Читать книгу Tinser - Hans Leip - Страница 9
6
ОглавлениеFeuer im Osten
In der Nacht wacht Tinser auf. Das Schnarchen der Bauernfamilie brandet durch das Dunkel. Gegen das Fenster erkennt er Stoi, der gebückt dasteht. Tinser räuspert sich. Stoi flüstert zurück, als bisse er die Zähne zusammen: „Ich geh!“
In Tinser zuckt etwas zusammen. Aus trocknem Schlunde stösst er hervor: „Bleib hier!“ Er sieht, wie der andere vor dem nachtgrauen Fenster ins Dunkle knickt, und hört, wie er sich herantastet. Der oberdeutsche Stimmklang flüstert dicht an seinem Ohr: „Eine Agentin ist sie!“
„Wir haben unsere Ausweise von dem Syrjänen ihr zu verdanken!“ Tinser ahnt, was ihm fehlt, aber er bringt nicht mehr übers Herz. Stoi atmet eine Weile schwer. „Ich schau nach den Pferden!“ flüstert er dann.
„Mensch, schlaf doch!“ haucht Tinser, dreht sich auf die andere Seite und tut, als schliefe er wieder. Aber Stoi flüstert weiter. Seine Stimme schluckt, es ist ein wahres Elend: „Sie sieht aus wie meine Frau, wie die Peppi, du weisst net. Geht einfach hi mit ein anderem, und hats Kind vom selbigen, wie ich in Krieg bin, meine Frau. Des weisst du. Meine Schwester hats mir g’schrieben. Vor vier Jahr, sinds bald her. Damals, als wir die Schwester, aber dies ist wirklich eine, das weisst du —“
Das weinerliche Geflüster rinnt einschläfernd dahin. In Tinser vermengen sich die Bilder, das Mädchen im Sattel, die falsche Schwester damals, das grausige Gesicht des Mongolen, Gebeine, Schiffe, das Almhaus, darin Staudelhofer mit der treulosen Peppi flüstert. „Der kleine Stall. — Sie hatn Riegel nicht zug’riegelt, ich habs gehört, sie hats nicht, und die Leiter is ang’lehnt!“ Auf einmal wird seine Stimme straffer. Er stupft Tinser an: „Wir unter Kameraden, gelacht, welch Theater! Losen wir!“
Tinser, nunmehr wirklich gestört, fährt auf. Aber er ist wie betrunken, er faucht etwas Unverständliches, Zweifelndes, Warnendes, und als täte es ihm leid, sagt er betrübt: „Machs gut!“
Stoi erhebt sich und drückt sich aus der Tür.
Als er hinaus ist, wird Tinser hellwach. Wahrhaftig, denkt er, ich gönn es ihm. Und somit erdrosselt er ein Gefühl, das verflixt nach Eifersucht schmeckt. Draussen ist es totenstill. Er legt sich wieder hin, presst den Kopf in den Schafpelz, weil er sich beim Horchen ertappt hat. Die Finsternis ist stickig von Schlafdunst. Die Pferde rühren sich draussen. Man könnte meinen, ein wenig Gemurmel wäre auch vorhanden. Es verzweigt sich so. Sagte sie das nicht? Jeder Weg ist gewissermassen die Heimat. Vielleicht hätte er längst in Deutschland sein können, fast zum Vergnügen hat er sich damals den Koltschakern angeschlossen. Ein Unbehagen fasst ihn an, Trauer, Grauen und kaltes Schwarz. Sein Bruder ist damals gleich im Westen gefallen, und seine Mutter ist gestorben, als er durch den Schnitzer eines Schreibers statt mit der Schmach der Gefangenschaft mit der Glorie des Heldentodes belehnt wurde. Eine sonderbare Furcht ergreift ihn. Das Schnarchen aus der Ecke tönt wie fernher gehetztes Gebell. Eine Agentin, denkt er, und Stoi konnte die Zunge nicht voll genug nehmen, um sie sich unters Herz zu schwatzen. Er streicht mit der Hand übers Gesicht, als wischte er eine Maske fort. Seine Bartstoppeln kratzen hörbar. Er fühlt seine Nackenwunde. Es schaudert ihm. Der Mongole steht vor seinem Gesicht. Während der ganzen Jahre hat ihn die schauerliche Erinnerung nicht verlassen. Nur in der Moossenke war es still und abgetan. Nun steht das alte Grauen auf, fällt unabwehrbar über seine Kehle. Der Mongole! Der Mongole!
