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ОглавлениеDunkles Zimmer
Das Zimmer ist fast dunkel. Die Vorhänge sind zugezogen; denn draussen brennt die Nachmittagssonne.
„Nein, nein und nochmals nein!“ donnert sein Vater. Das alte Gesicht schwebt von der Beleuchtung abgeschnitten und blaugrün auf der Vorhemdplatte, die sich aufzuwölben scheint unter der brüchig tobenden Stimme. Der graue Stachel-Spitzbart erstarrt, böse gegen den Sohn gerichtet. Joachim Tinser ragt benommen darüber empor. Einen Augenblick hört man das dunkle Tack-tuck der englischen Uhr. Matt hebt er die gelbliche Hand, aber der alte Herr stösst ihm das Wort von den Lippen: „Tinsers Werft? Mein Junge, lass sie in Ehren sterben, für Leichenfledderer ist sie zu schade!“
„Vater!“
Doch der Alte fährt fort, grausam im eignen Blut wühlend: „Hugo! — Warum ist Hugo nicht wiedergekommen! Du bist nicht dein Bruder! Dich schickt mir das Vaterland zurück, verkommen, entnervt, ohne Kenntnisse und, wie blind ich auch sein will, viel zu spät!“
Der alte Herr sinkt stöhnend in die Tiefe seines Sessels. Tinser ringt sich zusammen: „Lass mich als Arbeiter beginnen, als Lehrling, als der dümmste Handlanger, nur lass mich auf unsere Werft! Ich hab gehört, es ist noch Arbeit da für zehn Mann!“
Sein Vater lacht. Es klingt, als zerberste eine Planke. „Zehn Mann! Gott! Es waren zweihundert! Es waren mal ihrer tausend! Da bauten wir die ‚Bayern‘, fünf Masten, ein Vollschiff, vor dem die Welt sich geneigt hat. Und was machen sie jetzt, die zehn Mann? Kanus machen sie, wie Wilde, wie blutige Wilde. Und wofür sind die? Für das hohle Getändel, ja, für die Dirnerei auf der Alster. Nein, mein Junge, Finger weg von Tinsers Erbe! Hier!“ Er zuckt auf, reisst einen weissen Bogen hervor: „Hier! Zeichne mir einen Fünfmaster, von der Pik bis zum Top, mit allen Spanten, allem stehenden und laufenden Gut, Massen und Berechnungen, in einer Stunde, so wie dein Bruder es konnte, so will ich sagen: Versuch es! — Du bist jetzt über dreissig? Und schon ein wenig grau an den Ohren? Bist du noch Offizier? Hast du deinen Doktor schon? Was willst du denn eigentlich!“
Tinser steht wortlos da. Er blickt auf das Bild, das über dem Schreibtisch in der Dämmerung kaum zu erkennen ist. Es ist das Doppelbildnis seiner Eltern, einst von einem tüchtigen ortsansässigen Meister etwas im Sinne Runges gemalt. Der goldene Rahmen leuchtet ein wenig im Dunkel der Wand. Der Alte folgt dem Blick nicht. Schweigend warten sie voreinander, Vater und Sohn. Ein Dampferdröhnen kommt vom Strom herauf und steht unheimlich hinter den Vorhängen. Da sagt der alte Herr langsam, und sein Bart senkt sich müde: „Nein, nein, es ist nicht deine Schuld! So verbohrt bin ich nicht. Feindesschuld! Vaterlandesschuld! Gottesschuld! Aber danach fragt dich hier kein Mensch, du zahlst sie ganz allein!“ Seine Stimme gleitet auf dem Blick des Sohnes ab, strandet an dem Goldrahmen und zerbricht. Und er meint die noch jugendliche, einfach und sanft blickende Dame auf dem Bild, als er mühsam hinzusetzt: „Sie hätte vielleicht: Mein Jonke! zu dir gesagt.“
Tinser fühlt, wie der Raum schaukelt. Er macht zwei ruckweise Schritte, berührt die Hand seines Vaters und verlässt das Zimmer. Er winkt seinen betrübten Schwestern zu, die in der Terrassenhalle gewartet haben. Er stürzt in den Garten, läuft die verwilderten Steige hinauf und hinab. Die Sonne prasselt über die Büsche. Er bleibt unter den uralten Linden stehen, deren Kronen in den Himmel gebettet sind. Er senkt den Blick. In welken Haufen liegen die herabgewehten Früchte da. Er nimmt eines heraus aus dem braunen Geraschel, es ist wie ein kleines vergilbtes Bukett. Wie ein schmerzliches Gleichnis fällt es ihm aufs Herz, als ginge er über den abgewelkten Willkommensträussen der anderen, die lange schon daheim sind.
Die Flut blitzt herauf. Er geht schleppenden Schrittes den dünnen Weg auf die Böllerkanzel. Breit fliesst der Strom dort unten im Grund, Segel sind braun und gelb über die glitzernde Fläche gesplittert. Ein Bagger kreischt in der Fahrrinne. Nein, er hat es nicht vergessen. Vielleicht wäre es besser gewesen, da oben zu bleiben und zu sterben. Wie schnell ist alles entrückt, wie unsagbar schnell kann ein Mensch Entfernungen verdauen! Die Ferne ist von Qualm verschleiert, die Sände tauchen auf, verschlafen und einsam. Drüben kuppen die Öltanks wie eine Stadt im Orient. Stromab hämmert der Eisenlärm der deutschen Werft. Aber stromauf, wo das Wasser in die einstigen Marschwiesen fingert, wo die Hafendämme beginnen, sich saugend an die Handelsschiffe der Welt zu legen, da klettern andere Hellinge über den Dunst. Ein Zipfel ist es nur von Tinsers Werft.
