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Ute und Paul Kamphusen
Оглавление„Paul, beeil Dich mal ein bisschen, wir fahren in zwei Minuten runter!“, riefen Paul seine Arbeitskollegen in der Kaue zu und Paul hängte seine Sachen an den Haken, der an einer Kette befestigt war, und den er bis oben an die Decke hochzog. Daraufhin nahm er seinen Grubenhelm mit der an ihm fixierten Grubenlampe, richtete seine Bergmannszunft und lief zum Förderkorb, wo schon seine Arbeitskollegen auf ihn warteten, um mit ihm nach unten auf 1000 Meter zu fahren und ihre Mittagsschicht zu beginnen. Paul Kamphusen war Bergmann auf der Zeche Zollverein in Essen-Katernberg und fuhr täglich mit seinen Kumpels unter Tage, um dort Kohle zu machen. Sein Job war sehr anstrengend und Außenstehende können sich kaum vorstellen, was es bedeutete, in 1000 Meter Tiefe in großer Hitze und bei sehr viel Staub schwere körperliche Arbeit verrichten zu müssen. Paul war 43 Jahre alt und wohnte mit seiner Familie in einem Zechenhäuschen in Katernberg, es war ein kleines Häuschen und seine beiden Kinder Pascal und Jennifer, die 16 und 17 Jahre alt waren und das Leibniz-Gymnasium besuchten, hatten unter dem Dach jeweils ein Minizimmer, in das ein Bett, ein Schrank und mit viel Mühe auch noch ein kleiner Schreibtisch passten. Paul und seine Frau Ute mussten sich im Erdgeschoss mit einem überschaubar großen Wohnzimmer und einem Schlafraum begnügen. Paul Kamphusen war Bergarbeiter und sein Körper war von den Strapazen während seiner Arbeit gezeichnet. Er hatte einen Haltungsschaden, den er nur mit viel Geschick kaschieren konnte, wenn er ging und sich in die Vertikale zwang.
In unbeobachteten Momenten sackte er aber mit schmerzverzerrtem Gesicht in sich zusammen und klagte über Rückenschmerzen. Vor drei Jahren war er Opfer eines Grubenunglücks, das sich auf Zollverein zugetragen hatte, und bei dem ihm ein großes Stück Fels auf den Körper geschleudert worden war. Er hatte aber Glück und wurde von den Rettungsmannschaften, die schnell vor Ort gewesen waren, nach oben und ins Krankenhaus gebracht, wo man sich gleich um ihn kümmerte. Eigentlich hätte er in den Vorruhestand geschickt werden müssen, es gelang ihm aber unter Aufbietung aller ihm zur Verfügung stehenden Kräfte, den Eindruck vor dem Belegschaftsarzt zu erwecken, dass es nicht so schlimm um ihn bestellt war, wie alle zunächst dachten, und sein Beschäftigungsverhältnis wurde aufrechterhalten. Denn mit 43 in den Vorruhestand zu gehen, das war für Paul eine Vorstellung, mit der er sich überhaupt nicht anfreunden konnte, und alle Arbeitskollegen freuten sich, ihn nach seiner Genesung wieder in ihrer Runde begrüßen zu können. Denn Paul war ein von allen geachteter und guter Bergmann, der zwar ein wenig spröde und manchmal auch ernst war, auf den man sich aber hundertprozentig verlassen konnte, und der ein gutes Herz hatte. Die Zeche Zollverein war in dem Zeitraum ihrer Kohleproduktion eine der modernsten Steinkohlezechen Europas und sie hatte eine Förderleistung von 3 Millionen Tonnen jährlich. Ihr war eine Kokerei angeschlossen, die ebenfalls als eine der modernsten Anlagen Europas galt, und in der täglich 10000 Tonen Steinkohle zu 8600 Tonnen Koks veredelt wurden.
