Читать книгу Tinser - Hans Leip - Страница 13
10
ОглавлениеHeimat
Seine jüngste Schwester wird ihm bis zur Grenzstation entgegenfahren. Die kleine Emely, denkt er, das Kind, in ihrem kurzen Kinderkleid, ungelenk, hanseatisch, wie will sie den weiten Weg ungefährdet zurücklegen. Immerhin wird sie inzwischen ja etwas erwachsen sein.
Er entsteigt dem Zug, gefasst und aufgeräumt. Für sein letztes Geld hat er sich eine schwarze Litewka gekauft und ein Paar kleinfüssige, weisse, hohe Stiefel mit roteingesetztem Lederzierat. Das heisst, letztere will er seiner Schwester mitbringen. Er ist auf nichts Besseres verfallen. Nun steht er da auf dem säuberlichen Bahnsteig. Ein wenig angegriffen und schwindelig noch vom langen Fieber. Es wird auch die Luftveränderung sein. Dies ist schon Deutschland. Die Menge verläuft sich, er sieht sich benommen um. Ein grosses, schönes Mädchen steht in einiger Entfernung, eine strenge, saubere Erscheinung in Grau. Er ahnt, oder möchte wohl ahnen, es wäre seine Schwester. Sie sieht ihn an. Belustigt geht er auf sie zu. Sie wirft die Arme hoch und um seinen Hals, ehe er Zeit hat, seine Fellmütze vom Kopf zu reissen.
„Jonke!“
Er bringt kein Wort heraus. Als zuckte er zusammen unter dem leichten Schlag ihrer Handtasche auf seinem Rücken, so ist es. Sie nennt ihn mit dem Namen, den er seit der Kindheit nicht mehr gehört hat. Alle die Jahre hat er nicht weinen können, an der Leiche jener russischen Schwester nicht und auch nicht in Moskau, als Stoi tot war. Nun steht er da, den Kopf gesenkt, und über seine Wangen laufen haltlos die Tränen, von seinem Kindernamen aufgeschlossen.
„Ach, Joachim!“ sagt sie, und er geniesst unsäglich gerührt den nordischen Klang in ihrer Stimme. Sie nimmt ihr Spitzentuch aus der Handtasche und tupft die feuchten Stellen ab, die auf ihrer Jacke entstanden sind. Sie schluckt auch an etwas, aber sie lässt es nicht hochkommen.
„Schöne Grüsse von Hanna, und sie wäre gern mitgefahren, aber bei dem Haushalt, und da wir nur ein Mädchen haben und Papa so eigen ist —“
„Ja, so, verzeih! Wie gehts euch denn?“
„Ach, so lala!“
„Und der Alte?“
„Ach, Pa ist noch immer der alte. Nun komm, Joachim! Hast du gar kein Gepäck?“
„Nein, nur dies!“
Und er wagt nicht, ihr die lächerlichen Stiefel zu geben. Er geht dahin neben dem schlanken und gutgekleideten Mädchen, sein Sinn ist noch ein wenig wirr. Er war lange fort. Nun ist er auf einmal in Deutschland.
„Du bist sehr gross geworden,“ sagt er bewundernd, und er hofft, sie würde ihn noch einmal Jonke nennen.
„Ja, das kommt mit den Jahren, ich bin nun bald uralt, darum, pass mal auf, wir sind im Auto hier, ist das nicht fein? — Ich bin nämlich verlobt.“
Ein langer Mensch kommt ihnen entgegen, elegant, gewandt und mit einem Monokel blitzend.
„Ubskill!“ sagt er, als stiesse er auf. Das Einglas fällt, er fängt es geschickt und steckt es in die Weste.
„Mein Bruder Joachim!“
Ubskill zieht die Lippen gewinnend voneinander:
„Gruss der Heimat, Kamerad! Leutnant, was? Hier: Balte, Baron, Olaf von, Oberleutnant, gewesen aktiv, elftes zu Fuss, sonst harm- und bodenlos. Wollte noch mal Luft der Väter über Irenze jelehnt beschniefen.“
Tinser lacht gehörig, denn es klingt wahrhaft komisch. Der Baron scheint darauf durchaus erbaut von ihm zu sein. Aber Emely kräust die Nase.
