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Die Hirnmühle

Sie erreichen den Anschluss an die Linie, die von Archangelsk herunterkommt. In Wologda gelangen sie ungefährdet durch die Bahnhofswache. Ihre Pässe sind gut. Tinser fühlt trotzdem, wie sie eingekreist sind. Stoi ist schon wieder harmlos heiter. Sie essen warme Speisen. Sie staunen die städtische Pracht an, die Frauen, die Plakate, einen amerikanischen Handelsreisenden in Schlips, Kragen und gebügelten Hosen, und sie essen von Tellern mit Messern und Gabeln. Es bekommt ihnen nicht, Tinser muss sich beim Nachtisch übergeben. Dennoch ist alles wie ein Wunder.

Über gewisse Erlebnisse sprechen sie nicht. Sie lassen sich rasieren, hilflos der europäischen Weihe des Parikmachers anheimgegeben. Sie nehmen ein Dampfbad, schon wieder von Unheimlichkeiten gequält. Dann gehen sie zum Kommissar, denn sie haben es nicht vergessen, sie sind ja beauftragt, sind Abgesandte. Sie werden auch vorgelassen und durch die Wache hinaufgeführt. Rondjeff heisst der Kommissar.

Der gepflegte Mann mit dem schwarzen Wangenflaum, gewinnend, schön wie eine Wachsfigur, mit geniesserisch schmetternder Stimme, hat anscheinend grosses Verständnis.

„Ja, diese zweieinhalb Dutz internationaler Genossen!“ trompetet er begeistert. „Sie sollen nicht länger leiden!“

Die beiden, die da in ihren Bauernjacken stehen, der feineren Gesittung entfremdet, sie neigen ihm ihr Herz zu, und er fährt stark und munter fort: „Da, wo der Weizen nicht mehr blüht, ist bitter siedeln! Sind auch Frauen dabei? Tataren? Sind wohl die rechten Säue!“

Er lacht schmetternd, und die beiden grinsen etwas verlegen, und es lässt sich ja nichts darauf erwidern.

„Und,“ sagt er strahlend, „wie wäre es mit der Mandschurei, bestes Weideland, Ackerland, zwei Jahre leichter Dienst?“

„Nein, Deutschland!“ schreit Stoi ihm mir nichts, dir nichts ins Gesicht.

Der vornehme Mann sieht darüber hinweg, und mit der Liebenswürdigkeit grossstädtischer Bildung nickt er lächelnd: „Ich werde es sofort nach Moskau weitergeben! Doch muss ich Sie bitten, einige Tage hier zu bleiben! Übrigens wird sich euer vollgestopfter Westen eines Tages die Finger nach unsern grossen Ebenen lecken. Was empört man sich drüben über unsere rote Sense! Hat sie nicht den Boden gesäubert und jungfräulich gemacht für euch? Denn so sicher wie herabfällt meine Hand auf diesen leeren Tisch, wird eure Überbevölkerung in absehbarer Zeit ruhbedürftig, sehnsüchtig nach eignem Grund, auf den Osten verfallen! Und wir werden den Westen zu empfangen gedenken, so wie der Westen einst empfing die lateinische Kultur und mit der alternden gute Frucht trieb, die nunmehr überreif ist und wiederum der Verjüngung bedarf! Hören Sie? Wir werden den guten Siedlern, die klug sind, tüchtig und wetterfest, nichts Kleinliches in den Weg legen! — Gehen Sie getrost nach Haus! Sie werden eines Tages schon wiederkommen, wenns nicht zu spät ist! Denn, noch eines, meine Braven! —“

Er hat seine Stimme gedämpft, seine Augen stochern in ihre Gesichter.

„Wir erwarten nämlich eine Agentin zurück, die ihnen vielleicht noch andere Arbeitsmöglichkeit bieten wird. Wir haben da Wind von einem Platinlager, dessen Lage und Verkauf die Syrjänen uns verheimlichen wollen, und da diese Dame dort aufgewachsen ist, und die Weiber es besser verstehen, hinter die Schliche —“

Er zieht eine Nagelfeile und legt sie an seine gespreizten Finger. Tinser sieht, wie Stoi erbleicht. Rasch tritt er vor und sagt lächelnd, indem er ein Stück zusammengenähtes Leder aus der Tasche zieht: „Es kann sein, dass wir das Lager kennen. Hier!“

„Eine englische Marke!“ murmelte Stoi.