Koks war der Brennstoff für die Hüttenwerke der Umgebung im näheren und weiteren Ruhrgebiet. Aufgrund der Stahlkrise und der fallenden Koksnachfrage wurde der Kokereibetrieb später eingestellt. Die Zeche lief auf Hochtouren und die Kumpels hatten unter Tage zu tun und überboten sich täglich in der Tagesfördermenge. Auch Paul war immer daran interessiert, ein gutes bis sehr gutes Tagesergebnis abzuliefern, und er befand sich dabei in Konkurrenz zu seinen Arbeitskollegen, die diese Konkurrenz aber nie negativ auffassten, sondern als gesunden Ansporn ansahen. Immer wenn Paul nach der Frühschicht mit dem Förderkorb hochfuhr und sich in der Kaue den Schmutz abgeduscht hatte, fuhr er danach mit seinem Fahrrad nach Hause, wo Ute mit dem Essen auf ihn wartete. Manchmal saßen Jennifer und Pascal mit am Tisch, es kam aber nie vor, dass sie ihren Vater nach seiner Arbeit fragten. Umgekehrt interessierte es Paul aber schon, zu wissen, wie die Leistungen seiner Kinder auf dem Gymnasium waren. Er konnte aber nur die Noten der beiden zur Kenntnis nehmen, inhaltlich sich mit Jennifer und Pascal über die Schule auseinanderzusetzen, dazu sah er sich nicht in der Lage, und das wussten die beiden natürlich. Sie schwammen im Mittelfeld mit und hatten keine Bedenken, das Abitur zu schaffen. Ihre Mutter war für sie schon eher eine Ansprechpartnerin im Hinblick auf das Gymnasium, wenngleich auch sie nicht verstand, worum es bei ihren Kindern in den einzelnen Unterrichtsstunden überhaupt ging.
Aber darauf kam es Jennifer und Pascal gar nicht an, für sie war es wichtig zu wissen, dass es jemanden gab, dem sie sich anvertrauen konnten, und dazu war Ute immer bereit. Wenn Paul Mittagsschicht hatte, musste er um 14.00 h auf der Zeche anfangen und arbeitete bis 22.00 h, hatte er Nachtschicht, dauerte sie von 22.00 h abends bis 6.00 h morgens. Der Schichtdienst hatte längst seinen Biorhythmus völlig durcheinandergewirbelt, und auch das ging auf seine Gesundheit. Er hatte ganz ungewöhnliche Schlafenszeiten, so ging er nach seiner Nachtschicht am frühen Morgen, wenn seine Kinder zur Schule aufbrachen, ins Bett und wenn er Nachtschicht hatte, ging er zur Arbeit, wenn Jennifer und Pascal kurze Zeit später schlafen gingen. Er war aber bei guter körperlicher Konstitution, wenn man einmal von seinen Rückenbeschwerden wegen des Arbeitsunfalls absah. Ute half an jedem zweiten Tag in einem Altenheim, das sich zwei Straßen weiter von ihrem Zuhause befand, und obwohl sie keine ausgebildete Pflegekraft war, verstand sie es, sich liebevoll um die alten Menschen zu kümmern, und ihr Dienst wurde von ihnen dankbar angenommen. Alle mochten Ute und Ute hatte eine Engelsgeduld, wenn sie mit ihnen Mensch-ärgere-Dich-nicht spielte.
Sie empfand Erfüllung dabei in ihrem ansonsten nicht sehr ausgefüllten Alltag. Die Tätigkeit im Altenheim war genau das, worin Ute den Sinn ihres Lebens sah. Es erfüllte sie mit großer Freude zu sehen, wie die Alten aufblühten, wenn sie sich ihnen widmete. Ute kam selbst wie gelöst vom Altenheim nach Hause und hatte positive Energie getankt, die sie allen zuteil werden lassen konnte, und Jennifer und Pascal, aber auch Paul registrierten ihre gewonnene Stärke mit Zufriedenheit. In ihrer Freizeit unternahmen Ute und Paul nie etwas Besonderes, danach stand den beiden nicht so sehr der Sinn. Höchstens, dass sie mal in ihre Kneipe um die Ecke gingen, dort zwei Stauder tranken und sich mit Bekannten unterhielten, meistens über Rot-Weiß-Essen. Paul war früher öfter im Georg-Melches-Stadion gewesen und hatte sich die Spiele seines Vereins angesehen, manchmal war Ute mitgegangen. Er hatte seine Stadionbesuche aber völlig eingestellt erstens, weil sein Verein abgestiegen war und nur noch in der vierten Liga spielte und zweitens, weil er sich zu müde fühlte, um geschlagene zweieinhalb Stunden auf der Tribüne zu stehen, und ein Sitzplatz war ihm zu teuer. Die Kinder waren nie mit ins Stadion gegangen, sie interessierten sich nicht für Fußball, ihre Interessen im Sport lagen bei Reiten und Basketball, und ansonsten saßen sie vor ihren Computern. Das einzige, das Paul neben seinem Beruf noch ernsthaft betrieb, war seine Gewerkschaftsarbeit, er war als Funktionär der IGBE Betriebsrat auf der Zeche Zollverein und als solcher Ansprechpartner aller dort Beschäftigten, wenn es um Konflikte mit der Betriebsleitung ging.