„Du quasselst, Olaf!“ sagt sie glatt.
„Erlaube Täubchen, werte Stimme der Braut! Famoses Schwesterchen, wie? Herr Leutnant werden es vielleicht feenhafter in östlicher Brust bewegt haben. Warte nur, wenn knusprige Fittiche erst mit diversen Kochlöffeln umgürtet sind!“
Sie lachen, sie setzen sich lachend vor das Eydtkuhner Frühstück, vor das Dutzend Spiegeleier mit dem halbpfündigen Speck und vor die Riesenflasche Korn. Tinser ist beglückt und bedrückt zugleich. Die Muttersprache umhüpft ihn so ungewohnt. Man ist hier fröhlich. Sogar der Zollbeamte hat ohne Feierlichkeit durch die Zähne geflötet: ‚Ein Jäger aus Kurpfalz —‘.
„Es regnet nicht einmal!“ sagt Tinser vergnügt.
Und sie lachen, dass der Tisch wackelt. Der Baron lacht wie ein Enterich in einer geraden Folge von knarrenden Geräuschen, Emely in hohen, steifen Arabesken, die sie mit der Hand zu dämpfen sucht, Tinser jedoch dunkel, ohne Linie, mehr im Innern rummelnd.
Sie steigen in den blanken, sandgelben Wagen. Man merkt es Tinser an, dass er derlei lange nicht gewohnt war. Wieder lacht der Balte und diesmal so, als zöge jemand mit einem Stock an einem Holzgitter entlang.
„Jenuss, bester Tinser! Jenussreiche Umstellung auf den Boden der Tatsachen! Entlassen Kamerad den abjestreiften Ur-Aal ins Meer der Vergessenheit! Hätte Sie gern von Moskwa geholt, aber sie lassen sich passenderweise meinen Mercedes wohl hinein, aber nicht hinaus. Und Eisenbahn-Massenplüsch bringe ich mir einfach nicht unter wertesten a propos. Komfort! Eleganz! Freuen Sie sich, dass Sie weder Einach noch Steinstein haben mitzubrauchen gemacht! Runter von der Leber mit gütigsten Abenteuern! Unerhört pyramidone sensatirische Welt-Clou-Atraktätchen: Heimkehr aus dem Höllenhemd, durch Ia-Jazzband gehoben, polizeilich verlängert. Oder sind Sie etwa noch unentziefert?“
„Doch, doch!“ antwortet Tinser ernsthaft, „aber man weiss nicht —“ und er wirft seine Lammfellmütze hinterrücks über das Polster auf die Strasse. Es tut ihm sofort leid, aber ein Köter schnappt sie und rast damit von dannen.
„Nun musst du dreimal ausspucken, die Finger in die Ohren stecken und sprechen: Glück, Glück, Glück! Das ist Sitte in Deutschland,“ sagt Emely.
Und sie lachen, und sie rauschen dahin. Und Tinser sitzt neben seiner Schwester, von ihrer gemessenen Herzlichkeit gerührt. Sie ist eine Dame geworden, von Überlegenheit und strenger Sauberkeit duftend, und ihre Beine strecken sich lang und kühl in sandheller Farbe, von der Fahrt bebend, über das grüne Wagenleder. Sie begegnet seinem verlorenen Blick und errötet leicht, die Hände über die Knie faltend.
„Papa ist eine Sache für sich. Übrigens ist es Mode so kurz, sie machen es alle mit.“ Ihre Stimme ist eifrig, etwas spröde. „Du musst nicht überrascht sein, wenn Pa nicht — überrascht ist. Seit Hugo gefallen ist, ist er sehr alt geworden und sehr unzugänglich. Es hat ihn mehr als Mutters Tod mitgenommen.“
„Und die Werft?“
„Es ist überall wenig zu tun!“
Tinser fühlt einen schwarzen Vorhang über die Landschaft fallen.
