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Kapitel 4

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Ich starrte auf den leblosen Körper vor mir auf der vom Regen durchnässten Erde. Eine Frau. Sie war nicht groß, vielleicht ein Meter fünfundsechzig, und hatte eine kräftige Figur. Nicht dass ich sie als dick bezeichnet hätte, vollschlank wäre die zutreffende Bezeichnung, wie ich für mich feststellte. Sie hatte mittellange, dunkelblonde Haare. Die Tote lag auf dem Bauch, ihre durchnässte Kleidung lag eng an ihrem Körper an und betonte die Konturen ihrer Figur.

Lange konnte sie noch nicht im Wasser gelegen haben, dafür sah die Leiche zu gut erhalten aus. Ihr Körper war noch nicht aufgetrieben, wie es bei länger im Wasser treibenden Leichen der Fall war. Auch wenn es bis vor wenigen Minuten stark geregnet hatte, war die Außentemperatur bisher nicht unter 20 Grad gefallen.

Ich suchte mit den Augen nach Verletzungen, dort, wo der Körper nicht von der Kleidung bedeckt war. Mein Blick blieb an ihrem Hals haften, der durch den hochgerutschten Kragen ihrer leichten Sommerjacke nur schemenhaft zu erkennen war. Ich ging in die Hocke, begleitet von einem schmerzhaften Knirschen im Bereich meiner Lendenwirbelsäule, fasste mit den Spitzen von Daumen und Zeigefinger den Kragen und legte den Hals der Toten ein Stück frei. Die Todesursache erschien mir eindeutig. Schmale Strangulationsmerkmale von rötlich-bläulicher Farbe, die hinter dem Genick überkreuzt verliefen, ließen keinen Zweifel aufkommen.

„Sie wurde erdrosselt und dann einfach weggeworfen.“

Alexander Laufenberg, der sich von den Kollegen der Wasserschutzpolizei über die Bergungsumstände hatte informieren lassen, stand plötzlich neben mir.

„Was wollte der Täter damit bezwecken?“, fragte er. „Wenn man eine Leiche verschwinden lassen will, geht man anders vor. Wer sie irgendwo ins Wasser wirft, muss schließlich davon ausgehen, dass sie irgendwo wieder an Land gespült wird. Ist doch irgendwie seltsam.“

Ich überging seine Frage und sah Laufenberg erwartungsvoll an. „Ist ein Arzt verständigt?“

„Ja, habe mich darum gekümmert. Muss gleich hier sein. Auch der Leichenbestatter. Soll ich?“ Er sah fragend zu mir auf, während er in die Knie ging und sich der Leiche näherte.

Ich nicke. „Untersuchen Sie die Leiche. Ich werde noch einige Worte mit den Kollegen wechseln.“

Während ich mich zum Boot der Wasserschutzpolizisten begab, um bei den Kollegen die obligatorische Befragung durchzuführen, tat Laufenberg das, was die Vorschriften von uns verlangten. Die polizeiliche Leichenschau musste am Tatort oder eben, wie heute, am Fundort, geschehen. Und sie hatte ein bestimmtes Ritual. Ohne mich umzudrehen konnte ich im Geist jede Handlung meines Kollegen nachvollziehen.

Laufenberg streifte sich ein Paar Einweghandschuhe über. Dann nahm er den Kopf der Toten in beide Hände, hob ihn an und bewegte ihn nach allen Seiten. Obwohl die Todesursache für ihn keine Zweifel aufkommen ließ, tastete er den Kopf nach Verletzungen ab und versuchte, eventuelle Knirschgeräusche im Bereich der Halswirbel zu erkennen oder aber auszuschließen. Offensichtlich gab es dort keine Verletzungen.

Er packte die Arme der Toten, legte sie an deren Körper an und drehte die Frau auf den Rücken. Kurz wurde sein Blick abgelenkt auf ihren rechten Arm, der nach der Drehung gestreckt auf den Boden aufgeklatscht war. Als er seinen Blick auf das Gesicht der Toten richtete, erschrak er so sehr, dass sein Körper zurückzuckte und ein Fluch seine Lippen verließ.

„Was ist los?“ Offensichtlich hat mich Laufenberg nicht kommen hören, denn er zuckte bei meiner Frage kurz zusammen.

„Chef, sehen Sie sich das mal an“, sagte er, während er sich aus seiner hockenden Position aufrichtete und mit gestrecktem Arm auf das Gesicht der Frau zeigte, die ich auf maximal 30 Jahre schätzte.