Paul nahm diese Funktion sehr ernst, und er arbeitete gewissenhaft an der Erfüllung seiner Aufgaben. Einmal im Monat ging er auf einen Gewerkschaftsabend oder zu Schulungen. Er hielt auf Zollverein Sprechstunden ab, in denen seine Arbeitskollegen zu ihm kommen und ihr Leid klagen konnten. Paul war stolz, als Gewerkschafter Ansprechpartner für seine Kollegen sein zu dürfen, und auch Ute sah es gern, wenn er dieses Amt wahrnahm. Die Zukunft der Zeche Zollverein sah nicht sehr rosig aus, wie allgemein bekannt war. Es gab ausländische Kohle auf dem Markt, die zum Beispiel aus Australien kam und trotz des Seeweges um die halbe Erde und trotz ihres Transportes von Rotterdam nach Duisburg-Ruhrort billiger zu haben war als die heimische Kohle. Das lag im Falle der australischen Kohle daran, dass sie im Tagebau gefördert wurde, was die Förderkosten auf ein Minimum reduzierte. Andere Herkunftsländer der Kohle verzichteten auf Sicherheitsvorkehrungen, die in Deutschland unter Tage getroffen werden mussten. Das machte die Kohleförderung natürlich auch billiger, war aber für die Kumpels vor Ort weitaus gefährlicher. Dieses Weltmarktungleichgewicht bedrohte mittelfristig die deutsche Kohleförderung und machte den Kumpels Angst, denn sie drohten arbeitslos zu werden.
Auch Paul sah selbstverständlich die nicht sehr guten Zukunftsaussichten für seine Zeche, meinte aber, dass man nicht so sehr an die Zukunft denken, sondern lieber seine Tagesarbeit abliefern sollte, und das sagte er auch allen Kumpels in seiner Sprechstunde. Denn warum sollten sie Trübsal blasen mit der Arbeit vor ihrer Brust, der Tag des Produktionsstillstandes käme für sie noch früh genug. Auch Ute war gelegentlich besorgt, wenn sie in die Zukunft blickte, aber Paul wusste sie immer zu beruhigen und verwies darauf, dass er notfalls in den Vorruhestand gehen würde, wenn er vernünftig abgefunden werden würde. Eines Tages geschah etwas in seiner Sprechstunde, das er so schnell nicht vergessen würde. Ein junger Auszubildender kam zu ihm, Dieter Siemkes war sein Name und klagte ihm sein Leid, er wäre unter Tage beim Rauchen erwischt und sofort entlassen worden. Für Paul war die Sache eigentlich sofort klar und er wusste, dass er Dieter nicht würde helfen können, denn Rauchen unter Tag war das Schlimmste, was man sich zu Schulden kommen lassen konnte, und das wusste jeder, der unter Tage arbeitete. Es war nicht nur so, dass überall auf Schildern ein Rauchverbot ausgesprochen wurde, besonders die Auszubildenden wurden beinahe täglich darauf aufmerksam gemacht, wie gefährlich es war, unter Tage zu rauchen.
