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ОглавлениеDer Aufbruch
Manchmal steigt der wogulische Jäger über den Westpass. Er ist klein, schwarzsträhnig und pfiffig, sein Gesicht ist mondgross und blank gebeizt wie eine alte Truhe; denn er wäscht sich mit jenem Wasser, das Gott ihm verliehen hat. Er ist gern gesehen, weil er meistens Tabak mitbringt, den ihm einige mit purem Platin aufwiegen, während andere ihm durch die Taternweiber etwas abzuschwänzeln suchen. Die meisten jedoch haben sich längst an getrocknetes und zerbröckeltes Birkenlaub gewöhnt, in das sie etwas Steinklee mischen, und das Platin ist ihnen wahrhaft zu schade. Sie begnügen sich mit seinen Nachrichten, die kostenlos sind. Aber er berichtet immer dasselbe. Schon das drittemal ist er da, und immer noch ist ‚das Gras nass von Männerblut‘. Und immer noch ‚pfeift die Nagaika in das Fleisch der Länder‘.
Der Wogule sagt auch, es lebten noch einige der ‚goldenen Haare‘ in den Ruinen der Ansiedlung im Tal. Er meint die Kranken, die damals im Frühling zurückgeblieben sind.
Die Tatarinnen, die ihn zu nichts verlocken können, schlagen die Karten über ihn und hetzen die Männer auf, indem sie verkünden, er würde Unglück bringen. Und dies drittemal nehmen die Männer den Tabak und wollen ihm nichts dafür bezahlen, sie veralbern ihn, und da er nicht gehen will, laufen sie zu Tinsers Zelt, um ihn mit den Waffen zu ängstigen. Dadurch merkt Tinser es, der gerade dabei ist, den Kindern, die ihn wie schmutzige Äffchen umkreischen, ein mützengrosses Pferd zu schnitzen. Und er macht der Sache ein Ende, indem er dem Wogulen gibt, was ihm zukommt.
Stoi war gerade auf der Jagd, so gut es ging, denn er hat sich damals den Fuss verstaucht, als sie von jenem Gipfel herabgeklettert sind. Er ist sehr erbost, als er zurückkommt, und meint, nun würde ihnen der Jäger wohl tatsächlich Unglück bringen und das aus Rache.
Weil Stoi noch immer humpelt, können sie vorerst nicht wieder hinauf. Aber sie können schweigen. Was würde es auch nützen, das Fieber der anderen auf den gefahrvollen Gipfel zu hetzen. Wenn es auch allen dienen sollte, so reden sie sich ein, man muss es doch schlauer anfangen. Sie schweigen auch voreinander, aber in ihren abgestumpften Gehirnen brüten die Pläne, sieden die Unüberwindlichkeiten, ihre Nächte sind mit betörenden Träumen gefüllt, und wenn sie aus dem flackernden Schlaf aufschrecken, sind sie betroffen, nicht das Heulen und Knirschen der Bagger zu vernehmen.
Ein Seil, man kann es hinauftragen, damit beginnt es. Man lässt es hinunter über die steile Wand, fünfhundert Meter und mehr, man zieht damit eine dünne Stahltrosse herauf, mit dieser eine stärkere, mit dieser einen kleinen Krahn, mit diesem wiederum einen grösseren, und dann die Kabel und so fort, bis man die Baracken heraufwindet, die elektrisch heizbar sind; denn die Nächte müssen furchtbar sein da oben. Und dann kommen die tollen Maschinen, die Sauger, die Bagger, die Felsmühlen, die Spülsieber, Angelegenheiten hoch wie Häuser, welche nun zu toben beginnen auf einen kleinen Schalterdruck hin, um die faule Zahnstelle dort oben heilsam auszubohren und die ausgeschlemmten Häufchen der Millionenwerte blank auf die Reinplatte zu schütteln.
In der Senke selbst aber wird das Kraftwerk stehen, angetrieben vom aufgestauten Wildbach.
Es lässt Tinser keine Ruhe mehr. Er zeichnet die Skizze für ein Stauwerk auf ein Blatt in seinem Notizbuch, und auch für eine Holzturbine, die sie probeweise gebrauchen wollen. Aber es ist schwierig genug, Leute von den Schurfen zu locken, um wenigstens das Stauwehr in Angriff zu nehmen.
