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Gerda und Jakob Brenker

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Jakob Brenker war Landwirt am linken Niederrhein, er war ein stiller, in sich ruhender Zeitgenosse, der sich aber, wenn es darauf ankam, Gehör zu verschaffen wusste, und gelegentlich kam es im Haus seiner Familie zu lauten Ausbrüchen, wenn ihm seine Frau Gerda zu zickig kam oder seine Kinder über die Stränge schlugen. Familie Brenker hatte bei Schaephuysen, einem Dorf westlich von Moers, wo die Welt noch in Ordnung schien und alles seinen geregelten Gang ging, einen Hof. Das galt für eigentlich alle Ortschaften, die diesseits der Schaephuysener Höhen lagen. Jenseits dieser Höhen gab es Richtung Moers und noch weiter über den Rhein nur noch großstädtisches Wirrwarr, in dem der einzelne nicht wusste, wohin er gehörte.

Der Schaephuysener Höhenzug war insofern auch eine kulturelle Scheidelinie, beinahe noch mehr als der Rhein, und er war Teil des Niederrheinischen Höhenzuges, der sich in einem weiten Bogen durch das Rheintal von Krefeld bis nach Nimwegen zog und während der vorletzten Eiszeit geformt worden war. Genau gesagt befand sich der Hof der Brenkers in Saelhuysen, einer winzigen Bauernschaft, die von Schaephuysen aus direkt hinter dem Höhenzug lag und eigentlich mehr zu Schaephysen als zu Rheurdt gehörte. Aber das war Jakob Brenker egal, für ihn war wichtig, dass seine Kühe ordentlich Milch gaben, und dazu musste er ihnen gutes Futter geben, es spielte keine Rolle, ob das Futter auf Schaephuysener oder auf Rheurdter Boden wuchs. Sein Vieh gedieh prächtig auf den Weiden, und Jakob wurde schon einmal wegen seiner drallen Kühe bewundert, das ließ ihn immer stolz dreinschauen. Gerda Brenker war Hausfrau und kochte für ihr Leben gern, sie war nicht gerade eine Schwatztante, liebte es aber, mit ihrer Nachbarin vom Grefenhof über dieses und jenes zu plaudern, wenn sich die Gelegenheit bot, und sie bot sich so oft nicht. Denn das Leben auf dem Brenkerhof war ein einsames Leben, es spielte sich fernab von allen wichtigen Geschehnissen ab, die das Schaephuysener Geschehen bestimmten und wenn Jakob nicht ab und zu zu Bodden in die Gaststätte an der großen Kreuzung ging, dort im Thekengespräch die wichtigen Nachrichten hörte und seiner Frau übermittelte, bekäme sie kaum etwas von der sie umgebenden Welt mit.

Die beiden hatten zwei halbwüchsige Töchter im Alter von 16 und 17 Jahren, die das Julius-Stursberg-Gymnasium in Neukirchen-Vluyn besuchten und jeden Morgen mit ihren Rädern nach Schaephuysen fuhren, um von dort mit dem Bus zur Schule zu gelangen. Nora und Lydia hassten das Nest, in dem sie leben mussten, nicht gerade, aber sie würden lieber in einem belebteren Ort wohnen. Sie sehnten beide den Tag herbei, an dem sie mit der Schule fertig wären und sich von zu Hause verabschieden konnten. Sie gerieten sich regelmäßig mit ihren Eltern über diesen Punkt in die Haare, und alles, was ihrem Vater dazu einfiel, war zu sagen, dass sie doch erst mal Abitur machen sollten, danach sähe man schon weiter. Ihre Mutter hielt sich immer bedeckt und bedauerte im Grunde die starke Abneigung ihrer Töchter gegen ihren Heimatort. Aber wenn sie ehrlich war, musste sie gestehen, dass er für junge Mädchen wirklich nicht viel bot. Nora und Lydia hatten Freunde, die beide schon über 18 waren und jeder ein Auto hatten. Wenn sie die Mädchen besuchen kamen, fuhren sie anschließend meistens in die Disco, entweder ins E-Dry nach Geldern oder ins PM nach Moers. Dann waren Gerda und Jakob allein zu Hause, wie sie das in ein paar Jahren immer sein würden. Aber das machte ihnen nichts aus, sie fühlten sich miteinander wohl, es reichte ihnen, wenn sie zusammen saßen, sie mussten nicht groß miteinander reden.