Denn dort kam es in regelmäßigen Abständen zu Methangaskonzentrationen, und wenn das der Fall war, musste der Schacht sofort gut gelüftet werden, und alle Arbeit musste in der Zeit ruhen. Das Tückische am Methangas war, dass es unsichtbar, geruchlos, giftig und hochexplosiv war. Es reichte ein nur kleiner Funke, und man hatte eine Schlagwetterexplosion, wie man eine Explosion von Methangas auch nannte, der schon viele Kumpels zum Opfer gefallen waren. Dass unter diesen Umständen absolutes Rauchverbot unter Tage herrschte, war jedem unmittelbar einsichtig und musste eigentlich nicht noch gesondert hervorgehoben werden. Dennoch predigten die Ausbilder den Auszubildenden mehrmals täglich, dass sie unter Tage nicht rauchen durften. Aber die Auszubildenden waren jung und hielten sich nicht gern an Verbote, noch dazu übten Verbote einen ganz besonderen Reiz aus, sie zu übertreten. Dieter Siemkes war 18 Jahre alt und im dritten Lehrjahr als Anlagenmechatroniker, er hätte noch ein halbes Jahr bis zu seiner Gesellenprüfung gehabt und ihn traf seine Entlassung deshalb besonders hart. Natürlich würde Paul sich für Dieter verwenden und alles in Bewegung setzen, um die Entlassung wieder rückgängig zu machen. Er sagte Dieter aber gleichzeitig, dass er sich keine übertriebenen Hoffnungen machen dürfte, er hätte so ziemlich das Schlimmste getan, was man unter Tage hätte tun können. Dieter hörte sich an, was Paul ihm sagte und ließ den Kopf hängen.
„Dann werde ich meine Sachen packen und gehen!“, sagte er zu Paul.
Aber Paul wollte nicht so leicht aufgeben und sagte zu Dieter:
„Warte ab, ich will noch ein Gespräch mit dem Reviersteiger führen, und erst wen der sagt, dass Deine Entlassung unumstößlich ist, wirst Du wohl gehen müssen!“
Paul rief den Reviersteiger an und verabredete sich mit ihm zu einem Gespräch unter vier Augen, das am nächsten Tag stattfinden sollte. Dieter ging betrübt nach Hause und würde abwarten müssen, was das Gespräch zwischen dem Steiger und Paul am nächsten Tag bringen würde. Paul erzählte Ute von Dieters Vergehen unter Tage und Ute hatte kein Verständnis für den Auszubildenden:
„Selbst schuld, kann ich da nur sagen, den Auszubildenden wird doch quasi permanent gesagt, dass sie unter Tage nicht rauchen dürfen, Dieter hat sich seine Entlassung selbst zuzuschreiben!“ Aber Paul ließ sich von seinem Vorsatz, in dem Gespräch mit dem Steiger alles zu versuchen, um die Entlassung noch abzuwenden, nicht abbringen. Am nächsten Tag traf er mit dem Reviersteiger Lezek Nizkowski zusammen, einem Polen, der in Deutschland geboren war und eine Bergbaukarriere hingelegt hatte, die ihresgleichen suchte: in zwölf Jahren vom Auszubildenden zum Reviersteiger und das bei den anfänglichen Sprachschwierigkeiten, mit denen er zu tun hatte. Lezek wohnte nicht weit von Paul entfernt, die beiden hatten privat aber kaum einmal etwas miteinander zu tun.
„Ich habe schon gehört, warum Du zu mir gekommen bist, lass es Dir gleich zu Anfang sagen: von meinem Entschluss, den Auszubildenden zu entlassen, lasse ich mich von Dir nicht abbringen“, sagte Lezek zur Eröffnung des Gesprächs.