Da erscheint plötzlich eines Tages ein fremder Mann im Westpass, begleitet von dem Wogulenjäger und von einem der Kranken, die im Frühling in der zerstörten Talsiedlung zurückgeblieben sind. Es ist ein gutgekleideter Mann, ein Kommissar, ein Vertreter der Syrjänischen Republik.
Die Leute besetzen den Eingang des Tales, und da sich keine Soldaten zeigen, rotten sie sich drohend zusammen. Aber der Mann geht furchtlos unter sie und fragt nach ihrem Anführer. Nur Tinser ist da, Stoi ist, wie gewöhnlich, auf der Jagd. Der Genesene erzählt, es läge unten eine ganze Eskadron Ulanen, wie sie die Roten nennen, aber sie wären ganz friedlich, überall wäre jetzt Frieden in Russland, die Ansiedlungen würden wieder aufgebaut, und er wollte nur seinen Anteil hier oben abholen, ehe er sich da unten ein Rittergut kaufte.
Tinser spricht mit dem Syrjänen. Wenn auch alle gelernt haben, mit dem Russischen einigermassen umzugehen, Tinser kann es doch noch besser, und es scheint auch hierin so zu sein, als wäre es nicht bloss gemeine Schiebung, dass einer Offizier wird. Wenngleich es auch darunter Hunde gegeben hat. Tinser selbst jedoch hustet auf alles, was sogenannte Bildung heisst, und schätzt jeden nach seiner Menschlichkeit ein; das merkt jedes Kind, und es ist anzuerkennen, obschon es nicht immer behaglich ist, einfach als Mensch wie jeweder andere behandelt zu werden. Tinser kennt auch diese Überlegungen und weiss, eines Tages wird es allen überdrüssig sein. Sie würden schon wieder liebend gern Herr Leutnant zu ihm sagen, weil sie davon träumen, dass jemand sie mit Herr Bahnwärter, Herr Kanzlist oder Herr Maurermeister angeredet hätte. Nun, da er mit dem Syrjänen spricht, sind sie halbwegs froh, dass er ihnen die Mühe abnimmt, halbwegs aber mäkeln sie schon, dass er es ist, der verhandelt, als stünde er über ihnen, es kribbelt ihnen allerorts, ihm zuzuzwinkern: Vorsichtiger! Sag das nicht! Gib es ihm! Nicht so! Schärfer! Gleichgültiger! Hau ihn an! Linkes Ohr tiefer! Hierher die Hand! Diese Bewegung! — Tinser fühlt das alles wohl, aber er kümmert sich nicht darum und sagt dem Syrjänen, er könnte ihm leider keinen Tee anbieten. Aber der Genesene zieht einen Ziegel Tee hervor, und alle blicken weniger erfreut auf den kostbaren Tee als vielmehr empört auf Tinser!
Der Kommissar erklärt kurz und höflich, alles Land und die Bodenschätze darin gehörten dem Staate.
Die Leute murren: „Wir gehören also wieder mal an den Galgen! Hört ihrs!“
Der Syrjäne lächelt fein und geringschätzig.
Der Wogule hat es vorgezogen zu verschwinden.
Tinser lässt die Männer zurücktreten und fragt nach den Bedingungen, zugleich darauf hinweisend, dass es nicht leicht sein würde, mit Gewalt in die Senke einzudringen.
Der Kommissar gibt das zu, und es wäre seine Absicht auch nicht. Sie sollten den Sommer über noch geruhig dem Ertrag ihrer Schurfen obliegen und ihn auch ungekürzt behalten als Entgelt für die Entdeckung und Räumung. Denn vor nächstem Sommer wären die Bagger nicht zur Stelle, sie könnten gerne auch als Arbeiter bleiben. Und er lässt seinen Blick über die armseligen Werkzeuge und über die trübe Gräberstadt der Schuttkegel streifen.
Tinser teilt den Leuten das Gesagte mit. Sie sind einverstanden, aber als Arbeiter wollen sie nicht bleiben. Sie wollten im Herbst nach Hause.