Jakob las oder löste Sudokus und Gerda strickte oder stand in der Küche. Öfter sahen sie zusammen fern, sie schimpften über das schlechte Programm, das ihnen geboten wurde. Lediglich der Tatort am Sonntagabend war eine Sendung, die sie beide regelmäßig gern sahen. Dabei wurden sie nur ungern gestört und wenn Nora und Lydia dabei saßen, mussten sie ganz still sein oder rausgehen.

„Was schaut Ihr Euch bloß für einen Mist an?“, fragten sie manchmal im Hinausgehen, und die Alten ließen ihre vorwurfsvolle Frage im Raum stehen. Die Mädchen konnten nicht verstehen, dass es ihren Eltern nicht in erster Linie um den Film ging, sondern dass es für sie ein Ritus war, sonntagabends den Tatort zu sehen, dabei Knabbereien zu naschen und ein Bier oder ein Glas Wein vor sich stehen zu haben und diesem Ritus immer nachzugehen, egal was kam. Manchmal rief Jakob ihnen hinterher:

„Ihr braucht Euch den Film ja nicht anzusehen, aber lasst uns doch bitte in Ruhe schauen!“ Damit war die Sache dann meistens geklärt, die Mädchen gingen auf ihre Zimmer, hörten Musik oder kontaktierten ihre Facebook-Bekanntschaften, bevor sie aber oft um 23.00 h ins Bett gingen und schliefen. Der Nachbarort von Saelhuysen war Finkenberg und er war noch kleiner als Saelhuysen. Er bestand nur aus wenigen Höfen und niemand hätte dieser Bauernschaft eine Bedeutung zukommen gelassen, wenn es dort nicht die Quirinus-Kapelle gegeben hätte, die 1714 wiedererrichtet worden war und in diesem Jahr ihr 300-jähriges Bestehen feiern würde.

Diese kleine Kapelle war wie ein Leuchtturm inmitten des Nichts, sie wurde von allen hochgeschätzt und einmal im Jahr nahmen sich die Frauen aus Kengen, Finkenberg und Saelhuysen die Zeit und unterzogen die Kapelle einer Grundreinigung. Sie rückten die Bänke nach draußen und wienerten den Boden, anschließend schmückten sie den Altar mit Blumen. Und so fieberten sie alle der Jubiläumsfeier entgegen. Gerda fragte ihre Töchter, als sie mit ihnen beim Essen in der Küche saß:

„Kommt Ihr eigentlich mit Norbert und Rene auch zum Qurinus-Fest?“ Die beiden Mädchen hielten sich zunächst zurück, wie sie überhaupt immer sehr schweigsam waren, wenn sie aus der Schule nach Hause gekommen waren. Danach tauten sie aber auf und Nora antwortete:

„Ich muss zuerst noch mit Norbert über das Fest sprechen, ich glaube aber, dass wir beide hingehen werden. Lydia sagte:

„Auch Rene und ich werden an den Feierlichkeiten wohl teilnehmen, wir haben zwar noch nicht darüber geredet, aber ich denke schon, dass wir mitmachen!“ Die Quirinus-Kapelle galt als Kleinod am gesamten Niederrhein, besonders seit sie nach ihrer Renovierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts im neuen Glanz erstrahlte. Das Weihnachtssingen erfreute sich bei Katholiken und Protestanten gleichermaßen immer großer Beliebtheit. Die Festvorbereitungen waren in vollem Gange, es wurden im gesamten Umkreis Plakate aufgehängt und die Kapelle wurde mit Zweigen geschmückt. Der Weg zur Eingangstür wurde von einem langen Spalier aus Birkenzweigen gesäumt.