„Du warst selbst einmal Opfer einer Schlagwetterexplosion und müsstest mir Recht geben!“
„Lezek, lass mich erklären, Du hast natürlich Recht, der Junge hat den größten Fehler gemacht, den man unter Tage nur machen kann, aber sieh doch, wir können ihm doch nicht seine Zukunft verbauen, er würde in einem halben Jahr seine Gesellenprüfung ablegen und wäre fertig, glaub mir, er würde sich am liebsten selbst in den Arsch beißen, weil er so ein Hammel gewesen ist!“, entgegnete Paul. Lezek ging in seinem Büro auf und ab, es arbeitete in ihm, das konnte man sehen und nur dem Umstand, dass er selbst Kinder in Dieters Alter hatte und sich in etwa in deren Wahrnehmungsweise hineinversetzen konnte, war es zu verdanken, dass er schließlich klein beigab und sagte:
„Sag Deinem Azubi, dass er bei der geringsten Kleinigkeit, die er sich in Zukunft erlaubt, fliegt, ansonsten soll er seine Ausbildung fortsetzen!“ und Lezek stürmte aus seinem Büro. Paul fiel ein Stein vom Herzen, er wusste, dass Lezek nicht so hartherzig sein und Dieter einfach davonjagen konnte, und er hatte sich in ihm nicht getäuscht.
Er bestellte Dieter am Nachmittag zu sich und setzte die ernsteste Miene auf, die er nur aufsetzen konnte, und als er Dieter Lezeks Entschluss verkündete, kam Dieter auf ihn zu und fiel ihm um den Hals.
„Ich werde der beste Azubi sein, den Sie sich nur wünschen können!“, versprach er und war aus ganzem Herzen glücklich.
„Dann geh mal wieder an Deine Arbeit!“, sagte ihm Paul, und Dieter stürmte gleich los zur Kaue, zog sich um und fuhr unter Tage. Paul war zufrieden mit dem Ausgang des Konflikts um die drohende Entlassung von Dieter, und als er zu Hause Ute davon erzählte, sagte sie:
„Hoffentlich enttäuscht Euch der Junge nicht!“ Aber Paul war fest davon überzeugt, dass Dieter in dem verbleibenden halben Jahr seiner Ausbildung alles geben würde. In letzter Zeit machte ihm sein altes Rückenleiden doch sehr zu schaffen und Paul war bei seinem Orthopäden in Therapie, der sich Röntgenbilder von seinem Rücken ansah und ihm sagte:
„Sie haben bei der Schlagwetterexplosion vor drei Jahren eine leichte Fraktur der Wirbelsäule davongetragen, an der Bruchstelle haben sich Knorpel gebildet, die den Wirbelkanal verengen und den Nerv reizen, dadurch entstehen ihre Schmerzen.
„Was kann ich dagegen tun?“, fragte Paul den Orthopäden und der antwortete ihm klipp und klar:
„Da hilft nur eine Operation, bei der der Knorpel weg gefräst und vielleicht zur Stabilisierung eine kurze Schiene an die Wirbelsäule angebracht wird, lassen Sie sich die Sache durch den Kopf gehen, der operative Eingriff dauert nur zwei Stunden, danach werden Sie für zwei Wochen stationär aufgenommen und fahren anschließend für drei Wochen in die Reha, voll belastbar sind Sie dann erst wieder nach einem Vierteljahr, ich rate Ihnen, warten Sie mit der Operation nicht zu lange!“ Paul war dem Orthopäden für seine klaren Worte dankbar und besprach zu Hause mit Ute, was er denn tun sollte. Ute sagte ihm sofort, dass er sich operieren lassen und sich schon am nächsten Tag einen Einweisungsschein beim Orthopäden holen sollte. Bevor sich Paul für zwei Wochen ins Krankenhaus verabschiedete, nahm er in seinem Büro ein Päckchen aus seiner Schreibtischschublade und versteckte es zu Hause in seinem Gartenschuppen. Die Operation verlief vollkommen komplikationslos und Paul genoss die zwei Wochen, in denen er nach der Operation im Krankenhaus umsorgt wurde. Ute besuchte ihn jeden zweiten Tag und auch seine Arbeitskollegen schauten bei ihm vorbei und brachte ihm eine Kleinigkeit mit, eine Tafel Schokolade oder eine Flasche Wein. Einmal klopfte es an seine Zimmertür, und nachdem er zweimal „Herein!“ gerufen hatte und sich immer noch nichts tat, stand er auf und spürte zum ersten Mal seit Langem keine Schmerzen in seinem Rücken. Er freute sich und öffnete die Zimmertür von innen, und da stand Dieter Siemkes mit einem Blumenstrauß und wusste nicht, was er sagen sollte.