Da stünde nichts im Wege, antwortet der Syrjäne. Und er beschreibt den Weg, den sie nach Koshwa zu machen haben.
Danach nimmt er eine Holzbüchse aus seinem mit gefärbtem Leder besetzten Pelzkittel. Die Runde erstarrt in Andacht. Er bietet wahrhaftig wie ein Gentleman in Berlin oder weiss der Teufel wo Tinser eine fertige Zigarette an, nimmt selber eine, zieht eine Streichholzschachtel, entzündet ein Streichholz und gibt es an Tinser. Aber Tinser sieht die Augen der anderen, er tut nur einen Zug, dann gibt er die winzige Lustrolle an Brammer weiter. Wie der Syrjäne das sieht, schüttet er ihnen lachend den Inhalt seiner Büchse hin. Er verspricht auch, in einiger Zeit Tabak, Tee und Konserven heraufzuschicken.
Als der Mann wieder weg ist, kommt Stoi. Tinser ahnt, dass er vergebens einen Aufstieg an der Geröllhalde versucht hat. Nur ein bescheidener Stummel ist noch für ihn übriggeblieben.
„Eine englische Marke!“ sagt er bestürzt und geniesst es kaum.
Danach beschliessen Tinser und er und schlagen es auch den Leuten vor, es sollte jemand hinuntergehen, um sich bei den betreffenden Stellen zu versichern, damit sie wirklich im Herbst ungehindert nach Deutschland kämen.
Aber der Genesene quengelt dazwischen, in Deutschland wäre gar kein Platz für sie. Alles, was aus Russland käme, würde an der Grenze niedergeschossen, solche Angst hätte man dort vor den Bolschewikis, hätten die Soldaten gesagt. Es wäre besser in der Mandschurei, da gäbe es ein angenehmes Leben und jeden Tag zwei Tscherwonzen Löhnung, und das wäre mehr als zwanzig Mark.
Stoi brüllt ihn heftig an, er sollte das erstunkene Gewäsch sein lassen. Aber Tinser fordert sie auf, besorgt um ihr Schicksal, alle gemeinsam und sofort den andern Tag aufzubrechen, er wollte sie führen, wie er sie oft geführt hätte. Er sieht ihre Hände, ihre Gesichter, ihre zerschabte Kleidung, ihre verkrümmten Gestalten, ihre armen Geräte, die gottverlassene Einöde, die ewige Nässe, ihre Gier, ihr menschenunwürdiges Dasein. Sie sollen nach Hause kommen, kein Haar soll ihnen gekrümmt werden, jedermann müsste sich erbarmen über sie und ihr Los.
Aber er redet nicht überzeugend. Denn er fängt einen Blick Stois auf, und da muss er an die morsche Stelle in jenem Berggipfel denken, der hoch über seinem Haupte und über den Wolken lauert. Sie sind noch nicht wieder oben gewesen.
Sein Vorschlag wird auch überstimmt. Sie wären genugsam mit Feuer gewaschen, nun wollten sie erst mal ein wenig ernten, solange das Wetter reichte. Nun, wo sie Konserven und Tabak heraufbekommen sollten.
„Geh hin!“ sagen sie, „geht beide hin und seht vorerst selber nach, ob das Blut schon trocken ist im Gras!“ Und sie sagen auch: „Haltet uns nun nicht länger von der Arbeit ab, denn wir haben keine Zeit, uns umherzutreiben oder Pferdchen zu basteln!“
„Gut!“ brüllt Stoi. „Wir gehen!“
Da gibt Tinser den Schlüssel zum Kompaniespint an Brammer ab, gibt ihm auch das Verzeichnis, das er aus seinem Notizbuch reisst; die Summe wird nachgewogen und verglichen, und alle starren schweigend auf den zarten Haufen in der Schale. Tinser und Stoi haben keinen Schurfanteil daran, und auf das, was ihnen für gemeindienliche Arbeit nach früherem Beschluss zusteht, verzichten sie. Aber man dankt es ihnen nicht gross, man hält sie für grossspurig, und sie hören nur Anweisungen, was sie da unten zu tun hätten, und kaum ein Wort des Bedauerns humpelt ihnen nach.
Brammer und der Genesene, die werden nun ihre Führer und Jäger sein.