Das Schild beim Landhandel Pegels, das darauf hinwies, dass der Landhandel bis 1924 Baeshof hieß, war mit einem Plakat überklebt, das auf die 300-Jahr-Feier aufmerksam machte. An der Gaststätte Bodden an der großen Kreuzung und natürlich in Schaephuysen und in Rheurdt waren Plakate aufgehängt. In der Zeit vor dem Fest herrschten Aufmerksamkeit und Stille in den Gemeinden, wie man sie sonst nur selten dort antraf. Jakob Brenker zum Beispiel führte seine Kühe an die Melkmaschine, als gingen sie zu einem Gottesdienst, während er das sonst immer in großer Eile und Umtriebigkeit tat. Gerda putzte zwar zu Hause wie an jedem Tag, sie war dabei aber von einer Art inniger Sanftmut befallen und überaus glücklich.

„Wenn am Freitag Norbert und Rene bei uns sind, leihen wir uns noch zwei Räder und radeln alle zusammen nach Finkenberg!“, schlug Gerda ihren Töchtern vor und Nora und Lydia waren einverstanden. Alle machten sie sich für das Fest schön und die Frauen standen stundenlang vor dem Spiegel. Sie gingen zum Frisör und ließen sich für viel Geld die Haare richten.

Den Männern reichte es, gründlich zu duschen, ein Deo aufzulegen und gute Sachen anzuziehen. Gerda hatte festes und leicht angegrautes Haar, in das sie immer eine Tönung geben ließ. Sie ließ es im Abstand von sechs Wochen schneiden und tönen und ging dazu in die alte Molkerei nach Schaephuysen, die ein Kulturladen mit Frisör geworden war. Gerda war immer auf ein gepflegtes Äußeres bedacht, obwohl es bei ihrem bäuerlichen Leben nicht ganz einfach war, diesem Anspruch Genüge zu leisten. Sie lief alltags in Jeans herum, trug dazu aber gepflegte Oberteile, die sie elegant erscheinen ließen und ihrem Äußeren einen gewissen Pfiff gaben. Die beiden Mädchen kleideten sich stets nach dem, was gerade so angesagt war. Sie bestellten sich Sachen aus dem Internet oder sie fuhren mit Norbert und Rene sogar bis zum Centro nach Oberhausen. Beide hatten sie das feste Haar ihrer Mutter geerbt und trugen es kurz, sie waren groß, schlank und von besonderer Schönheit. Beide wollten in ihrer Anmut so gar nicht in ihr bäuerliches Umfeld passen. Sie schämten sich aber nicht etwa ihrer Herkunft oder zogen gar über Saelhuysen her, nein, sie waren in gewisser Weise sogar stolz darauf, aus einer Bauernschaft zu stammen und sich so von den anderen abgrenzen zu können.

„Wisst Ihr schon, was Ihr zu dem Fest anziehen werdet?“, fragte Gerda die beiden. Sie antworteten, dass sie um ihre Kleidung nicht so viel Aufhebens machen und das anziehen wollten, was sie auch immer in der Schule trügen.

„Ich werde mein dunkelblaues Kostüm und meine weiße Bluse dazu anziehen, die Sachen, die ich sonst immer nur an Weihnachten trage!“, verkündete Gerda. Jakob war ein stattlicher Mann, was sowohl seine Körpergröße als auch seinen Körperumfang anbelangte. Er war knapp 1.90 Meter groß und trug einen mächtigen Bauch vor sich her, der sich mit seiner Größe aber vereinbaren ließ, jedenfalls nach landläufiger Ansicht, und der deshalb nicht so sehr ins Auge stach. Am Tag des Festes stand er in seinem guten Anzug im Wohnzimmer und duftete sehr stark nach seinem Deo, sodass Lydia ihm sagte:

„Wenn Du so in den Stall gehst, werden sich die Kühe angewidert von Dir abwenden!“ Aber der Kommentar seiner Tochter ließ Jakob kalt, er hatte mit seiner Kleidung und dem Deo für das Fest seiner Meinung nach alles getan, was ihm möglich war. Er betrachtete sich in der Diele im Spiegel und war zufrieden mit sich. Norbert und Rene erschienen und waren ganz gewöhnlich gekleidet. Sie begrüßten Herrn Brenker und ihre Freundinnen, und alle stellten sich gemeinsam auf und warteten auf Gerda. Und als Gerda endlich auf der Bildfläche erschien, schauten sie alle ehrfürchtig auf die elegante Dame, die da zu ihnen kam und Nora stieß aus:

„Wow Mama, Du siehst ja umwerfend aus!“ und das dachten sie wohl alle. Gerda hängte sich bei Jakob ein und sie verließen das Haus, um auf die bereitstehenden Räder zu steigen.

Schon weit vor Finkenberg parkten die Autos derjenigen am Rand des schmalen Weges, die eine weitere Anreise hinter sich hatten und Jakob brachte seinen Unmut darüber zum Ausdruck.

„Sie hätten sich doch zu Fahrgemeinschaften zusammenschließen können, statt alle mit dem eigenen Wagen anzureisen!“, meinte er. Vor der Quirinus-Kapelle standen an die hundert Personen, die natürlich nicht alle in das kleine Gotteshaus passten. Man hatte deshalb eine Lautsprecheranlage nach draußen legen lassen, und jeder konnte dort den Gottesdienst verfolgen. Es war eine Unzahl von Biertischen und Bänken aufgestellt worden und Familie Brenker setzte sich mit Norbert und Rene an einen freien Tisch nicht weit vom Grillstand entfernt. Sie grüßten nach überall hin, Gerda und Jakob kannten fast alle, die sich neben sie an die Biertische gesetzt hatten, und plötzlich wurde es still unter den Festgästen, und man hörte den Pfarrer in der Kapelle über die Lautsprecher reden. Er hatte sich wegen des ökumenischen Gehaltes, den die Feier trug, neutral, das hieß humanistisch ausgerichtet, und so konnte sich jeder angesprochen fühlen. Die Lieder, die gesungen wurden, waren Sommerlieder, deren Texte jedem noch aus der Schule geläufig waren wie zum Beispiel „Geh aus mein Herz und suche Freud“, und die alle aus Leibeskräften sangen.

Dann war der Gottesdienst zu Ende und die Menschen, die in der Kapelle einen Platz gefunden hatten, strömten nun nach draußen und gesellten sich zu den draußen Sitzenden.

„Können wir uns schon etwas zu essen holen?“, fragte Nora ihre Mutter und Gerda blickte in die Runde und hatte keine Einwände:

„Geht nur und holt Euch etwas vom Grill!“, sagte sie und gab ihrer Tochter 10 Euro. Am Bierstand hatte sich eine mächtige Schlange gebildet, Jakob stellte sich zusammen mit den beiden Jungen an und als er dran war, orderte er für alle Bier und trug die Getränke mit den Jungen zu ihrem Platz. Die Frauen waren auch Biertrinkerinnen, Nora und Lydia natürlich noch nicht so ausgeprägt, aber ein oder zwei Bier tranken auch die Mädchen. Inzwischen waren die Bierbänke bis auf den letzten Platz belegt, alle waren guter Dinge und aßen und tranken, und als später auch Schnaps auf den Biertischen stand, und die Männer miteinander anstießen, immer wieder, bis sie auch mit dem letzten Bekannten angestoßen hatten, machten sich bei ihnen doch erste Ermüdungserscheinungen breit. Die Frauen hielten sich bei dem Schnaps zurück, und es waren nur die Männer, die sich bald bis zur Bewusstlosigkeit besoffen und von denen manche aggressiv wurden. Das hatte Jakob schon bei Bodden erlebt, dass sich manche so besoffen, dass sie sich miteinander schlugen. Der Grund war gar nicht immer nachvollziehbar, aber immer war Schnaps im Spiel.

