Читать книгу Tinser - Hans Leip - Страница 10
7
ОглавлениеAuf der Strecke
Fabrikschornsteine starren wie erstorbene Finger hinter dem Sumpf. Tinser ist an einem Moorloch abgesprungen, um die Hände zu waschen und den Gaumen zu kühlen. Er trocknet sich mit seinem armen Taschentuch, der letzten Erinnerung an die Kantine in Taglai. Da war er Platinsucher gewesen. Und jetzt sitzen die Brüder dort oben in der Moossenke, bis die Unternehmer kommen. Oder sie werden diesen Winter allesamt im Schnee verhungern. Er wird kaum noch etwas für sie tun können, es wäre schon das beste, auf einem Umwege zurückzukehren und mit zu verhungern.
Die Sonne brennt und trocknet seine Kleider. Er hat einen Fluss durchschwimmen müssen, Schüsse sind hinter ihm hergeknallt. Vielleicht ist er schon in der Sowjet-Republik. Durch Wald, Steppe und Morast ist er stark nach Süden abgekommen. Die vergangene Nacht lauert formlos in ihm Gefahr! Das ist der einzige Begriff, der ihm klar im Nacken sitzt. Misstrauisch beobachtet er das Gelände. Wo eine Fabrik ist, kann die Eisenbahn nicht weit sein.
Er hat es längst aufgegeben, Stoi einzuholen. Vielleicht ist es ebensogut, wenn er ihn nie wieder trifft. Er hockt sich zögernd auf sein braves kleines Pferd. Er tätschelt ihm den verschwitzten Hals, es ist zäh und schnell, so klein es ist.
Nun muss er den Weg weiter, den er in der Moorgegend angenommen hat, er muss an der Fabrik vorbei. Der Boden ist ringsum rot von Eisenstein. An der Fabrikmauer stehen Arbeiter in blauen Blusen. Sie beachten kaum, dass er näher kommt, und er fühlt sich erleichtert. Ohne Zaudern grüsst er, sie erwidern es lächelnd. Einer ist etwas abseits gegangen, und Tinser, der eigentlich vorbeireiten will, fragt ihn nach der Station; denn ihm ist auf einmal, als röche er Eisenbahnrauch, und er schnüffelt die Luft ungläubig ein. Es ist lange her, dass er diesen Duft gerochen hat, und er dünkt ihm so lieblich wie jene zarten Düfte vornehmer Mädchen, an die er sich seltsamerweise zugleich erinnert. Der Arbeiter weist zuvorkommend mit beiden Händen die Strasse entlang, es wäre nicht mehr weit. Dabei wendet er kein Auge von dem Pferde, und er lächelt schlitzig, und sein kümmerlicher grauer Bart spreizt sich katerhaft nach den Seiten. Tinser dankt, aber das Pferd zögert, die Hufe anzuheben. Der Arbeiter sieht Tinser an. Die grünen Augenschlitze stechen aus bläulichen Höfen hervor. Sein wulstiger gelber Mund ist noch immer in Lächeln verzogen. Er ist ein Tatar, fast ein Mongole.
„Vor einer Stunde,“ sagt er wundernd, „hat sich genau derselbe Mann wie du in genau derselben Pfütze gewaschen.“
„So, so!“ entgegnet Tinser, und er muss seine ganze Kraft zusammennehmen. Er tritt seinem Gaul heftig in die Weichen, aber das Tier zittert und löst sich kaum, als stehe es in Sirup. Die übrigen Arbeiter sind auch herangetreten. Tinser fühlt, wie sich sein Gesicht vor diesen widerlichen Schlitzaugen verfärbt, er merkt es auch an den Blicken der Kerle.
„Es ist das Sumpffieber!“ murmelt er.
„Der andere hat auch nach der Station gefragt!“ fährt der Katerschnäutzige fort.