Ich tastete mit meinen Augen den Kopf der Frau ab und hörte Laufenberg neben mir sagen: „Der Mund, sehen Sie das?“

„Mein Gott!“, entfuhr es mir. Ich hatte schon manches im Verlauf meiner Dienstjahre gesehen, doch das hier … Es war das erste Mal, dass mir so etwas unterkam.

„Was hat man dieser Frau angetan?“ Ohne Rücksicht darauf, dass die unteren Enden meines ohnehin schon gebeutelten Mantels den nassen Boden berührten, beugte ich mich vor und ging langsam in die Hocke, um mir das, was uns beiden Kriminalisten so zusetzte, genauer anzusehen.

„Man hat ihr die Lippen zugenäht“, stellte ich fest und die Worte schienen meinen Mund fast tonlos zu verlassen. Ich sah zu Laufenberg hinauf. „Was für ein jämmerlicher Tod. Sie hatte nicht einmal Gelegenheit, sich ihren Schmerz von der Seele zu schreien.“

Ich erhob mich langsam und strich meinen Mantel glatt.

„Sehen Sie nach, ob uns weitere Überraschungen bevorstehen“, sagte ich leise zu Laufenberg, der sich daraufhin zu der Toten beugte und sich anschickte, ihre Kleidung zu öffnen, es sich dann aber anders zu überlegen schien. Er sah mich an. Ich nickte. Das hatte Zeit. Soll der Doc doch seinen Dienst erst einmal tun. Unseren verbleibenden Part würden wir später in der Leichenhalle der Gerichtsmedizin erfüllen. Nur das Nötigste, jetzt, hier.

„Sehen Sie am Hals nach. Sieht nach Strangulationsmerkmalen aus.“

Laufenberg öffnete Jacke und Bluse der Toten im oberen Bereich und schob die Kragenenden beiseite, so dass sich das Ausmaß der Würgemale deutlich erkennen ließ.

„Seltsam, Chef“, sagte er, während er den Kopf der Toten zur Seite legte. „Ich glaube nicht, dass die Frau erwürgt wurde. Ich habe außerdem meine Zweifel, dass es sich um Strangulationsmerkmale handelt.“

„Was reden Sie da, Laufenberg?“ Ich mühte mich erneut in die Hocke, um mir den Hals der Toten aus der Nähe anzusehen. Dann sah ich es auch.

„Sie könnten recht haben, Laufenberg. Die Frau wurde nicht stranguliert. Das hier sieht aus, als habe man ein … ja, ein Seil oder etwas Ähnliches um ihren Hals gebunden. Allerdings reichte das nicht, um sie zu erwürgen. Haben Sie die Augen überprüft?“

Laufenberg verzichtete auf eine Antwort und hob ein Augenlid der Frau an. Dann nickte er. „Punktuelle Einblutungen, Chef. Der Tod ist auf jeden Fall durch Ersticken eingetreten.“

„Das Seil“, überlegte ich, „es könnte sein, dass man es nur zur Befestigung benutzt hat. Vielleicht hat man der Frau eine Plastiktüte über den Kopf gezogen und diese mit einem Seil zugebunden.“

„Es hat dem Täter nicht gereicht, ihren Mund zuzunähen. Ein jämmerlicher Tod“, bemerkte Laufenberg und erhob sich. „Aber offensichtlich hat der Täter die Tüte nach der Tat wieder entfernt und ebenso das Seil.“

Ich überging Laufenbergs Information. „Hat sie Papiere dabei?“

Laufenberg tastete die Taschen der Jacke und der Hose ab und drehte die Leiche auf die Seite, um an die Gesäßtaschen zu gelangen.

“Nichts, keine Mappe, kein Geldbeutel, kein Schlüsselbund. Nicht mal ein Taschentuch oder einen Lippenstift. Nichts. Absolut nichts.“

Vielleicht hat meine Kollegin auf der Dienststelle ja inzwischen etwas herausgefunden in Bezug auf vermisste Personen, dachte ich und wandte mich an Laufenberg.

„Hat sich Frau Esslinger eigentlich schon gemeldet?“ Doch ich hätte mir die Frage schenken können. Wäre es so gewesen, hätte ich es mitbekommen. Wie erwartet schüttelte er den Kopf.