Jakob war am Ende beinahe der einzige, der von den Männern noch ansprechbar war, und bevor die Situation vor der Kapelle völlig eskalierte, radelte Familie Brenker mit Norbert und Rene nach Hause. Der Pfarrer, der es lange bei den Festgästen ausgehalten hatte, war schon längst gegangen. Am nächsten Morgen saßen bei Brenkers alle beim Frühstück und unterhielten sich über den Vorabend, Norbert meinte:

„Da haben einige ganz schön getankt und sind aggressiv geworden, wir haben so etwas schon in den Discos erlebt, das Beste, das man als Außenstehender dann tun kann, ist zu gehen.“

„Genau so sehe ich das auch“, sagte Jakob, „ich habe so etwas auch schon bei uns in der Gaststätte erlebt und bin einfach abgehauen, genau wie wir das gestern getan haben.“

„Ich verstehe die Männer auch nicht, die sich so besaufen wie die gestern Abend“, sagte Gerda, „habt Ihr den Verkäufer von Pegels gesehen, der war mit der Erste, der sich völlig daneben benommen hat, als wir gingen, habe ich ihn in seinem Erbrochenen liegen gesehen.“ Die Kapellenfeier zog sich über insgesamt drei Tage hin und Gerda und Jakob würden am Abend noch einmal nach Finkenberg fahren und feiern. Die jungen Leute lehnten es aber ab, noch einmal nach Finkenberg zu fahren, sie wollten am Abend lieber ins PM nach Moers. Jakob ging mit Gerda in den Stall zu den Kühen, um sie an die Melkmaschine anzuschließen und weil die jungen Leute noch da waren und einmal schauen wollten, gingen sie mit in den Stall.

Norbert und Rene kamen beide aus Neukirchen-Vluyn und waren deshalb mit der Landwirtschaft nicht so vertraut. Nora und Lydia waren beide auf dem elterlichen Hof aufgewachsen und kannten deshalb natürlich die Tiere. Jakob hatte 60 Kühe im Stall stehen, von denen aber nur ein Teil mit der Melkpumpe gemolken wurde, während die anderen Tiere fraßen, bis auch sie mit Melken dran waren. Danach wurde die Tiere auf die Weide geführt und die nächsten 60 Kühe kamen an die Reihe. So ging es reihum, bis alle 204 Kühe von Bauer Jakob gemolken waren. Die Jungen schauten interessiert zu und Rene fragte:

„Wurden etwa früher alle Kühe von Hand gemolken?“ und Jakob antwortete:

„Eine andere Möglichkeit gab es nicht, die Bauern hielten sich deshalb viel weniger Kühe als wir heute, damit sie mit dem Melken überhaupt nachkamen.“ Gerda nahm die jungen Leute beiseite und ging mit ihnen zu einer einzeln stehenden Kuh, nahm einen Melkeimer und einen Melkschemel, auf den sie sich neben das Euter der Kuh setzte und fing an, mit der Hand zu melken. Nora und Lydia hatten das früher schon einmal probiert und waren dabei kläglich gescheitert. Denn man konnte nicht einfach an der Zitze ziehen, sondern man musste sie in einer speziellen Art greifen und nach unten abstreifen. Das erforderte einige Übung, konnte aber schnell gelernt werden.

