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Оглавление,Die Blaue Bluse‘
Sie kommen nach Moskau. Sie stehen im Gewimmel der Menschheit. Niemand fragt sie, niemand rührt sie an, und dennoch fühlen sie sich von Spähern umgeben. Hin und her gehen sie durch die brausenden Schluchten der Strassen, geduckt unter den riesigen, bröckelnden Häusern, vom Verkehr angerempelt, verwirrt von Autobussen und Strassenbahnen. Tölpelhaft gaffen sie schönen, gepuderten Frauen nach und können sich nicht denken, dass es so kurze Kleider gibt. Sie stehen vor den Strassenhändlern und weichen staunend den Männern aus, die so lässig dahinschreiten in dem irrsinnigen Lärm und Getriebe und ihre Sonnenblumenkerne kauen. Riesige Plakate, bunt wie Nordlichter, preisen die Diktatur des Proletariats. Da kommen Kinder, singend in langen Gruppenzügen, rote Tücher um die lieben Köpfe, und sie singen lärmend von der Herrlichkeit des ungeknechteten Menschen. Das sind die Pioniere! sagt jemand voll Stolz. Und da, hoch über den Firsten surrt ein Flugzeug.
Die beiden haben einander untergehakt. Staudelhofer scheint wieder vernünftig zu sein. Er blickt mit Kennermiene in die Restaurants. Aber auf einmal meint er, sie würden hier bestimmt jenen reichen Engländer oder Amerikaner treffen, der den Syrjänen das Platinloch mit Zigaretten abgeschwindelt hätte. Tinser pflichtet ihm begütigend bei. Fort! fort! denkt er fiebernd. Über die Grenze!
Aber sind sie nicht abgesandt?
Stoi erwähnt es, Stoi selber, und ganz kühl bestimmt er, sie wollten sofort zur deutschen Botschaft.
Sie müssen einen verdächtigen Schwarm von Bettlern durchbrechen und kommen sehr eilig die Stufen hinauf. In den Bureaus sind die Sekretäre nicht ohne Misstrauen. Es gäbe so viele Spitzel der Tscheka und dergleichen. Aber ihre Ausweise würden bis morgen geprüft werden.
Wo sie denn bleiben sollten?
Irgendwo beim Mosselprom, sagt man.
Wieder stehen sie vor den Schaufenstern, von Lichtfluten übergossen. Da sind Delikatessen, da ist Obst, oho, sie haben die Bezeichnungen noch nicht ganz vergessen, und da sind Anzüge, nicht nur diese grauen Kittel, da sind Hemden und Kragen. Und auch Schuhe. Kleine Lackschuhe.
Es schauert über ihre Haut. Morgen! sagen sie, und machen ihre Stimme unbefangen. Immer gehen Leute hinter ihnen, schielende Augen. Wann würde man Hand an sie legen?
Müde vom Holperpflaster, fragen sie schliesslich einen der rotmützigen Schutzleute nach dem Mosselprom. Er weist sie in eine Wirtschaft. Es ist ein Arbeiterlokal. Sie lesen an der Tür, dass hier die ‚Blaue Bluse‘ auftritt. Sie sehen sich aufmunternd an, vielleicht ist es ein Kinostück.
Sie essen an dem einfachen Tisch und trinken ein Glas Bier dazu. Bänke und Tische sind in Reihen angeordnet, so dass alle in eine Richtung sehen können. Die Wände sind mit den Bildern der Sowjetführer geschmückt.
Der Raum füllt sich mehr und mehr. Plötzlich wird es dunkel. Nur ein kleines Podium ist grell beleuchtet. Ein Ansager tritt auf, in lauter bunte Schachteln gehüllt, und er spricht von China und der Mandschurei. Er rollt ein langgestrecktes Bild an den Hintergrund, welches Steppe und Berge vorstellen soll.
Tinser denkt daran, wie sie hier sitzen und es gut haben, und dort hausen die Brüder, arm und verkommen.
Und nun tritt ein Mongole auf. Er hebt ein Klagelied an und bittet Russland, ihm zu helfen.