Der Kommissar trennt die Nähte mit der Nagelfeile auf. Er lässt die grauen Körner in die hohle Hand gleiten. „Ungeheuerlich!“ sagt er. „Was verlangen Sie dafür?“

„Wir schenken es dem russischen Volke! Denn der Rücktransport von Kriegsgefangenen in die Heimat ist ja die selbstverständliche Pflicht der Nationen. Wir brauchen nur die schriftliche Zusicherung!“

„Wahnsinn!“ schreit Stoi dazwischen, auf das Platin starrend, das der Russe sanft hin und her wiegt, nun aber in einem Schreibtisch verschliesst. Er klingelt, diktiert einem Beamten, lässt sie beide photographieren, nach zwei Minuten die entwickelten Lichtbilder einkleben, stempelt, unterschreibt und händigt ihnen die Zusicherung und die Pässe aus. Dabei fragt er, unter den gewölbten Augenlidern hervorschielend, plötzlich auf deutsch: „Nun wer! Die Genossin Stasja Antonowna haben Sie nicht getroffen zufällig? Ihre Wege haben sich bei Kosljansk nicht geschnitten?“

Stoi steht da, grausig lächelnd, und antwortet: „Gewiss, ich habe sie in den Mund getroffen, aber nicht geschnitten!“

Der Kommissar reicht ihm mit schmetterndem Lachen die Hand: „Nun wer! Ich dachte es mir wohl, dass Sie — ein Komiker sind! Eine englische Marke, sagten sie? Zigaretten etwa? Aha!“ und zu Tinser gewandt, flüstert er: „Schicken Sie den Mann ins Sanatorium!“

Damit sind sie entlassen. Verstört schleichen sie die Treppe hinab, gewinnen ungehindert den Ausgang. Da stürzt ihnen ein Offizier nach. Es ist vorbei, denkt Tinser, und schickt sich an, den Kerl zu unterlaufen.

„Keine Sorge!“ ruft dieser freundlich, „ich soll Ihnen nur helfen, den richtigen Zug zu bekommen!“

Es wird Tinser klar, sie sollen auf keinen Fall zurück. Die Agentin? Man wird sie den Syrjänen in die Schuhe schieben. In den Schuh schieben. Sein Sinn verwirrt sich. Vielleicht wird man sie erst in Moskau abfangen. Wie konnte Stoi nur solches Zeug reden! Der Zug schwingt sirrend dahin. Das sanfte Hügelland, das zur Wolga abfällt, wellt von reifenden Feldern.

„Es ist weg!“ murmelt Stoi. „Deins und meins!“

Tinser macht eine unbewusste Bewegung, als stolperte er über einen Sattel. „Für uns alle!“ sagt er.

„Sie starb für uns alle!“ vervollständigt Stoi. Seine Stimme hat einen unechten, gläsernen Klang. Tinser sieht ihn an, bleich und toternst sitzt der Bayer da. Er sieht seltsam mongolisch aus, denkt Tinser bedrückt. Es kommt von den zerfressenden Jahren, von acht mörderischen Jahren, in denen sie schlimmer als Tiere gelebt haben. Und Stoi hat mehr gelitten als er, und was er auch getan hat, er ist das Opfer einer furchtbaren Zeit, einer grausamen Hirn- und Nervenmühle. Hatte das Schicksal sie nicht gleichsam alle durch einen Bagger gedreht? Seine Schuld wie die Schuld aller fällt zurück auf das zerfetzte und zerfetzende Jahrhundert. Wer sagte doch dieses alles schon? quält es ihn. Eine neue Welt brütet Gott aus diesem Dotter Erde. Wie unheimlich und schwer ist doch das, was man Gedanken nennt!

