Fall, der mich sehr beansprucht, aber heute Abend …“
„Ich war heute beim Arzt“, hörte ich Nette sagen, ohne dass sie auf meine Bemerkung einging. Dann stockte sie. „Wann kommst du nach Hause?“
Ich wunderte mich über ihre Frage, obwohl ich eingestehen musste, dass ich in letzter Zeit kaum regelmäßigen Dienstschluss und damit kein geregeltes Nachhausekommen vorweisen konnte. Doch gleichzeitig beschlich mich ein Gefühl der Beklemmung. Was meinte sie? Noch nie hatte sie mich danach gefragt, wann ich nach Dienstschluss bei ihr sein würde. Ich überlegte kurz, warum sie mir von ihrem Arztbesuch erzählt.
„Möchtest du, dass ich nach Hause komme, jetzt gleich?“, hörte ich mich leise fragen. „Es ist kein Problem, eine Stunde wird man mich hier entbehren können.“
Ich höre ein leises Lachen in der Leitung. „Nein, mein Lieber, es geht schon. Wir sehen uns ja heute Abend, bis dahin ist es nicht mehr lange. Oder hast du vor Überstunden zu machen?“
Es klang nicht ängstlich oder vorwurfsvoll. Es klang wie eine normale Frage. Dennoch fühlte ich, dass etwas nicht so war wie immer.
„Ich bin pünktlich heute“, sagte ich leise. „Ich freue mich auf den Abend.“
Als ich den Hörer auflegte, sah ich in die fragenden Gesichter von Alexander Laufenberg und Simone Esslinger.
„Alles okay“, versicherte ich ihnen und bemühte mich zu lächeln. „Aber egal, was heute noch geschieht: Ich werde pünktlich Feierabend machen.“