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ОглавлениеDie Schurfjäger
Es ist dort im Ural, fern aller guten Welt, wo sich die Reste gesammelt haben. Deutsche Gefangene, durch die russische Revolution befreit, von der Koltschakarmee neu gepresst und bewaffnet, in den Taglaisümpfen verziert und zermergelt, von den roten Soldaten gehetzt, zerrieben, verschlagen in die gottleeren Öden, bis weit hinter den Töllpos und dahin, wo schon die Tundren ihre giftgrün vereisten Zungen an die Felsstürze lehnen.
An dreissig Mann, das ist der Rest, der arme Rest der ungeheuren Läger von Wostronoi, ja von damals, als noch der sibirische Sommer so warm und feldergrün über den toten Tagen lag.
Aber hier ist ein anderer Sommer. Hoch unter den Kämmen bettet sich eine Senke, ein Moostal, mager und nass. Am Südhang etwas Knieholz, davor ein unregelmässiges, heftiges Bachgeriesel, Wollgras an den Rändern, im Norden milchig schillernde Sumpflöcher, das ist alles. Und im Norden hebt sich die Wand steil in den Himmeldunst, ein wenig den Atem des Eismeeres dämpfend, der unversehens in die grausamen Nächte schneidet.
Dort hausen sie in ihren Bretterzelten, dürr, zäh, vom Schicksal gegerbt, wie Wogulen dumpf und bedürfnislos. Einige Weiber sind dabei, tatarisch, wotjakisch, und Kinder, fremdartig verzerrt, aus dem Abfall der Jahre dazu geworfen.
Platingräber sind sie. Schurfjäger. Seit sie im Taglaigrund das graue Metall kennengelernt haben, hat sie das Sucherfieber nicht verlassen, die Platinkrätze, die teuflische Benommenheit, und sie wühlen und kratzen, sieben und wäschern, und in ihren brandigen Augenhöhlen brennt das Fieber bei Tag und Nacht. Im grossen Hungerjahr haben sie den letzten Vorstoss zur Rückkehr gewagt, als sie noch weit über zweihundert waren. Was wiederkam und den Winter in den Ruinen des Syrjänendorfes am Talfuss verbrachte, das hatte das starre Unbewusstsein von Tieren um den Mund. Den Sommer sind sie wieder hinaufgezogen durch die endlosen Birkenwälder, von der roten Knute und vom Platinfieber getrieben, von dem Bericht des wogulischen Jägers verlockt, höher und nördlicher hinauf, und er hat nicht gelogen.
Die moorige Senke enthält das begehrte, so irrsinnig wertvolle Metall. Aber ihre Werkzeuge sind lächerlich, und einige ziehen vor, mit den Händen in der widerlich feuchten Erde zu wühlen.
Wolken scheuern über die Kämme, rauchen triefend über das Tal. Nur mit Mühe kreiselt die Sonne gegen Mittag durch den Dunst. Wie ein weisslicher Platinklumpen hängt sie da, aber sie rollt eilig und höhnisch über den Südkamm davon.
Und sie hocken in den Schurfen wie in offenen Gräbern, hinter den trübe wachsenden Schuttkegeln, wortlos, hüstelnd, gichtig, verstruppt und verlaust. Der winzige Ertrag stachelt sie immer wieder an. Wenn sie genug haben, wollen sie in die Ebene, Pferde kaufen und auf und davon und herrlich leben. Denn einmal wird wieder Friede sein da unten, wo es warm und feldergrün ist. Und sie wollen die Flüsse hinab zu den Ansiedlungen, wo Menschen im trockenen wohnen, und wollen bis an die Eisenbahn reiten oder auch zu Fuss, und wollen nach Deutschland zurück und in die Heimat.