Du kannst mich —, denkt Tinser, hält es jedoch für geratener, höflich zu bleiben. Und er knirscht, einen kläglichen Zorn heuchelnd: „Aller Segen dem Kommunismus! Wir haben es uns gemeinsam geholt, bei einer und derselben, und müssen ins Krankenhaus nach Wologda!“
Die Männer wedeln verständnisvoll mit der Hand an ihrem Ohr entlang. Der Schlitzäugige wendet sich an die Arbeiter, sie auf syrjänisch anredend, und das Pferd macht einen Satz und klappert so spornstreichs davon, dass Tinser um ein Haar aus den Bügeln gekippt wäre.
Sehr bald erblickt er einen Kirchturm und Telegraphenpfähle, bald auch Häuser an einer Flussbiegung und einen langgestreckten Schuppen, vor welchem einige Weiber mit Fischen handeln. Er liest den Namen Kereshsk. Da sieht er auch die Geleise, sein Herz springt wie unsinnig. Er reitet um den Schuppen herum.
Hinter dem Schuppen, auf einer Bank, sitzt Stoi. Ganz ruhig sitzt er da, wie ein Bauer, und raucht aus seiner Holzpfeife. Tinser hält stumm vor ihm an. Stoi blickt auf, und ohne dass sein Gesicht besondere Bewegung verriete, sagt er: „Binde das Pferd hinter dem Schuppen an, da holt es sich der Wollustmann ab.“ Er kann also sogar noch Witze machen.
Tinser tut wie gesagt und setzt sich dann neben Stoi. Jetzt erst sieht er, dass der Bayer sich den Bart abgeschnitten hat, schlecht und recht, eigenhändig mit Messer und Zündholz, die Haut ist zerschabt und blutig.
Das Warten wird unerträglich. Stumm sitzen sie nebeneinander. Bauern und Fischer kommen, reisefertig, mit Behagen schwatzend, auch einige Frauen in halbstädtischer Tracht. Tinser geht in den Schuppen, in einer Ecke wird Tee ausgeschenkt, und er stürzt die Becher hinunter. Endlich läuft der Zug ein, wirft seinen Inhalt aus und beginnt zu rangieren. Die Wagen sind von oben bis unten bemalt, aber die grellen Farben beginnen schon zu verblassen und die grossen Worte auch, die mit Schwung am Fusse aufgeknüpfter Adliger die Verbrüderung von Arbeitern und Bauern feiern. Auch sieht man die Hure Europa vom russischen Bären zum letztenmal genotzüchtigt und dann gefressen, während ihre vormaligen Liebhaber, eine Art Feldmarschall und ein griechischer Bischof, von Bajonetten angespiesst, der Sachlage mit gnadewimmerndem Ausdruck zusehen. Der Sowjetstern, sowie Hammer und Sichel sind geschickt auf die leeren Stellen verteilt, während der düstere Schusterschädel Trotzkis und die fanatisch stechenden Pupillen Lenins überlebensgross von jedem zweiten Wagen starren.
Sie haben Zeit genug, es zu betrachten. Hier ist eine Endstation, neu angelegt und unvollkommen. Soldaten steigen mit aus, rote Landmiliz. Sie mustern die Umherstehenden und gehen in den Ort. Tinser hat das Gefühl, als müsste es schief gehen. Auf einmal sieht Stoi ihn ruhig an: „Hast du Angst?“ sagt er. „Der Bauer wird sich hüten, hinter uns herzubiestern. Du hast den Sattel doch liegen lassen? In der rechten Tasche steckt so viel Platin, dass er sich ein ganzes Dorf wiederkaufen kann. Das übrige hab ich hier bezahlt. Man wird uns in Frieden lassen. Unser Pass ist gut.“
Tinser kann nichts erwidern, er ist völlig benommen. Ausserdem ist es Zeit zum Einsteigen. Sie erhalten einen Platz eng nebeneinander zwischen den Bauern. Als der Zug sich in Bewegung gesetzt hat und keine Soldaten eingestiegen sind, nehmen die Bauern die Flaschen vor und trinken Wodka. Und sie sprechen vergnügt: „Väterchen Trotzki hats verboten.“
So fahren sie dahin unter den gröhlenden Muschiks, auf der harten Bank gerüttelt, Schulter an Schulter, und ihre Gedanken kreisen qualvoll und unaufhörlich um das gleiche. Sie schlagen es nicht aus, wenn die Runde der Flasche auch an sie kommt. Ihre Lippen und ihre Augen sind wie Blei. Es wird Abend, die Bauern schnarchen.
