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Kapitel 1

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Er stand da wie ein Fels in der Brandung. So wirkte er nach außen hin.

Doch in seinem Inneren schoss das Wasser seines Lebens den Fels entlang nach unten und bildete einen See aus Tränen.

Er sah seine Mutter mit aufgerissenen Augen an. Seine Lippen bewegten sich und wäre es still im Raum gewesen, hätte man die zitternd gehauchten Worte aus seinem jungen Mund verstehen können:

„Mama! Bitte nicht mehr schimpfen!“

So stand er da, mit seinen sieben Lebensjahren, in denen er kaum auf schöne Momente, die ihm wie jedem anderen Kind so wichtig gewesen wären, zurückblicken konnte und sah zu ihr empor. Er sah ihren wütenden, stehenden Blick und die immerwährenden Bewegungen ihres großen und breiten Mundes. Der aggressive Hall ihrer Stimme übertönte seine Gedanken und irgendwann hatte er sie in seinem Kopf ausgeschaltet. Er hatte sich diese Fähigkeit nach und nach angeeignet und versetzte sich dadurch in eine Art Trance, die ihm überlebenswichtig schien. Das gelang ihm nur für eine kurze Zeit, doch es war immerhin diese Zeit, in der er glaubte, auf einer dunklen Wolke zu schweben, nichts und niemanden um ihn herum wahrzunehmen.

Er sah nur den sich auf und zu bewegenden Mund seiner Mutter, die ungepflegten Zähne, welche hinter ihren Lippen in unregelmäßigem Rhythmus aufblitzten und die irr erscheinenden Augen, die auf ihn herunter starrten. Manchmal, wenn sie sich zu ihm nach unten beugte, wobei ihr die blonden fettigen Haare vor das Gesicht fielen, roch er den Alkohol aus ihrem Mund. Dann schlich sich ein Gefühl der Schuld in sein kleines Herz, denn er war stets der Überbringer dieser Droge, von der sie inzwischen nicht mehr lassen konnte. Was sollte er tun? Ihm blieb doch keine Wahl.

Er sah ihren großen Mund und ihr verzerrtes Gesicht, doch er blieb tapfer stehen und sah sie nur an.

„Mama, bitte!“

Er sagte es so leise, dass er selbst seine Worte nicht hören konnte. Er hatte diese Situation schon oft durchmachen müssen in seinem jungen Leben. Einen Grund, ihn anzuschreien, ihn zu schlagen, hatte seine Mutter immer gefunden.

Er schloss die Augen und schaltete wieder einmal seine Wahrnehmungen einfach aus. Es war für ihn, als höre er eine Stimme aus einem gedämpften Raum, eine Stimme, deren Silben und Wörter er nicht verstehen und ihren Sinn nicht ergründen konnte.

Dann, als habe man eine schalldichte Tür mit einem Ruck geöffnet, drang ihre Stimme wieder in seine Gehirnwindungen und ihre Lautstärke dröhnte in seinen Ohren.

„Wie oft habe ich dir gesagt, dass du nach dem Einkauf sofort nach Hause kommen sollst! Mich lässt man nicht warten! Du bist genau wie dein Vater! Ein Glück, dass er auf und davon ist.“

Ihre schrille Stimme versagte für einen Moment und Speichel tropfte aus einem ihrer Mundwinkel vor ihm auf die Erde.

Er kannte seinen Vater kaum, denn kurz nachdem die kindlichen Erinnerungen Teil seines Lebens geworden waren, wurden diejenigen an seinen Erzeuger wieder ausgelöscht. In seinen Gedanken tauchte sein Vater nur schemenhaft auf und er sah dies in seinen jungen Jahren bereits als einen psychologischen Vorteil, der ihm allzu persönliche Gefühle ersparte. In seinem Herzen aber war sein Vater präsent, der ihm in schweren Zeiten Kraft gab, mit dem er redete, auch wenn er keine Antwort erhielt. Sein imaginärer Vater, von dem er nur eine vage bildhafte Vorstellung hatte, bei dem er dennoch Schutz suchte, wenn er nicht mehr weiterwusste.

Er spürte plötzlich einen brennenden Schmerz auf seiner linken Wange und hätte das Gleichgewicht verloren, wenn in seiner unmittelbaren Nähe nicht der Küchentisch gestanden hätte, an dem er sich im letzten Moment festhalten konnte. Instinktiv griff er sich an die schmerzende Stelle und in seine Augen schossen Tränen.

Seine Mutter lallte irgendetwas Unverständliches, rieb sich ihre Hand und wandte sich von ihm ab. Sie griff nach der rot-gelben Plastiktüte, die ihr Sohn nach dem Nachhausekommen auf einem Stuhl abgelegt hatte, und entnahm ihr eine Flasche mit wässriger Flüssigkeit. Wodka. Das große Wort füllte das Etikett der Flasche fast aus und schien ihr entgegenzurufen: Trink! Trink sofort!

Sie drehte den Schraubverschluss auf und leckte sich über die trockenen Lippen. Als sie die Flasche aufsetzen wollte, sah sie kurz zu ihm hinüber.

„Verschwinde!“ rief sie mit schwankender Stimme. „Mach, dass du fortkommst!“

Der Junge drehte sich langsam um, wobei seine Augen so lange an seine Mutter geheftet blieben, bis die Sperre in seinen Halsmuskeln dies nicht mehr zuließ. Mit gesenktem Kopf verließ er den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Während der Alkohol brennend die Kehle seiner Mutter durchfloss, versuchte der Junge hinter der verschlossenen Tür zu weinen. Der Drang nach dieser Erlösung war groß, doch es verließ keine Träne seine blanken Augen. Er hob den Kopf und in seinem Gesicht zeigte sich harte Entschlossenheit, die in keinem Verhältnis zu seinem kindlichen Wesen stand. Er formulierte einen Satz, dessen ersten Teil er in hörbare Worte fasste. Der unverständliche Rest ging in leisem Flüstern unter:

„Wenn ich einmal groß bin ...!“

Lautlos

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