„Darf ich das einmal ausprobieren?“, fragte Norbert Noras Mutter. Sie bot ihm den Platz auf dem Melkschemel an und Norbert setzte sich neben die Kuh und griff nach ihren Zitzen. Als ihm aber plötzlich der Schwanz der Kuh ins Gesicht gewedelt wurde, und die Kuh ordentlich Fladen abließ, hatte Norbert schnell genug und stand unverrichteter Dinge wieder auf. Die jungen Leute verließen den Stall wieder und gingen ins Haus zurück, Jakob und Gerda blieben allein bei den Kühen. Beide schoben sie mit Gabeln frisches Gras zusammen, das Jakob seinen Tieren vor ihre Boxen gelegt hatte. Als Gerda mit ihrer Gabel an einer Bohle oder etwas Ähnlichem auf dem Stallboden hängenblieb und nachschauen wollte, was da los war, kam Jakob zu ihr und sagte:

„Lass nur, ich mache hier weiter, geh Du nur darüber!“ und er blickte seine Frau dabei nicht an, sondern richtete seine Augen auf das Hindernis auf dem Stallboden, das Gerdas Gabel festgehalten hatte. Am frühen Nachmittag kehrten auch die beiden ins Haus zurück und Gerda stellte einen großen Topf mit Erbsensuppe und Speck mit Würstchen auf den Tisch, und sie rief die jungen Leute zum Essen. Gerda hatte die Erbsensuppe schon vorbereitet, es gab samstags bei Brenkers oft einen Eintopf, und den mochten in der Regel auch alle gern.

Am Abend fuhren Gerda und Jakob noch einmal mit ihren Rädern nach Finkenberg und setzten sich dort vor der Kapelle wieder an einen Biertisch. Es war an diesem Abend bei Weitem nicht mehr so viel los wie am Vorabend, und es ging auch insgesamt gesitteter zu. Zwar wurde wieder viel getrunken, auch Schnaps, aber es kam nicht zu diesen besinnungslosen Ausfällen wie am Vorabend, und niemand wurde aggressiv.

Sie sangen wieder alle Sommerlieder und waren vergnügt, an Gerdas und Jakobs Tisch saßen ihre Nachbarn vom Kloutenhof, und sie hatten Spaß zusammen und unterhielten sich. Die beiden hatten auch zwei Töchter, die in etwa das Alter von Nora und Lydia hatten, aber die vier hatten nie zusammengefunden, niemand wusste, warum das so gekommen war, aber als Erwachsener konnte man sich in solche Beziehungsgeschichten bei den jungen Leuten ohnehin nicht einmischen. Sie saßen wieder bei dem Gegrillten und aßen nach Herzenslust, und als der Pfarrer gegen 22.00 h das Fest verließ, machten Brenkers auch nicht mehr allzu lange. Jakob holte noch einmal Bier und fuhr gegen 23.00 h mit seiner Gerda nach Hause.

„Das war aber heute Abend bedeutend erträglicher als gestern“, sagte Gerda und Jakob stimmte ihr zu:

„Das lag daran, dass nicht so viel Schnaps getrunken wurde, der eben viele aggressiv macht, und die großen Schnapstrinker fehlten heute Abend.“ Eigentlich fand am Sonntag die letzte Feier an der Kapelle statt, aber Gerda und Jakob verzichteten auf den Besuch und blieben zu Hause. Als in der Folgewoche Lydia mit einer verhauenen Klausur nach Hause kam, und Gerda sie in Schutz nahm mit den Worten:

„Es gibt Schlimmeres, davon geht die Welt nicht unter!“, Jakob gerade in der Küche saß und Zeuge der schlechten Nachricht wurde, konnte man Jakob mit einem Mal erleben wie sonst nur ausgesprochen selten.

„Wie kannst Du es wagen, mit so einer schlechten Klausur nach Hause zu kommen!“, schrie er Lydia an, dabei schwollen seine Halsschlagadern an und sein Gesicht verfärbte sich rot.