Tinser nimmt sein trockenes Brot aus dem Tuch und das letzte Stück Dörrfleisch, und sie essen beide ein wenig.
Danach schläft der Bayer ein. Er lehnt schwer gegen Tinser, der versucht, ganz unbeweglich zu sitzen. Er starrt aus dem Fenster. Das Abendrot ist wie Feuerschein. Er fühlt ein grauenvolles Band zwischen sich und dem im Schlaf stöhnenden Mann. Als schüttelte er etwas ab, so schauert er in sich hinein.
Davon wacht der andere auf. Er stiert Tinser entgeistert an. Sein Mund, der so nackt und zerschunden ist, bewegt sich kauend.
„Sie sagte es einfach so!“ flüstert er mit Anstrengung.
Tinser erträgt es nicht und windet sich vor Grauen. Stoi setzt sich aufrecht hin, sucht seine Pfeife hervor und will sie in Brand setzen. Er hat richtige Streichhölzer, aber seine Hand flackert. Tinser sieht eine Weile zu, dann nimmt er sein Feuerzeug und hält es ihm. Stoi sieht ihn dankbar an und sagt leise: „Ich sah den Feuerschein. Ich hab mir erst hier Zündhölzer kaufen können, und ich hatte kein Feuerzeug wie du. Du hast uns gerettet.“
„Uns?“ entbricht es Tinser.
Aber auf einmal sieht er den kleinen blutigen Lackschuh in der Steppe liegen. Ein Lackschuh ist kein Sattel, den jeder besessen haben kann. Er wird sie verraten. Tinser spürt, wie ihm der Schweiss aus den Poren bricht, und endlich fragt er: „Warum —“
Stoi rutscht so weit gedreht von der Bank, dass er fast mit den Knien den Boden berührt. Seine Augen hängen hervorquellend und irr an Tinsers Mund. Heiser kommt es aus seiner Kehle: „Sie quälte mich so lange, bis ich ihr den Gipfel verriet. Und dann sagte sie einfach zu mir: Schick mir den anderen! — Sie wehrte sich nicht, als ich ihr den Revolver von der Hüfte nahm. Nicht in den Nacken! Das war ihr letztes Wort.“
Der Zug rasselt und wimmert. Das Geräusch der Räder ist wie ein verrückt gewordener Puls. Eine Lampe ist irgendwann angezündet worden und schaukelt trübe im Qualm des Wagens.
Über Tinser ist eine empfindungslose Erschöpfung gekommen. So oder so, es geht uns auch so an den Hals! denkt er im Takt der Räder. Sein Kopf pendelt hin und her, wie die Lampe pendelt. Wenn die Bremsen kreischen, fällt sein Kinn hart vornüber auf die Brust.
Einmal, als der Zug gerade wieder anzieht, sieht er, fast versonnen, die Reihe der Schläfer an, die auf der Erde links und rechts und die gegenüber. In der Ecke sitzt ein Mensch, ein Arbeiter, den er kennt, ein Tatar, ein halber Mongole. Es ist der von der Fabrik, der das Pferd verhext hat. Sonderbar, dass er ihn nicht eher gesehen hat. Er lächelt nicht, er schläft aber auch nicht. Seine grünen brandigen Augenschlitze starren auf einen Punkt, Tinser folgt der Richtung. Sie sehen auf Stois Hände, die einst so gepflegt und fröhlich waren und die nun grau, verschwielt und schlaff über den Knien hängen.