„Das ist ja schön, dass Du mich mal besuchen kommst, komm mit rein und setz Dich neben mein Bett!“, sagte Paul zu Dieter und nahm ihm die Blumen ab.
„Wie läuft es denn so auf Zollverein?“, fragte er den Azubi und Dieter antwortete:
„Ich gehe jetzt nochmal so gern zur Arbeit, und das habe ich nur Ihnen zu verdanken!“
„Na lass mal gut sein“, entgegnete Paul, „erzähl mir doch mal, was Ihr gerade in der Berufsschule durchnehmt!“
„Wir sprechen gerade über Geothermie und ihre Nutzung durch die Privathaushalte“, antwortete Dieter, „und wenn man sich einmal überlegt, bei welchen Temperaturen wir auf 1000 Meter arbeiten, fragt man sich schon, warum nicht schon früher jemand auf den Trichter gekommen ist, die Wärme nach oben zu leiten!“ Paul und Dieter unterhielten sich lange über diesen Punkt, und Paul dachte nur, dass er schon lange nicht mehr über Geothermie geredet hatte, eigentlich seit seiner eigenen Ausbildung nicht mehr. Nach eineinhalb Stunden verließ Dieter ihn wieder mit den besten Genesungswünschen und Paul verbrachte noch drei Tage in dem Krankenhaus, die ihm nicht langweilig vorkamen, er hatte sich mit Lesestoff eingedeckt und wusste sich auch mit seinem Zimmernachbarn zu unterhalten, abends sahen sie immer fern. Nach seiner Entlassung stand eine Reha-Kur an, die die Knappschaft bezahlen würde.
Er sprach mit dem Orthopäden darüber, dass die Kur auf Borkum stattfinden sollte, Ute käme mit und hätte drei Wochen Urlaub. Die Kinder waren alt genug, dass man sie in der Zeit allein lassen konnte, Ute kochte für sie vor und fror das Essen ein, das Jennifer und Pascal sich nur in der Mikrowelle erhitzen mussten. Es war Spätsommer geworden und Ute und Paul ließen es sich auf Borkum gut gehen, sie machten lange Strandspaziergänge und fühlten sich rundum wohl. Es kam die Sprache darauf, was mit Paul geschähe, wenn auf Zollverein die Kohleförderung eingestellt werden würde, und Ute fragte ihn direkt:
„Hast Du Dir schon einmal Gedanken über die Zeit nach Zollverein gemacht?“ Paul hatte es bis dahin immer vermieden, darüber zu sprechen, er schob seine Entscheidung, die unabdingbar bevorstand, vor sich her, er wollte einfach nicht wahrhaben, dass die Zeit des Kohleabbaus bald beendet sein sollte. Er war 43 Jahre alt und damit eigentlich viel zu jung, sich aufs Altenteil zu setzen, aber er wusste selbst nicht, wie die Zechenleitung mit den Kumpels in seinem Alter zu verfahren gedachte, er wollte den Tag X auf sich zukommen lassen. Die drei Wochen auf Borkum waren sehr schnell um, zu schnell wie Ute und Paul fanden, und sie beschlossen, im nächsten Sommer einmal Urlaub auf Borkum zu machen.
Als sie wieder zu Hause waren, nahm Paul seine Arbeit wieder auf, er achtete darauf, dass er dabei mit reduzierter Kraft vorging, wie ihm das der Orthopäde gesagt hatte. Man nahm auf der Zeche Rücksicht auf ihn und setzte ihn für leichte Tätigkeiten ein, er verbrachte auch schon einmal eine Schicht über Tage. Und dann kam im Frühjahr 1986 der Tag, an dem allen Kumpels auf Zollverein mitgeteilt wurde, dass der Betrieb zum Jahresende auslaufen würde, und jeder sich mit dem Gedanken vertraut machen sollte, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Was mit jedem einzelnen geschehen würde, sollten alle beim Betriebsrat in Erfahrung bringen. Die Betriebsräte, also auch Paul, wurden in gesonderten Veranstaltungen darauf vorbereitet, ihre Kollegen kompetent zu beraten, was sie tun sollten, wenn ihre Arbeit auf Zollverein beendet wäre. Für die meisten käme eine Arbeit auf einer anderen Zeche in Frage und das waren Niederberg in Neukirchen-Vluyn, Friedrich-Heinrich in Kamp Lintfort und Prosper-Haniel in Bottrop, bis auch diese Zechen schließen würden, aber dazu konnte man im Moment noch nichts Konkretes sagen. Als die Zeche Zollverein im Dezember 1986 geschlossen wurde, wurde die gesamte Zechenanlage vom Land NRW übernommen und unter Denkmalschutz gestellt. Paul ging für 10 Jahre zu Prosper-Haniel und fuhr mit Kollegen aus der Nachbarschaft gegen Beteiligung am Spritgeld mit, er selbst hatte noch nie ein Auto und wollte sich auch keins anschaffen.