Kalt tritt der Schweiss aus seinen Poren, er hört sich keuchen. Mit unmenschlicher Anstrengung zwingt er sich, an das Mädchen zu denken, an diese kluge Russin, nein, nicht an die ‚Leichenkiste‘! Diese ist anders, dies wird kein Betrug sein, nie würde das geschehen, was damals geschehen ist! Und Stoi ist nun bei ihr! — Tinser wird es heiss, aber er versetzt sich mit aller Macht in das Liebesgeschehnis nebenan, in ein süsses, verworfenes Geflüster, in den schönen, vollgewölbten Mund, der durch den Abend sich zu ihm emporgehoben hat.
Er wirft sich stöhnend auf die andere Seite, wo das Fensterkreuz auf die Nacht geklebt ist. Durcht den Türspalt sticht die eisige Luft. Er presst die Lider zusammen und denkt krampfhaft an zu Hause. Sein Vater steht im Garten, dort, von wo aus man ein Stück der Werft sehen kann, jenseits des Stromes, Tinsers Werft. Da sind auch seine Schwestern, noch immer blass und zimperlich, Hanna und Emely. Er meint, die dünne, gläserne Stimme von der Steppe zu vernehmen: Der Tod verspritzt mein Blut.
Er ist plötzlich wie gelähmt. — Vielleicht verliere ich das Bewusstsein, denkt er mühsam und fast glücklich. Im gleichen Augenblick fällt er in Schlaf. Nach einer Weile träumt er, er sähe von oben zwischen die Hellinge auf Tinsers Werft. Die Spantenblöcke sind leer. Sein Vater steht erhaben da und sagt: Komme mir niemand mit dem Maschinenschweinkram. Und er setzt ein lächerliches, billiges Spielzeug, ein kleines Segelschiff auf die leeren Helgen. Da steht die kleine Alice und segelt nach Südamerika. Sie hält den Brief, darin seine Schwester Hanna es ihm geschrieben hat, als Marssegel über sich, sie biegt sich vom Wind weit hintenüber, so dass das dünne Kleid sehr dünn wird, und sie schreit hinauf in den Himmel, wo die Sterne wie Mücken spielen. Halse mich! schreit sie. Aber er hat den Mongolen schon gesehen, der hinter ihr lauert, und der zielt auf ihren Nacken, jetzt drückt er ab.
Tinser schreckt grausend hoch. Da fiel doch ein Schuss?
Auch der Bauer ist erwacht und rülpst angstvoll von seinem Ofenbett herab. Man vernimmt Pferdehufe. Die Tür geht auf. Es ist Stoi.
„Nitschewo!“ sagt er ziemlich laut, als beantwortete er eine Frage. „Es war ein Iltis, der an die Hühner wollte. Und er fügt auf deutsch hinzu: „Hoch, Tinser! Es ist Zeit!“
Tinser springt auf. Die Pferde stehen abgehalfert. Sie werfen die Sättel über, die Höfe liegen sternhell da.
