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ОглавлениеSegnungen der Kultur
Sie überlegen, dass es nach Paromesch sechs Tage, nach Kosljansk zehn Tage dauern wird. Und wer weiss, ob sie nicht sicherer sich an die Sowjets wenden. Sie warten die Geschenke nicht ab, die der Syrjäne schicken wird. Eine Flinte und ein halbes Dutzend Patronen, ein Kochgeschirr, einen Becher und zwei zerrissene Zeltbahnen hat man ihnen zugestanden, dazu Röstfleisch für einige Tage. Sie legen es mit auf den kleinen Schlitten, den sie abwechselnd hinter sich herziehen und auf dem sich ein guter Posten Felle befindet, die müssen ihr Reisegeld sein.
Sie klettern abwärts durch die endlosen Wälder, die schlüpfrigen Rinnen hinab. Nach einem halben Tag treffen sie auf Hufspuren. Bis hierher hat der Syrjäne heraufreiten können; der Genesene hat auch ein Pferd gehabt, aber der Wogule ist zu Fuss nebenher gelaufen.
Nach zwei Tagen erreichen sie die Ansiedlung. Der Boden ist zertrampelt, es sind viele Soldaten dagewesen, aber niemand ist zurückgeblieben. Es ist auch nicht viel mehr aufgebaut, als sie sich vom Frühling her erinnern. Fleisch- und Gemüsebüchsen liegen überall verstreut. Sie schnüffeln wie Hunde an den Resten. Abseits, an der mit Steinen eingefassten, umgitterten Stelle finden sie zwei frische Kreuze neben den beiden Dutzend alten. Die drei Kranken, die somit noch übriggeblieben sind, werden also bestenfalls mit den Soldaten davongezogen sein, nach Süden.
Als sie ihr Nachtfeuer entfacht haben, kommt der Wogule. Er ist nicht erstaunt, die beiden zu finden. Er ist verschlagen und gutmütig, seine verkniffenen Augen wissen soviel, wie Raubtiere wissen, die in der Steppe eine Herde beobachten; wer sich absondern wird und allein weiden, wer stark und wer schwach ist, das wittern sie.
Stoi fürchtet Verrat. Tinser jedoch merkt, dass er sich erkenntlich zeigen will von der Tabaksache her, dennoch ist es unleugbar, dass er den Syrjänen geführt hat. Daher ist Stoi wütend und setzt ihm die Flinte auf die Brust und ersucht ihn, ihnen ein anderes Platinlager zu nennen.
Der Arme winselt und fleht, es wäre der einzige Ort bis zum Kap. Tinser schiebt den Gewehrlauf an die Seite, er hätte gehört, dass sie wegen ihrer Götter niemals auf die Berggipfel stiegen. Und Stoi lässt sich die Flinte willenlos aus der Hand nehmen, und Tinser trägt sie von da an.
Der Wogule zeigt ihnen den Weg durch die Steppe, durch das rauhe Grossland. Stoi schiesst einen Fasan und einen grauen Fuchs, und sie verzehren beides. Sie erreichen den Waldstreifen und den Fluss. Der Jäger zieht ein Rindenboot aus einem Krattbusch. Unter den Wäldern gleiten sie dahin, schlafen am hügeligen Ufer. Schon treffen sie Fischerzelte, in denen zerfurchte Komimänner hausen. Sie kreuzen die Petschora, ziehen stromauf, lenken in einen Nebenarm, rollen das Boot auf runden Ästen über einen Hügelwall, setzen auf der anderen Seite wieder ins Wasser und gleiten mit der Strömung. Sie weichen von dem geraden Wege ab.
„Rote Reiter!“ sagt der Wogule.
Nachts unter den spitzen, durchscheinenden Rindendächern hört Tinser den Bayer im Schlaf murmeln: „Sie finden es net! Sie finden es net!“
Wieder geht es aufwärts, und immer wieder nach Westen. Sie müssen waten und treideln. So gelangen sie bis auf den sanften Rücken des Timan. Sie sehen fern die Hütten von Paromesch, aber der Wogule rät ab.
Stundenlang tragen sie das Boot durch den lichten Föhrenwald. Und wieder erreichen sie ein Wasser, einen gerölligen, schäumenden Bach, den jungen Mesen. Das flache Boot gleitet über die Strudel. An den stillen Krümmungsbuchten springen die Fische. In der Dämmerung, morgens und abends, zwitschern die Beerendrosseln in dem dünnen Laubgezelt.
Stoi ist oft in finsteres Nachdenken versunken. Engländer oder Amerikaner hätten die Senke gekauft, behauptet er, es wären so diese Unternehmer, die auf gut Glück Platingruben kauften und ruhig warteten, bis man eine entdeckt hätte. Sie trösten sich mit dem weit wertvolleren Gipfel und beraten, wie man es klug drehen soll. Tinser muss manchen Vorwurf hinnehmen, er wäre kein Kaufmann, er wäre womöglich schon froh, wenn sie ihn bloss nach Deutschland liessen. Manchmal ist er gänzlich verzweifelt, der Bayer.
„Der Mongole wird mirs verderben!“ brummt er vor sich hin.
Er meint den Wogulen nicht. Tinser weiss, was er meint. Denn es ist damals vor Jahren eine verfluchte und grausige Geschichte mit einem Mongolen geschehen, die ab und an noch in ihnen nachspukt.
Eines Mittags öffnen sich links und rechts die Waldufer, die Sonne bricht frei herein, feste Hütten stehen in der Steppe, blau und rot bemalt, und dort weiden Schafherden und Pferde. Der Fluss schwingt im Kreis, ein grosses Dorf liegt am Wasser, bunte Kähne dümpeln am Schilfrand, der Wind riecht nach Herdrauch. Eine goldene Kirchenzwiebel spiegelt sich heiter in den Kräuselwellen.