„Seht das Haus, dort seht in der Lubjanka,
Sie starben süss, verglichen meiner Qual!“
Der Schauspieler versteht seine Sache, er wimmert herzzerreissend und verzerrt sein Gesicht zu unsäglicher Scheusslichkeit, als zuckte er im Todeskrampf.
Tinser fühlt seinen Puls stillstehen. Stoi erhebt sich vom Sitz und flüstert: „Er ist es!“
Tinser zieht ihn angstvoll am Kittel. Aber er bückt sich herab mit fliegender, heiserer Stimme:
„Ich wusste es — der Mann in der Bahn — der war es — ohne Bart. Sie hats gesagt — er kommt wieder — da ist er —!“
Die hinter ihm Sitzenden zischeln: „Tiesche! Tiesche! Ruhe! Hinsetzen!“
Stoi sinkt leise röchelnd auf die Bank zurück.
Man hört einen Augenblick überall das mahlende Knirschen der Sonnenblumenkerne. Dann beginnt das Klavier in knöchernen Grässlichkeiten zu erschallen. Der Mongole holt zu einem neuen Vers aus. Er schildert, wie die Weissen und Gelben ihn knechten, fangen und quälen, wie er um die Gnadenkugel fleht:
„Dort im Latz die letzte, letzte Kugel,
Der Tod verspritzt mein Blut —“
Ein gellender Schrei unterbricht ihn, Tinsers Schrei. Und gleich darauf kracht ein Revolver. Licht springt in den Raum. Stoi ist zwischen die Bänke gesunken. Er hat sich in den Mund geschossen.
*
Tinser liegt unruhig. Er will sich erheben, aber sein Körper ist ein kraftloser Fetzen. Zudem rumort ihm das Lied im Schädel, unaufhörlich sägt es in seine Kopfschmerzen.
Seht das Haus, dort seht in der Lubjanka —
Dies ist das Haus. Er zweifelt nicht länger. Ein vergitterter Raum, hier wurden sie zu Tausenden abgeschlachtet. Er ist verhaftet. Stoi hat sich in den Mund geschossen. Nein, die Baryschnja, nein, sich selber auch. Morgen kommt er daran. Tinser, der arme verfluchte Tinser. Aber er hat nichts gestanden, nichts darüber ausgesagt, was Stoi mit in sein Grab nimmt. Er ist auf das Podium gesprungen und hat den Schauspieler mit toller Hand zu erwürgen versucht. Es ist nicht geglückt, zuviele Fäuste sind es gewesen, die ihn zurückgerissen haben. Er fiebert vor sich hin. Er denkt es selber, dass er krank ist. Dies altvertraute, schwebende Gefühl, er kennt es, aus den Gräben, Löchern, Baracken und Sümpfen. Die Orte wirbeln durcheinander. —
Seht das Haus, —
Der Mongole grinst in der Ecke, die Zunge hängt ihm heraus, und er streicht damit winselnd über die Gitterstäbe.
Seht das Haus, dort —
Tinser wirft sich stöhnend hoch. Seine Gedanken klammern sich zusammen. Es ist ein Trugbild. Nun muss er an seinen Vater denken. Trotzig wendet er sich ab. Sein Bruder soll die Werft übernehmen, weil er älter ist und weit eher gefallen. Jonke! sagt seine Mutter. Da wird er das Lächerlichste, was es gibt seiner Meinung nach: Philologe. Es ist nicht zum Lachen, Herr Doktor, singen seine Schwestern im Chor.
Seht das Haus, dort seht —
Verflucht! das nicht! Nicht wieder in die Leichenkiste. Die Schwester? Kleine Alice, schweig! Er flüstert es zärtlich. Er ist jung, ein junger Mann und verliebt; denn Alice Rennold ist blond wie Wiener Tafelbrot. Die Schiffe hüpfen über den Strom. Er schleicht ihr nach. Hinter die Rhododendron, den Schneckenweg entlang. Das weisse Boot hängt in den Davits, sie baden im kühlen Wasser. Er verdurstet noch. Der Mund schwebt vor ihm, zum Küssen lüstern, aber er kann nicht damit trinken, er kann keinen Mund mehr küssen. Es ist keine Zeit. Sie müssen auf die Pferde! Über die Grenze! Es ist Krieg! Sie sind abgesandt! Das Heimweh ist gelacht! Gelacht! Es regnet, ein Fluch, dieser Sumpf! Alles ist durchweicht, das Fleisch, das Brot, die Leichen, der Admiral selbst, selbst die Granaten. Die Mäntel sind weiss von Schimmel, man rupft es ab, es sind ja die Körner, man hätte es längst wissen sollen, Platin auf nassen Ärmeln. Die Maschinen dröhnen über seinem Schädel, über den Wolken, dort in der Zahnplombe. Bagger, he! Bagger, he! Hinein mit ihm! Der Mongole ist wie Gummi. Unversehrt steht er da. Er schiesst! Aber man rutscht einfach fünfhundert Meter ab ins Nebelhafte, man lässt sich einfach los.