„Was ist? Wer hat geschossen?“ fragt er, vom Schlaf torkelnd. Stoi sitzt schon auf, er antwortet nicht. Tinser packt ihn am Arm. „Wo ist die Stasja?“
Stoi macht eine flackernde Bewegung, nimmt das dritte Pferd beim Zügel und jagt davon. Die Kälte fällt Tinser an bis ins Mark. Er weiss auf einmal, was geschehen ist. Er zittert vor Grauen. Er horcht. Der Bauer kommt nicht heraus. Getraut sich nicht, dieser Komi, denkt er, und denkt es ein paarmal. Er geht unter die kleine Stalltür, die Leiter lehnt daran. Was wird es sein, sagt er sich, du hast es schon oft gesehen. Er steigt die Leiter hinauf, Heuduft quillt ihm süsstrocken entgegen. Er schlägt sein Feuerzeug an. Das erste, was er erblickt, sind die bunten hohen Filzstiefel; säuberlich stehen sie beieinander. Daneben liegt ein Lackschuh. Die Heuschütte dahinter ist nicht übermässig hoch und nicht sehr verwühlt. Ein Fuss in einem grauen Seidenstrumpf ragt über die Abkante hervor, eigentümlich erstarrt schwebend. Tinser kennt das Zeichen. Sein Puls geht ruhig. Er hält die blakende, kaum leuchtende Flamme höher. Die Baryschnja liegt ganz still unter der Wolldecke. Das gewürfelte Kissen, das ihr die Bäuerin gegeben hat, ist über ihren Kopf gelegt. Tinser klettert vorsichtig auf die Schütte. Seine Knie sinken ein. Er zuckt zusammen, das Mädchen scheint sich zu bewegen. Er zieht das Kissen hoch. Das Feuerzeug fällt ihm aus der Hand und verlischt. Aber er hat genug gesehen. Der Schuss ist in den Mund gegangen.
Es glimmt unter seinen Knien. Er drückt es mit den Fingern aus. Sonderbar verkrampft verharrt er da eine Weile im Dunkeln, er besinnt sich, will sich erheben, sinkt wieder nieder. Auf einmal tastet er umher, leise vor sich hinstöhnend. Einen Augenblick hält er den anderen Lackschuh zwischen den Fingern, er ist klebrig feucht. Wie weich das Leder ist, denkt er. Endlich findet er das Feuerzeug. Er rutscht hinunter, entzündet es und fährt damit unter dem dürren Gras hin und her. Raschelnd huschen die Flammen hoch. Er stürzt hinaus, stösst die Leiter in die Luke hinauf, stolpert über einen Sattel, der da liegt, wirft sich aufs Pferd und rast davon.
*
Als es zu tagen beginnt, sieht er einen herrenlosen, ungesattelten Gaul auf sich zukommen, und der Gaul kommt wiehernd näher. Es ist Stasjas Pferd, denkt er, und Stoi hat es davongehetzt, und es wird zurücklaufen und uns verraten. Er langt in die Hosentasche, als wollte er eine Waffe hervorholen. Aber etwas Fremdes ist in seiner Tasche, weich und etwas krustig. Er zieht es entsetzt heraus. Es ist der kleine Lackschuh, den die Baryschnja unter den hohen Stiefeln getragen hat, und geronnenes Blut sitzt stumpf auf dem blanken Leder. Tinser stiert eine ganze Zeit darauf hin. Eine Stimme spricht ganz gläsern und dünn in ihm: Andenken sind gut.
Schliesslich besinnt er sich, dass ja noch etwas zu geschehen hat. Die Flinte haben sie vergessen. Der Schuh fällt aus seiner Hand wie ein Blatt. Er fühlt in die andere Tasche, da steckt der kleine Beutel mit den Platinkörnern, die von damals, von jenem Gipfel hoch über den Wolken stammen. Einen Revolver hat er ja gar nicht gehabt, der ist ihm schon vor Jahren irgendwo abhanden gekommen. Die Baryschnja — die hatte einen Revolver. Nun wird Stoi ihn wohl haben.
Das Pferdchen ist auch schon wieder davon. Es rennt leicht und ledig über die menschenleere Steppe nach Osten zu, wo weit hinten am Erdrand noch immer der Feuerschein steht und sich verblassend mit dem Frührot mengt.