„Und Du spielst das auch noch herunter!“, bölkte er seine Frau an, und seine Stimme überschlug sich fast. Sein Gegröle erreichte eine Lautstärke, dass man ihn noch draußen hätte hören können, wenn da jemand gewesen wäre. Aber Brenkers wohnten weitab vom Schuss, und so verhallte Jakobs Geschrei über den Wiesen. Lydia war ganz in sich gesunken und hatte zu weinen angefangen, ihre Mutter nahm sie in ihre Arme und tröstete sie. Jakob, der sich immer noch nicht ganz beruhigt hatte, stand auf und verließ unter lautem Poltern die Küche. Das war ein Ausbruch bei Jakob gewesen, der so gar nicht zu dem Gemütsmenschen passen wollte, aber wenn es ihn einmal packte, konnte er eben auch so ein Ekelpaket sein. Nach ein paar Stunden hatten sich die Wogen aber wieder geglättet, und auch Lydia hatte sich wieder beruhigt. Sie war auch weniger wegen ihrer schlechten Klausur ins Weinen verfallen als vielmehr wegen des Ausrastens ihres Vaters, der sie erschrocken hatte, so wie er da quasi neben sich gestanden war.

Gerda fuhr für ihre Einkäufe immer zu Edeka nach Aldekerk und freute sich darauf, einmal in der Woche dorthin zu kommen und die Frauen von den Nachbarhöfen zu treffen, mit denen sie sich vorher verabredete. Sie kauften alle die Dinge des täglichen Bedarfs und zog den Einkauf bewusst in die Länge, was in dem riesigen Laden, den Edeka da vor das Dorf gesetzt hatte, auch kein Problem war. Im Anschluss gingen die Bauersfrauen immer noch Kaffee trinken und ein Stück Kuchen essen, und dabei wurde unendlich viel erzählt. Sie redeten vor allem über das vergangene Kapellenfest und die vielen Schnapsleichen, die dort zu verzeichnen gewesen waren.

„Habt Ihr auch den Verkäufer von Pegels in seinem Erbrochenen liegen gesehen?“, fragte Gerda ihre Freundinnen, und jede brachte ihren Abscheu vor dieser Unbeherrschtheit zum Ausdruck. Sie kamen am Ende auf ihre Kinder zu sprechen und Gerdas Nachbarinnen erzählten, dass ihre Kinder ganz gut auf den Schulen zurecht kämen bzw. erfolgreich ihre Ausbildung absolvierten. Ein Junge lernte bei Trox in Vluyn Industriekaufmann, er hatte vorher die Realschule besucht und war glücklich mit seiner Ausbildung. Sein Vorteil war, dass er gleich über Geld verfügte und sich ein Auto leisten konnte. Der andere Junge lernte Außenhandelskaufmann bei De Beukelaar in Kempen und war ebenfalls sehr zufrieden mit seinem Werdegang. Die anderen Kinder besuchten Schulen wie Nora und Lydia, manche in Geldern und andere in Neukirchen-Vluyn.

„Was unsere Nora und unsere Lydia einmal werden wollen, steht noch völlig in den Sternen“, sagte Gerda, „so viel Zeit haben sie schließlich nicht mehr, aber ich denke, dass sie beide von zu Hause ausziehen und studieren werden.“

„Da geht es ihnen wie unseren, bei denen auch alles noch unsicher ist, aber das wird sich schon einrenken und sie werden einen Studiengang ergreifen, der sie zufriedenstellt.“ Solche Zusammenkünfte wie die im Cafe in Aldekerk erfüllten die Bauersfrauen immer mit großer Zufriedenheit, und sie gaben ihnen Energie, von der sie zehren konnten, wenn sie wieder zu Hause waren. Jakob merkte diesen Energieschub seiner Frau immer an und er freute sich für sie. Es war ihm schon klar, dass der Hof allein Gerda nicht ihr Lebensglück bescheren konnte, von dem sie träumte, aber es gab ja auch noch ihre Kinder und deren schulischen Erfolg, über den sie sich freuen konnte, wenn es auch gelegentlich einige Rückschläge gab, aber die konnte Gerda ohne Probleme verschmerzen, und auch Jakob würde noch damit umzugehen wissen.

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