Stoi und Tinser, das sind ihre Führer, Stoi, weil er ein fabelhafter Kletterer und Elchjäger ist und für manchen Braten sorgt. Einstmals war er der bayrische Hauptmann Staudelhofer. Tinser jedoch hat ihnen die Schmiede eingerichtet und die Feinwage aus dem Nichts hergestellt, und er hat durch die Jahre ein Notizbuch gerettet, das zur Hälfte noch frei ist und in welchem eines jeden Anteil vermerkt wird. Sie machen sich beide nicht soviel aus dem Platin, vielleicht nicht ohne Grund, und haben auch keine Schurfen.
Da ist auch noch Brammer, der früher Schlosser war; er hat aus einem guten, harten Kochgeschirr eine verschliessbare Sache gemacht, und Tinser hat den Schlüssel dazu, und wenn einer ein Körnchen gefunden hat, so wird es gewogen, aufgeschrieben, und Tinser legt es in das vormalige Kochgeschirr, welches sie das Kompaniespint nennen. Es ist eine kindlich einfache Behandlungsweise, den Umständen angemessen. Aber sie vertrauen Tinser, er hat jahrelang bewiesen, dass er ein rechter Kerl ist, und in seiner Hütte werden auch die Waffen aufbewahrt. Von den Gewehren sind nur fünf noch brauchbar, ausserdem haben sie nur wenig Patronen. Wenn einer darum auf die Jagd will, so muss er mit Stoi gehen, und bei ihrer Rückkunft werden die Gewehre wieder in Tinsers Hütte gestellt. So hat man es aus guten Gründen beschlossen.
Aber selten findet einer Zeit, mit Stoi zu gehen, denn man darf nur schiessen, wenn man etwas trifft, und es pflegt immer beschwerlich zu sein. Das Tal wimmelt von Hasen, es ist wie eine grosse Gnade das Jahr, und man fängt sie besser in Schlingen vor den kleinen Haferflecken, die an der Halde gepflanzt sind.
Das Schmiedefeuer übrigens darf niemals erlöschen. Die Tatarenweiber suchen auch die Quellflechte, die eine glasige Masse ergibt, wenn man sie kocht, und sie haben eine Feldküche durch alle Fährnisse hindurchgezogen, aber die Pferde, die einst dazu gehörten, sowie auch die letzten Hunde haben sie längst gegessen. Bald sind die Moosbeeren reif, dann werden die Weiber einen Schnaps brauen, und alle freuen sich darauf.
Wenn Tinser mit Stoi geht, dann gibt er den Schlüssel an Brammer. Er gibt ihm auch ohne Bedenken das Notizbuch, denn die Aufzeichnungen von früher sind in Kurzschrift geschehen.
*
Wieder einmal sind sie unterwegs, einer Bärenfährte nach. Sie überschreiten den niedrigen Westpass, wandern durch das mit Krüppelkiefern bestandene Tal den langen Bogen nach Süden hinab in die Richtung des Jenga-Passes und beginnen in einer Geröllhalde den Gebirgsstock hinanzuklettern, der die Moossenke im Osten und Norden so steil und unzugänglich abschliesst. Den Mantel schräg um Schulter und Hüfte gerollt, die Flinte quer hindurchgesteckt, so steigen sie höher und höher, das Seil am Koppel, die Beine in Pelz verschnürt, urbärtig, und das Haar krault ihnen unter der Fellmütze über den Nacken.
Die Halde verengt sich zur Schlucht. Stoi behauptet, die Spur zu kennen. Graurostig und nass verschwinden die Wände in den hängenden Nebeln. Die Luft fällt kalt und moorig herab. Sie steigen hinein in den tropfenden Dunst, und auf Händen und Füssen nehmen sie eine Seitenrinne an, die bald den Abhang überschwingt, so dass zu ihrer Rechten die Felslehne schauerlich glatt in die Nebeltiefe stürzt. Eine ausgewaschene Kalkader gewährt ihnen mageren Halt. Schnee liegt körnig in den Ritzen, ab und zu in durchsichtiges Eis übergehend. Vorsichtig schieben sie sich aufwärts. Als sie an der schlüpfrigen Kuppe wiederum einen Einstieg gewinnen, der kaminartig und vereist in die Höhe führt, kann Tinser es nicht lassen, etwas von ‚Bären aufgebunden‘ zu murmeln.