Er überblickt das Abteil, da sitzen Händler, Kleinbauern, da ein Priester, da eine alte Dame, eine verarmte Gutsbesitzerin, da der Werkmeister einer Glasfabrik, wie man vernimmt. Keiner wird ohne Harm davongekommen sein, aber ihr christliches Antlitz ist ihnen doch im ganzen erhalten geblieben. Er sieht sein Bildnis im Pass an und steckt es traurig wieder weg. Einst hat er den Hauptmann um sein fröhliches Jungengesicht beneidet, nun ist alles sinnlos. Er denkt schmerzhaft nach. Es ist vier Jahre her, dass er ihn beneidet hat, damals, als die Sache mit der Schwester bei Taglai war, die daran glauben musste durch den Mongolen, als das Platin weg war. Tinser graust es. Sie ist gerächt worden. Vor seinem Hirn brennt der Mund, so wie er sich zu ihm aufbog, bei der Lampe. Nein, es ist ein anderer Mund, und sie ritten über die Steppe.

Stoi schreckt plötzlich zusammen: „Der Arbeiter, der von der Fabrik! Nein, er ist weg!“

Auch Tinser ist erschrocken. Der Mann ist irgendwo ausgestiegen und verschwunden. Eben vor Wologda haben sie ihn noch gesehen. „Was ist mit ihm?“ fragt er und macht seine Stimme verächtlich. „War es nicht vor Wologda? Dies ist doch, zum Satan, ein anderer Zug.“

„Nichts! Nichts! Er ist ein Tatar!“ versucht Stoi seinem Ton zu folgen.

„Sicher!“

„Kein Mongole!“

„Keine Spur!“

Der Bayer atmet schwer. Eilfertig wiegt der Zug dahin, eine andere Strecke, eine herrliche Fahrt. Dörfer kreisen vorbei, bemalte Kirchtürme. Überall ist hier Sonne. Die Reisenden plaudern. Es ist Frieden und Brot in Russland. Sonnenblumen marschieren als Regimenter des Friedens über die Felder. Stoi murmelt vor sich hin. Tinser zeigt in die Landschaft, um ihn abzulenken. Aber der Bayer schüttelt erregt den Kopf: „Gengers! König Loipold zwei — Prinzregente — schickt mir den Adjutanten. Hier Hauptmann Staudelhofer! Tot!“

Tinser fasst bestürzt seine Hand, sie ist kalt, aber der Puls geht ruhig. Stoi entzieht sie ihm mit einem Ruck, greift sich über die Stirn und brüllt: „Mensch, setzen Sie sich! Du denkst wohl, ich bin verrückt!“

Die Mitreisenden lauschen neugierig auf die erregte fremde Sprache. Tinser setzt sich ruhig hin. Wie eine Erlösung geht es über ihn. Stoi sieht ihn mit furchtsamen Augen an, aber seine Stimme ist wieder ordentlich: „Ich weiss ganz gut, dass der Mongole tot ist!“

„Ganz gewiss!“ antwortet Tinser, wie man einem Kinde antwortet. Aber er selber fühlt gespenstisch, wie sein Gehirn gleichsam zerläuft. Der Wahnsinn! zirpt es in ihm. Er reisst sich aus einer lallenden Tiefe herauf, nimmt sein Geld heraus und zählt es, ungeachtet der Reisenden, und Stoi tut das gleiche. Tinser zählt eine Summe ab und will dafür den Revolver der Baryschnja haben. Stoi jedoch schnappt sofort ein und kehrt sogar ein wenig den Vorgesetzten heraus. Er prahlt, er hätte ihn diesem Komi-ssar, diesem Friseur Rondjeff verheimlicht! Und sie rechnen weiter: Dies für Wäsche, das für Essen und Trinken, dies für Vergnügungen und so fort, und soviel werden sie in deutsches Geld einwechseln. Aber der Bayer stockt. Sie hätten in Moskau zu verhandeln, Maschinen, Krähne, Bagger! Und wegen der Kameraden!

Selbstverständlich wollten sie das!

Und dann zurück, auf den Gipfel!

Ja, dann zurück auf den Gipfel.

Das Herz dreht sich Tinser um. Aber auf einmal erzählt Stoi von Deutschland, seine braunen Augen leuchten, er spricht von den Bergen, halblaut, fast verlegen, allmählich verzückt, von dem See in den Tannen, von einem Lied, von einem Weg unter blühenden Bäumen. Und dann schlägt er die Hände vor sein Gesicht und schluchzt: „Tinser, Tinser, ich will nach Haus!“

Die Leute sehen ihn erstaunt und voll Mitleid an. Tinser blickt hilflos umher, steht auf und schreit feindselig: „Er kann nichts dafür! Er hat Heimweh!“ —

Tinser

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