Tinser schrickt zusammen, vom Fall betäubt. Er blinzelt um sich, sein Vater ragt schief unter der Pritsche hervor, ein alter Mann, vertuffsteint sozusagen, gelb, quittengelb. Stoierkennt ihn: Der Mann da in der Bahn — ohne Bart — er ist es!
Der Tod verspritzt mein Blut —
Tinser schreit gellend auf. Männer treten herein und heben ihn empor, er wehrt sich nicht. Er wird auf eine Bahre gelegt. Kühl sagt er sich, jetzt wird es geschehen. Nicht in den Nacken! flüstert er. In den Mund! Macht ihn nicht entzwei, den Mund! Er winkt mit der Hand. Ade, ade! Seine Augen sind geschlossen. Viele Tage liegt er schon hier. Er lächelt. Die Bilder der Heimat spielen um sein mageres, von Leiden und Fieber verschattetes Gesicht. Die Wärter setzen ihn nieder. Er reisst den Blick auf, starrt die Wand des Hofes an. Klar kommandiert seine Stimme:
„Legt an! Feuer!“
Im gleichen Augenblick knattert der Motor des Lazarettautos los. Tinser sinkt bewusstlos zurück, die Hand auf der Brust verkrallt.
Dann liegt er in der Klinik, zwei, drei Wochen.
Der deutsche Gesandtschaftssekretär besucht ihn, spricht den Dank des Vaterlandes aus wegen der Brüder dort oben im Ural. Die Moskauer Regierung hätte die Zusicherung bestätigt.
„Und die Stasja Antonowna?“ fragt Tinser.
Der Sekretär zwinkert mit dem Kneifer in der Annahme einer rosigen Herzenssache.
„Die Stasja? Ja, ja!“ lächelt er, um dem Kranken weitere Erklärungen zu ersparen.
„Ja, die Baryschnja!“ nickt Tinser kummervoll und sinkt wieder in sich hinein.
Der Sekretär hat indes noch etwas zu sagen und bringt es heiter und vorsichtig an.
„Sie haben der Sowjetregierung einen grossen Dienst erwiesen. Die Syrjänen-Autonomie hat dort irgendeine Agentin ermorden lassen und macht den Versuch, die Schuld auf zwei ‚weisse‘ Offiziere abzuwälzen. Erklärlich; denn als Sühne wird von Moskau eben jene Platingrube verlangt, die Sie ja gut genug kennen.“
Tinser starrt erschöpft vor sich hin. Die streng-gefügten Turbinen des Geschehens drehen sich und überkreiseln ihn.
Der Sekretär fährt fort: „Ich hab Ihrer Familie gedrahtet. Nur mit Mühe haben wir Sie aus der Gefängnis-Irrenanstalt herausholen können, und nur mit unserer hier beigefügten Erklärung, dass auch wir Sie für unheilbar, jedoch nicht gemeingefährlich krank halten. Beruhigen Sie sich, es ist Formsache. Die Tscheka wird zufällig an Ihnen beweisen wollen, dass sie harmlos, gutmütig und sozusagen gar nicht vorhanden ist. Hier sind Ihre Pässe und Fahrkarten. Unser Agent wird Sie heimlich bis zur Grenze begleiten und Ihnen bei Vorkommnissen zur Seite sein.“
Tinser fragt nicht. Nachmittags kommt ein Telegramm von zu Haus, von seinen Schwestern unterzeichnet. Und er fährt schon denselben Abend.