Er saugt an seinem Zipfel, so pflegten sie zu flüstern, wenn der Alte hier stand. Da waren sie noch Kinder. Nun ist selbst Emely kein Kind mehr. Er hat die russischen Stiefel verschämt in seinen alten Schrank gestellt, in sein altes, von Efeu dunkles Knabenzimmer.
Tinser sinkt verzweifelt über das Geländer. Vater! Vater! denkt er schmerzlich. Er starrt in die Büsche, die sich zum Strand auf die Oevelgönner Dächer hinunterstürzen. Gelächter schallt von unten herauf. Er fasst es nicht. Auf einmal hört er leichte Schritte hinter sich. Er nimmt sich zusammen und richtet sich auf. Es ist Ubskill, der Balte.
„Bitte Kamerad, futtern Sie munter weiter am Busen des Alls! Ich hörte nur — erlaubte mir nur — Emely bat mich nur —“
„Schon gut!“ wirft Tinser dazwischen, „haben Sie, Herr Baron, eine Ahnung, ob unsere Jolle noch vorhanden ist?“
„Zu Befehl, Herr Junior, habe mir gestattet, die famose Jacht ab und an ein wenig ins Nasse zu führen, und der Herr Senior hat sie rasch und gründlich aufkalfatern lassen, als wir von werter Rückkehr vernahmen.“
„Hat er?“
„Er hat. Der Mann hat! Er hat, unter uns, respektvollst sozusagen einen Igel über das betreffende warme Herz gezogen.“
Tinser fühlt eine plötzliche Dankbarkeit und drückt dem Balten die Hand: „Ich hab Ihnen noch gar nicht für die Fahrt gedankt. Ja, er hat mich an die Luft gesetzt. Lässt er Sie denn gelten?“
„Mich? War Bumser, Oberleutnant, wie gesagt, Kamerad. Handele jetzt mit ollem Meissen, nicht etwa mit alten Mäusen. Jedoch eine Schose! Vor den Dingen da unten verständnislos, wie Bibel für Kuh oder Bebel für Ludendorff. Das Schloss meiner Väter hatte eminent fürstliche Sammlungen, jetzt Spucknapf für Proletariat. Daher Meissen. Drei Stunden täglich Galerie Moses Silberstein. Lieber Tinser, wir Söhne dieses Jahrhunderts und eines vergangenen Glanzes, wir haben alle ein Zuhause auf Gummizug. Wer nie seinen Kaviar aus Schuhcreme ass! Nebenbei hatte ich noch das allerdings selige Unglück, in Fräulein Schwester verknallt geworden zu sein.“
„Und — mein Vater?“
„Den beschäftigt es nicht sehr, was seine Kindlein treiben, in allen Ehren selbstredend, wenn er nur seinen Haferschleim kriegt.“
„Kennen Sie Galew?“
„Klara! Porzellankunde von mir, sympathisches Selfmademännchen. Kannten Sie den Wrangelrubel? Nun, so ähnlich. Inflationsriese mit reizender, jedoch etwas schief geratener jüngster Tochter.“
„Und was hat er damit zu tun?“ Tinser weist auf die Werftecke, die von den Randbäumen des Gartens überschnitten wird.
„Lieferungen, langfristig natürlich. Aber heute geht nischt, nur die Zeit geht. Er handelt mit allen und allem. Sehen Sie, der Dampfer nach Ostasien, da unten, wie ich mich auskenne, gehört ihm auch.“
„Ist er ein Schweinehund? Sie haben inzwischen den Ausdruck Schieber dafür geprägt, wie ich schon hörte.“
„Nein, kann man nicht sagen, gefürchtet von den Machern, bestaunt von den Lachern, der einzige Deutsche, den das Ausland anerkennt, weil er sich nichts gefallen lässt, reich ist und sich tatsächlich nicht schämt, ein Deutscher zu sein. Sehen Sie die Flagge, das war eine Zeitlang hier unerhört!“
„Wo wohnt denn dieses Wunder?“
„London, Yokohama, New York, bitte gütigst mich zu entbinden, Geographie total blass, jedoch merschtendeels Berlin.“
„Dahin gehe ich sowieso.“
„Sie? Bester! Letzte Hoffnung auf ein tröstliches Kismet, Kies mit, Gift mit, Mitgift! Dachte in argloser Kindlichkeit, Sie würden aus den Himmelsleitern drüben noch etwas eminent Irdisches, sozusagen Gediegenes in Pinkepinke herauskeltern! Emely und ich müssen uns, es sei ersterbend an den Schoss der Ewigkeit geflüstert, mit alten Zeitungen zudecken!“
„Viel Spass, Sie haben schliesslich Ihren Wagen und Ihren Humor. Ich würde mir einen Vorhang ziehen, vorn Familienglück, hinten Meissen. Aber vorher rollen Sie mich noch zum Bahnhof! Ja, es muss sein! Ich hab keine Lust, auf der neuen Universität in Hamburg zu drucksen, das Unglück dort unten vor der Nase. Vor zwölf Jahren hab ich in Berlin begonnen, vielleicht — ich muss hier weg, Mensch!“
*
Somit fährt Tinser nach Berlin. Niemanden von seinen früheren Freunden hat er gesehen, die Plätze seiner Erinnerungen sind unberührt an ihm vorübergeschwebt. Er nimmt von seiner Vaterstadt den Eindruck müllernder Schutzleute mit, die inmitten begrünter Sauberkeit vor auto- und segelüberschütteten Flächen Armschwünge üben, in dieser von Herbstsonne blitzenden, kaltnäsigen Stadt, in die wie ein Abgrund ein dunkles Zimmer gesenkt ist.