„Etwas anderes!“ antwortet Stoi.
Und er klettert vorauf, das aus Sehnen geflochtene Seil abrollend, blasser und blasser im Milchigen aufgesogen. Nach einer Weile dringt ein Jodler von oben herab. Tinser befestigt die Mäntel und Flinten am Seil, die nach seinem Pfiff in die Höhe gehen, von seinem eigenen Seil gegengehalten, welches wiederum in sein Koppel verknotet ist. Dann klettert er nach. Er stammt von der Küste, er kann es nicht mit dem Bayer aufnehmen.
Auf dem Grat, den sie nun erreichen, wetzt der Wind seine eisigen Messer. Aber sie stehen auf einmal über den Nebeln. Unendlich blaut der Himmel über ihnen, und die Sonne verdampft ihren Stirnschweiss, um ihn sogleich aufs neue hervorzuglühen. Der Grat, beiderseitig steil auf die Wolkenkissen stossend, aber unvereist, endet auf einem plattförmigen Gipfel, der wie ein ungeheuerliches, verschliffen glattes Gebiss, altersgelb und bogenförmig sich nach Nordosten erstreckt.
Erst als sie den breiten Felsgrund unter den Füssen haben und die Mäntel überwerfen, drehen sie den Blick nach allen Seiten. Ein unerhörtes, stumm brandendes Wolkenmeer liegt unter ihnen. Nur gegen Süden ragen einige runde Buckel heraus. Auf den höchsten deutend sagt Stoi:
„Der Tollpatsch.“
Dann wirft er sich auf den nackten Boden und blinzt verzückt in die Sonne. Tinser beobachtet ihn misstrauisch, denn er empfindet eine seltsame Rührung.
„Ja, ja, die Sonne!“ sagt er beschämt, lässt sich auch nieder, und sie essen von dem mitgenommenen Röstfleisch.
Aber bald springt der Bayer auf, sichtlich erregt, und auf einmal holt er einen rohen Lederbeutel aus der Tasche, öffnet ihn und hält ihn unter Tinsers Augen.
Der Beutel ist voll von flachen Platinkörnern. Und Tinser wägt ihn in der Hand und murmelt bestürzt, er wäre mindestens das gleiche wie das im Kompaniespint.
Sie gehen weiter, den Gipfelbogen entlang. Fünfhundert Meter tiefer zur Linken liegt die Senke, im ewigen Nebeldach verborgen. Die Hochfläche sattelt sich ein wenig, eine Tundranarbe schiebt sich über das Gestein, ein flacher Krater muldet sich hinab, sumpfig vereist. Der Bayer stürzt hinunter, fällt auf die Knie und wühlt, wühlt mit den Fingern im Eisschlamm.
„Hier! Hier!“ schreit er, wie irr emporspringend.
Zwischen Dreck und Nässe blinken eisengrau die platten Körner.
Und auch Tinser erwacht aus seinem Gleichmut, der Taumel überrennt ihn. Sie brüllen beide in den sengend blauen Himmel, in die unsägliche, schneidend durchwimmerte Einsamkeit, in die im Endlosen verschäumende Wolkenflut, brüllen wie Tiere, trappeln umher, klatschen bis über die Knie in den Moorkessel, der Froststarre ungeachtet, und wühlen, wühlen in unersättlicher Gier, bis sie erschöpft an den Rand torkeln und hinschlagen, plötzlich von einer unfasslichen Qual und Scham durchdämmert, und daliegen unter der Ewigkeit des Himmels, unter dem eisigen Wind, unter der brennenden Sonne und den Namen ihres Vaterlandes in den Stein schluchzen.