Ute und er waren Mitte Fünfzig, als ihre Kinder längst aus dem Haus waren, beide ein Studium abgeschlossen hatten und Pascal Architekt und Jennifer Gymnasiallehrerin für Englisch und Mathematik geworden waren. Beide hatten sie auch schon Familie und kamen mit ihren Kindern regelmäßig nach Katernberg zu Besuch, worüber sich Oma Ute und Opa Paul immer sehr freuten. Eines Tages kam Paul zu Ohren, dass für Führungen über die inzwischen renovierte und in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommene Zeche qualifiziertes Personal gesucht wurde. Paul fühlte sich angesprochen und bewarb sich bei der Stiftung Zollverein auf die ausgeschriebene Stelle. Schon nach dem ersten Gespräch war klar, dass es einen qualifizierteren Menschen als ihn für die Stelle gar nicht geben konnte, und er bekam den Posten. Damit war für Paul seine Zeit als Bergmann endgültig vorbei, und er übernahm es, Besuchern etwas von dem Gefühl und dem Empfinden, das die Bergleute damals gespürt hatten, zu vermitteln. Als er seine alte Arbeitsstätte wiedersah, traute er seinen Augen kaum, so sehr hatte sich alles verändert. Der Doppelförderturm an Schacht 12 war zum weltweit bekannt gewordenen Symbol des Weltkulturerbes geworden und Paul empfand Stolz dabei, in einer Einrichtung mit Weltgeltung arbeiten zu dürfen. Seine Aufgabe bestand darin, Besucher zu den Schnittstellen der ehemaligen Kohleförderung zu führen und Besucher gab es reichlich auf Zollverein. Auch ausländische Besucher gab es in Massen, und Paul sah sich mit einem Mal vor das Problem gestellt, japanischen Besuchern auf Englisch erzählen zu müssen, was sie jeweils zu sehen bekamen.
Aber man hatte ihm schon bei der Bewerbung auf diese Stelle nahegelegt, sein Englisch aufzufrischen und Kurse bei der VHS zu belegen, und das hatte Paul dann auch getan. Er fühlte sich am Ende sogar ziemlich sicher, wenn er von ausländischen Besuchern um Auskünfte gebeten wurde. Der neue Job erfüllte ihn voll und ganz, und er ging in ihm auf. Ute bekam mit, wie er immer frohen Mutes von Zollverein nach Hause kam und guter Dinge war. Das war schon etwas anderes, als seine Beschäftigung unter Tage und seit sein Rücken wieder in Ordnung war, konnte er sich bewegen wie ein junger Mann. Ute und Paul führten ein glückliches Leben als Großeltern und Paul ging mit 65 Jahren in Rente, wenngleich es ihm sehr schwerfiel, seiner alten Wirkungsstätte den Rücken zu kehren. Aber irgendwann musste auch für Paul das Arbeitsverhältnis beendet werden, das für ihn entbehrungsreich genug gewesen war. Jennifer und Pascal waren sogar beide ein bisschen stolz auf ihren Vater, dass er nun Guide auf Zollverein geworden war, und sie besuchten ihn auf Zollverein regelmäßig mit ihren Kindern. Sie setzten sich dann vor dem Museumseingang vor das Cafe und ihre Kinder genossen es, wenn sie ein Eis schlecken durften.