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Kapitel 9
ОглавлениеEr hasste den Geruch der Schule und des Klassenzimmers ebenso wie den der Tafel hinter dem Lehrerpult, die jeden Morgen frisch eingeölt wurde, so dass die Kreidezeichen oftmals kaum darauf zu lesen waren.
Er hasste auch die Kinder, die am frühen Morgen die Klassenräume stürmten, als wüssten sie nicht, was ihnen bevorstünde. Zu seiner Genugtuung aber verflüchtigte sich diese Fröhlichkeit zu der Stunde, für die „sie“ in der Klasse auftauchte.
Sie, das war die Lehrerin, die gleich drei Fächer unterrichtete und die man deswegen auch am längsten während des Unterrichtsmorgens ertragen musste.
Sie, das war die Frau, die ungefähr so alt war wie seine Mutter und die er auch in vielen Dingen mit ihr gleichstellte. Es war ihre Stimme, es war ihr großer Mund und es waren die schlechten Zähne, an die sich sein Blick dann heftete, wenn er seine Gedanken abschaltete, um damit die Geräusche zu eliminierten, die das Innere in seinem Kopf sonst zum Bersten gebracht hätten.
Heute geschah es bereits in der ersten Unterrichtsstunde, als sie ihn nach vorne rief, um ihn eine Rechenaufgabe an der Tafel lösen zu lassen. Doch seine Gedanken waren nicht bei der Aufgabe, sie waren bei ihrer Stimme, dieser impertinenten und hohen Stimmlage.
„Du hast wieder deine Aufgaben nicht gemacht. Es ist immer dasselbe mit dir, allein, es ist ja auch kein Wunder, bei deiner Erziehung. Deine Mutter sollte sich mehr um dich kümmern. Aber die hat ja andere Dinge im Kopf. Immer sind es nur ...“
Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf sein eigenes Ich. Die lamentierende Stimme geriet mehr und mehr in den Hintergrund, bis er sie kaum noch wahrnahm. Er öffnete seine Augen, um ihr in das Gesicht zu blicken. Er sah ihren großen Mund, wie er sich zum Formen der Worte öffnete und schloss. Er sah ihre schlechten Zähne, die aufgerissenen Augen und er fragte sich, ob ihr Hass größer war als der seine.
Er spürte eine Wärme an seinem rechten Bein und senkte seinen Blick langsam nach unten. Eine kleine Pfütze hatte sich zwischen seinen Schuhen gebildet und er sah, wie sie mehr und mehr an Umfang zunahm. Er sah nach oben in das erschrocken-erstaunte Gesicht dieser Person und blickte in ein Drachengesicht mit feuriger Zunge und hervorstehenden roten Augen. Er sah, wie sich ihr Arm hob und sich die Hand zu einer Fläche öffnete. Doch bevor ihn der Schlag ereilen konnte, drehte er sich um, rannte zur Tür, öffnete sie und schlug sie von außen mit aller Kraft zu.
Als er auf der Straße stand, atmete er hektisch eine Zeitlang durch und beruhigte so seinen Kreislauf. Dann drehte er seinen Kopf und blickte dorthin, wo er sein Klassenzimmer und seine Peinigerin wusste. Er sprach nicht, seine Augen und seine verkniffenen Lippen drückten lautlos die Worte aus, die ihn seine Kindheit über begleiteten:
„Wenn ich mal groß bin ...“