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27. Luzern (Schweiz), August 2011

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„Angela! Bitte ans Telefon“, rief eine Frau auf den Flur. Angela Depuis hielt gerade ihre Kaffeetasse fest, während ein Kollege auf dem großen Umgebungsplan, der an der Wand hing, die Absperrungen für die Kundgebung in der nächsten Woche erklärte. Sie waren damit beauftragt worden, bei einer Personensicherung mitzuwirken. Obwohl sie versuchte, unscheinbar zu wirken, widmeten Männer ihr sofort ihre Aufmerksamkeit, egal wo sie auftauchte. Sie war schlank, hatte lange braune Haare und etwas hervorstehende Backenknochen, das gab ihr zusammen mit den großen Augen und dem dunklen Teint eine fremde Anmut. Ihren durchtrainierten Körper bewegte sie katzenhaft, was Männer noch mehr anzog. Ihre Stimme ließ alle ihre Entschlossenheit und ihren eiserenen Willen spüren.

„Ich komme sofort“, rief Sie zurück. „Entschuldigung, Reto, ich bin gleich wieder da.“

Reto Unsold nickte und beschloss, sich auch einen Kaffee zu besorgen. Er war eigentlich das krasse Gegenteil seiner Chefin. Die lockigen Haare fielen bis auf die Schultern, seine Züge waren eher weich und weiblich und nur seine Größe verlieh ihm etwas Männliches, die meisten sahen in ihm einen großen Teddybären. Wenige ahnten seinen eisernen Willen und seine hundertprozentige Loyalität.

Angela Depuis nahm das Telefon in ihrem Büro ab.

„Depuis, Kommissariat Luzern“, sprach sie in den Hörer.

„Hier Zentrale. Vor zwei Minuten kam eine Meldung von einem Korporal Sturmann per Funktelefon. Er bat um schnellstmögliche Entsendung eines Untersuchungsteams und der Spurensicherung an die Kantonalstraße nach Vitznau. Er ist selbst vor Ort. Es hat im Nachgang zu einem schweren Autounfall eine Explosion gegeben. Ein Aktenkoffer, der in einem Unfallauto sichergestellt wurde, ist explodiert und hat einen Polizisten getötet.“

„Wir sind unterwegs, ich und mein Kollege Reto Unsold haben Dienst. Bitte setzen Sie das Spurensicherungsteam in Bewegung.“

„Wird erledigt“, antwortete die Zentrale.

„Reto, es gibt Arbeit, ein toter Polizist in Vitznau!“, rief Angela Depuis in den Flur.

Sie schnappte ihre Umhängetasche, die alle notwendigen Utensilien des Kommissariats-Teams enthielt. Sie merkte, wie sehr sie das Ereignis plötzlich aufwühlte. Ein toter Polizist, das war in Wirklichkeit meistens ein jüngerer Mann mit Frau und Kindern, die jetzt ihren Vater für immer vermissen würden. Immer wieder kam ihr der Anruf vor vier Jahren in den Sinn. Damals wurde sie zu ihrem Vorgesetzten gebeten. Er eröffnete ihr, dass vor einer Stunde ihr Mann im Einsatz zu Tode gekommen war. Von einem Drogendealer auf offener Straße erschossen. In den Rücken. Er hatte keine Chance. Ihre Welt geriet aus den Fugen. Stefan, ihr verstorbener Mann, war ihr Leben und ihre wundervollste Liebe. Niemals hatte sie sich in ihren schlimmsten Albträumen ein solches Ende vorgestellt. Monate der Agonie und Lebensunfähigkeit folgten und oft überlegte sie, ihrem Mann zu folgen. Die nächste Phase, in der sie wieder ihren Dienst aufnahm, war geprägt von einem sehr leichtfertigen Umgang mit ihrem Leben. Sie fuhr halsbrecherisch Auto, drängte sich vor, um bei risikoreichen Einsätzen dabei zu sein. Draufgängerisch spazierte sie angstfrei mitten in geheime Treffen von Drogenhändlern oder hob eigenhändig einen Mädchenhändlerring mitten in Luzern aus und nahm die Hauptübeltäter kurzerhand selbst fest. Schnell haftete an ihr der Spitznamen „wild Angie“. Sie führte viele Monate ein zurückgezogenes und einsiedlerisches Privatleben. Nie ließ sie jemanden einen Blick in ihre Seele werfen, die einem brodelnden Vulkan glich. Erst nach mehr als zwei Jahren kam sie zur Ruhe und konnte, ohne vom Schmerz überwältigt zu werden, an ihre Zeit mit Stefan zurückdenken. Jetzt erst räumte sie seine Sachen aus der Wohnung, weil sie glaubte, dass er das für richtig gehalten hätte. Sie nahm das Leben um sich herum wieder wahr. Ein kleines Mädchen gab ihr damals auf einen Schlag die Kraft, die Freude und das Vertrauen zurück, das Leben wieder anzupacken. Sie fand es in der Nähe der Luzerner Kappelbrücke auf einer Bank an der Reuss sitzen. Es weinte, weil es seine Eltern verloren hatte. Angela Depuis nahm die Kleine auf ihren Arm und tröstete sie. Sie spürte die Angst des Kindes, seine Eltern nicht mehr zu finden. Sie drückte den kleinen Kinderkopf an ihre Wange und küsste sie auf die seidigen Haare. Sofort beruhigte sich das Mädchen und schlang ihre Arme um Angela Depuis. Die Wonne der Berührung durchfuhr sie wie ein elektrischer Schlag. Tränen standen damals in ihren Augen, als sie spürte, wie spontan und unvoreingenommen ihr dieses Kind vertraute. Die Eltern waren schnell gefunden, aber für das kleine Mädchen war sie eine Heldin, ein Engel. Die Familie nahm sie als neues Mitglied auf und noch heute verband sie eine tiefe Freundschaft zu diesen Menschen. Angela Depuis schüttelte alle Gedanken ab, um sich auf den Einsatz zu konzentrieren.

Der Immanuel-Plan

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