„Der Reiter dort!“ sagt Stoi, auf das Ufer deutend.
„Man könnte ihn für ein Mädchen halten“, meint Tinser.
Sie sind beide seltsam erregt. Der Wogule lenkt an einen Steg, und damit landen sie in Kosljansk.
Richtige Hütten und Stuben, Ställe, Vieh, Ordnung und gekochte Speisen. Sie erleben den Aufgang der Zivilisation wie Knaben ein Weihnachtsmärchen, die sich etwas ihrer Rührung schämen und etwas Verachtung heucheln. Jedes Stück Geschirr erweckt ihre Neigung. Sie messen die Dächer, die Zäune mit Kennerblicken. Sie melden sich beim Ortsvorsteher, von der Bevölkerung umringt. Beim Dorfjuden tauschen sie ihre Felle ein und erhalten nagelneue Rubelscheine. Sie kleiden sich neu, und Tinser erhält Benzin für sein altes Feuerzeug, das er blank putzt, als wollte er sich spiegeln. Sie widmen auf einmal ihrem Äusseren eine ungewohnte Beachtung, sie lassen ihr Haar kürzen und sich von dem Vollbart befreien. Denn es wohnt ein Fräulein im Dorf, eine Dame aus der Stadt, die zu Besuch weilt oder die vielmehr wohl eine Art dieser neuen Kommissarinnen ist, welche die Schulangelegenheiten selbst in dieser weltfernen Gegend prüfen soll. Sie hat sich gleich mit ihnen unterhalten, als sie landeten. Später ist sie ein Stück neben dem Wogulen hergeritten, diese kecke Reiterin, als er über die Steppe ging, einen der Hirten zu besuchen.
Sie haben sich inzwischen an Dielenbretter und Tongeschirr gewöhnt und an den Umgang mit Tür und Fenster.
„Die Segnungen der Kultur!“ sagt Staudelhofer mit stolpernder Zunge, und er trägt Verlangen nach einer Zahnbürste.
Sie richten die Augen auf die Strasse am Fluss, wo das Fräulein heranreitet, dieses gebildete Frauenzimmer, das im russischen Staatsdienst steht, die Moskau kennt und die nach Moskau zurück will. Der Bezirksvorsteher, der sie beide lange ausfragt, er weiss nichts von Rücktransport und dergleichen. Das wäre Angelegenheit der Sowjets. Der Jude meint, das Fräulein würde es wissen, und sie wagen, sie bescheiden und in aller Hochachtung um Auskunft zu bitten. Sie zuckt die Achseln unter dem feinen Pelz.
„Wologda“, sagt sie. „Oder wahrscheinlich Moskau.“
Die ganzen Männer und Frauen des Dorfes wiegen sich hin und her, die Hände in den Hüften, und singen es in Ehrfurcht nach, diese beiden Namen der fernen, grossen Städte.
Das Fräulein veranlasst den Wolostmann, ihnen eine Art Pass auszustellen, was auf einem richtig vorgedruckten Stück Papier bewerkstelligt wird, auf einem richtigen Formular.
Sie schlafen die Nacht in einem Schafstall, unruhig vor Glück und voller Träume der Zukunft, trotzdem das Kräuterbrot und der geschmorte, uralte Speck, sowie etwas Schnaps ungewohnt in ihnen rumoren.
Tinser spricht weit nach Mitternacht die zögernde Vermutung aus, dass dies ‚merkwürdige Wesen‘ — so nennt er die Kommissarin, um eine kleine Glut nicht einzugestehen — womöglich in einem regelrechten blaukarierten Bauernbett schliefe. Stoi kann es sich gut vorstellen.
„Sie ist schlank wie eine Wölfin, weiss dieser und jener, ich will nicht fluchen, aber sie sieht meiner Frau ähnlich, der Peppi!“
Stoi hat auf einmal eine schwunghafte Sprache an sich, er ist kühn in manchen Vergleichen, als wäre er noch der alte forsche Kerl von damals. Tinser fühlt fast einen kleinen Neid aufkeimen, tut es aber gutmütig ab, wird hingegen, als es zu tagen beginnt und sie etwas geschlafen haben, ein wenig besorgt. Er hat verwirrt geträumt. Sie hat einen Mund wie die Schwester im Tscherno-Hospiz, denkt er, aber er teilt seine dumpfen Befürchtungen dem Freunde nicht mit, um ihn in seiner Arglosigkeit und heiteren Laune nicht zu stören.
Es stellt sich nun am Morgen heraus, dass die schöne Kommissarin mit ihnen zusammen abzureisen gedenkt. Der Zweck ihrer Inspektionsreise wäre sowieso beendet.
Da es ein weiter Weg bis zur Bahn ist, werden ihnen Pferde zur Verfügung gestellt, sie übernimmt die Bürgschaft dafür. Sobald sie die Station erreicht haben werden, sollen sie die Pferde an den dortigen Gemeindevorsteher abgeben, so ist die einfache Bedingung in diesem freien Land.
Sie reiten von dannen voll Zuversicht und Freude, ohne Furcht vor dem weiten Weg. Auch Tinser schiebt seine düsteren Gedanken in den tiefsten Grund seiner Seele zurück, und sie halten sich wie Kavaliere ein Stück hinter dem angenehmen Fräulein, das sie mit ‚Towarisch‘, mit Genosse angeredet hat und das sich viel besser im Sattel hält als sie, denen es seit so langer Zeit ungewohnt ist.