„Gut, wenn der Arzt die Leiche untersucht hat, soll der Leichenbestatter die Frau in die Gerichtsmedizin bringen. Dort können Sie dann auch Ihre Arbeit zu Ende bringen“, gab ich Anweisung. „Ist schon in Ordnung so. Diese Arbeit läuft uns nicht mehr davon. Ah, Doktor, da sind Sie ja!“

Ich hob die Hand zum Gruß. Leopold Wackershausen war Amtsarzt in der Moselmetropole und uns daher von zahlreichen unvermeidlichen Treffen bekannt. Der schlaksige, hochaufgeschossene Mann war schon jenseits der sechzig und immer wieder war er es, der erschien, wenn Not am Mann war. Allgemeinmediziner mit eigener Praxis konnte man mit solchen Aufträgen nicht mehr hinter dem Ofen hervorlocken, und im Krankenhaus einen Doc anzufordern, darauf konnte man getrost verzichten. Die Ärzte dort waren unabkömmlich und niemand zweifelte an der Richtigkeit der Begründung, wenn eine Absage erfolgte.

„Zu jung, um schon zu sterben“, bemerkte Wackershausen, nachdem er uns begrüßt hatte und auf die Leiche sah. „Ihr habt sie aus dem Wasser gezogen? Ah, ich sehe schon.“

Er beugte sich zu der Leiche, nestelte Handschuhe aus seinem Köfferchen und streifte sie über.

„Was ist das?“, stellte er erschrocken fest. „Wer tut denn so etwas? Das ist mir in meiner langjährigen Praxis noch nicht vorgekommen. Man hat ihr den Mund zugenäht. Und soll ich Ihnen etwas sagen? Das scheint fachgerecht und nach ärztlicher Kunst geschehen zu sein. Ein Kollege als Verbrecher?“

Er schüttelte den Kopf, als wollte er diesen Gedanken von sich weisen, ihn nicht zulassen.

Wackershausen bewegt den Kopf der Toten zur Seite und betrachtete die Verletzungen am Hals näher. „Sie wurde nicht erwürgt. Diese Merkmale lassen den Schluss auf Erdrosseln nicht zu.“

„Ist auch unsere Meinung“, bestätigte ich ihm unsere Einschätzung. „Die punktuellen Rötungen in den Augen sprechen aber für Ersticken, da werden Sie mir wohl recht geben.“

„Sie denken, man hat sie erstickt?“

„Genau. Vielleicht mit einer Plastiktüte, die man …“

„Die man am Hals zusammengebunden hat, darum die Merkmale am Hals, die jedoch nicht tief genug sind, um den Tod durch Erdrosseln herbeizuführen.“

„Wie lange ist die Frau schon tot?“, drängte ich.

„Na ja, oberflächlich betrachtet acht bis zwölf Stunden, schätzungsweise. Auf keinen Fall länger.“

„Dann hat man sie vergangene Nacht in den Fluss geworfen. Sie hatte sich im Rechen der Staustufe verfangen“, sinnierte ich vor mich hin. „Wenn sie, nehmen wir mal an, seit zwölf Stunden tot ist, kann sie theoretisch ein gutes Stück die Mosel herunter getrieben worden sein …“

„Verstehe, Sie wollen wissen, wo man die Frau ins Wasser geworfen hat. Ist schwer zu sagen. Sie kann unterwegs aufgehalten worden sein“, konstatierte der Arzt. „Sie müssen berücksichtigen, dass Brückenpfeiler oder im Wasser schwimmende Gegenstände diese Berechnungen durchaus verfälschen können. Sie werden es herausfinden. Was die Todesbescheinigung betrifft, werde ich sie Ihnen ausstellen. Obwohl für uns hier und jetzt die Todesursache eindeutig zu sein scheint, wird der Eintrag auf ungeklärt lauten, das verstehen Sie doch. Theoretisch kann ja auch …“

„Natürlich, ich weiß“, brummte ich. „Warten wir die Obduktion ab. In der Zwischenzeit werden wir versuchen, die Identität der Frau herauszufinden. Laufenberg, Sie veranlassen, dass die Leiche von der SpuSi entsprechend fotografiert wird. Falls keine Vermisstenmeldung vorliegt, geben Sie eine Pressemeldung mit der Personenbeschreibung heraus. Vielleicht gibt es Zeugen, die verdächtige Beobachtungen gemacht haben. Und machen Sie der Presse dieses Mal Dampf. Wir brauchen die Meldung in der nächsten Ausgabe. Und dann die Fotos an LKA und BKA, das ganze Programm, Sie wissen schon.“

Hinter uns bremste der Leichenwagen mit einem knirschenden Geräusch auf dem Schotter.

„In die Gerichtsmedizin!“, rief ich den beiden schwarz gekleideten Gestalten zu, die sich schwerfällig aus dem Fahrzeug wanden. „Und nichts an der Toten verändern. Nicht entkleiden, nicht einsargen. Lassen Sie die Leiche so, wie sie ist. Wir sind in einer Stunde dort.“

Lautlos

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