„Da hat es wohl wenig Sinn, nach Haus zu kommen!“
„Oh! Wir freuen uns doch so!“
„Ja, ihr! Hanna und du!“
„Er auch!“ — Sie deutet auf den Mann am Steuer, auf den freundlich aufrechten Nacken.
„Ich gratuliere dir übrigens, ich habe es bislang vergessen!“ sagt Tinser, und nach einer Weile: „Baut er noch Segelschiffe?“
„Nur!“
„Und niemand bestellt welche?“
„Leider! Und Galew —“
„Galew? Wer ist Galew?“
„Auf Galew reimt sich sozusagen alles. Früher Kohlenhändler, jetzt macht er alles, gründet alles, kauft alles, liefert alles.“
Tinser fragt nicht weiter. So steht es also. Tinsers Werft! Er spricht es leise vor sich hin. Besonnte Felder schwingen vorüber. Das Korn steht in Hocken. Es ist schon August. Er sieht in Gedanken die Hellinge darüber ragen, der Hafenqualm schwadet durch die leeren Gerüste, Tinser reckt sich auf.
„Ich werde es übernehmen!“
„Pa lässt niemanden heran!“
Tinser zieht den Nacken zusammen. Die Wunde am Hals wird dunkelrot. So war es doch die richtige Ahnung gewesen, die ihn solange zurückgehalten hat. Er beisst die Zähne aufeinander.
„Gut! Ich werde Professor!“
„Auch schön, ein Akademiker in unserer Familie!“ antwortet seine Schwester mit erzwungener Fröhlichkeit. „Übrigens Alice Rennold ist noch immer in Süd und soll sich da verlobt haben, bei den Verwandten von Rennolds neuer Frau, Halbblut, weisst du. Als sie wegging, Alice, weinte sie richtig, und ich sollte dich grüssen. Denn sie hat fast mehr als wir immer noch an deine Rückkehr geglaubt!“
Der Balte ruft vom Steuer zurück: „Was schäkert ihr da so tiefsinnig!“
„Wir sind Deutsche!“ lächelt sie ihn an. Oh, sie weiss sich zusammenzunehmen. Tinser fühlt es mit Stolz, und es hilft ihm gut, die blonde Erinnerung noch einmal zu begraben.
*
Dann sind sie in Königsberg, in der guten, giebelschönen Stadt. Gefestigt und reinlich legt der scheidende Tag Freude über die gepflegten Strassen. Ja, es ist Deutschland! Backfische kommen eilig aus einer Konditorei, die Münder noch süss von Sahne. Tinser hört es im Hineingehen, wie sie schnippisch von Schularbeiten sprechen, und sie haben Schillers Glocke zu morgen ganz auf. Er steht da und sieht ihnen mit halboffenen Lippen nach.
„Pschakreff!“ lässt der Balte sein Holzgitter errasseln. „Brüderliche Hoheit bringt den Geschmack der Gereiften mit nach Haus; Konfirmandinnen-Flaum auf die alten Stoppeln, das wirkt jeradezu wie Thomasschlacke!“
Emely lacht, sie lacht, fällt ihm ein, wie man in Hamburg lacht, mit dem sittlichen Vorbehalt des Nichtverstehens.
„Nein!“ sagt sie auf einmal. „Wie siehst du bloss mongolisch aus!“
„Nee, nee!“ rasselt der Baron. „Ne jelbe Mandarine am Tinserschen Fichtenast!“
„Es kommt vom Klima, vom Fieber,“ entgegnet Tinser unsicher, „es wird bald abziehen, wir haben oft nur Moos gegessen.“
Sie malen ein Erschauern in Stirnfalten und düsterem Nicken, erwähnen Rübenwinter, Margarine und Dörrgemüse, und er soll erzählen, erzählen. Aber er bringt nichts Rechtes heraus. Als sie weiter in den Abend gleiten, da sieht er auf einmal heftig zur Seite.
„Und dieser Galew?“ knirscht er.
Das Mädchen knickt vornüber, das zarte Tuch vorm Gesicht.
„Joachim!“ schluchzt sie, „vielleicht ist es doch gut, dass du gekommen bist!“