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Rosi und Berthold Klausner

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„Hört auf, auf dem Schulhof zu rennen!“, schallte die Stimme von Oberstudienrat Klausner über den Hof des Gymnasiums an der Hamburger Straße. Er hatte Pausenaufsicht und versah seinen Aufsichtsdienst immer mit großer Obacht, damit den Schülern auch ja nichts geschah. Denn wenn sie so draufgängerisch über den Schulhof liefen, bestand immer die Gefahr, dass jemand von ihnen stürzte und sich dabei verletzte. Immer wieder erwischte er auch Schüler dabei, wie sie ohne Erlaubnis rauchten, denn das Rauchen war im gesamten Schulgebäude und auch auf dem Hof verboten. Die Schulleitung hatte darum gebeten, besonders bei den Pausenaufsichten darauf zu achten. Und so warf Oberstudienrat Klausner einen Blick in die versteckten Ecken des Schulhofes, wo sich immer Schüler zum Rauchen verborgen halten konnten, und er ertappte regelmäßig welche. Die brachte er zum Schulleiter, der dann eine Klassenkonferenz einberief, und das war in den Augen der meisten Kollegen das Schlimmste daran, dass sie ihren Nachmittag opfern mussten, nur weil ein Schüler beim Rauchen erwischt worden war. Der betroffene Schüler kam in den allermeisten Fällen mit einem Verweis davon. Berthold Klausner war seit 20 Jahren Lehrer am Gymnasium an der Hamburger Straße, er unterrichtete die Fächer Sozialwissenschaften und Geschichte und hatte sich nach seiner Referendarzeit in Kleve-Kellen nach Bremen beworben und wurde eingestellt.

Er war verheiratet und hatte zwei Kinder im Alter von 16 und 17 Jahren, die beide auf seine Schule gingen und tunlichst darauf achteten , dort nicht auf ihn zu treffen. Er hatte sie so gut wie nie im Unterricht, drängte bei der Stundenplanung immer darauf, und sein Wunsch wurde in der Regel berücksichtigt. Als Berthold Klausner im Bremen anfing, hatte er zusammen mit seiner Frau Rosi ein Haus in der Wielandstraße mitten im Viertel gekauft, weil sie beide fanden, dass das Viertel etwas hatte, in ihm pulsierte das Leben, in ihm hatten junge Leute Spaß, und in ihm schienen eigene Gesetze zu gelten. Mittlerweile hatte sich Rosis und sein Blick auf das Viertel ein wenig geändert, sie waren beide reifer geworden und brauchten den Trubel und die Hektik um sich herum nicht mehr. Sie genossen es, wenn Stille herrschte, die sie von ihrem Schulalltag abschalten ließ, denn auch Rosi war Lehrerin. Sie war allerdings am Hermann-Böse-Gymnasium tätig, das am Südwest-Rand des Bürgerparks lag und eine weitaus unproblematischere Schülerschaft hatte, als das Gymnasium von Berthold. Problematisch sollte in diesem Zusammenhang verhaltensauffällig heißen, und da gab es einige besonders herausragende Schüler am Gymnasium an der Hamburger Straße, es sind sogar Rauschgiftdelikte vorgekommen. Aber Berthold war sehr gerne Lehrer an seiner Schule, ihn reizte es geradezu, auch mit unangepassten Schülern umzugehen, die sein ganzes pädagogisches Geschick herausforderten, und die zu nehmen nicht ganz leicht war.

Agnes und Bernd, die beiden Kinder von Rosi und Berthold, waren mittelmäßig begabte Kinder und kamen überall so mit. Agnes wollte nach dem Abitur Jura studieren und Bernd wollte wie sein Vater Gymnasiallehrer werden, er wollte die Fächer Physik und Sport belegen. Beide wollten sie von Bremen weg, was ein völlig normaler Vorgang wäre, denn dass die Kinder in ihrem Heimatort studierten, war eher die Ausnahme. Weder Agnes noch Bernd fühlten sich dem Viertel sehr verbunden, sie gehörten nicht zu denen, die gern in Kneipen herumhingen oder Rauschgift zu sich nahmen. Sie orientierten sich mehr in die Innenstadt und gingen, wenn sie ausgingen, zur Schlachte oder ins Alex, dorthin eben, wo sich die Normalbürger vergnügten, und nicht die in ihren Augen abgehalfterten Typen herumlungerten. Sie hatten zu ihren Eltern ein gutes Verhältnis und erörterten mit ihnen auch durchaus Probleme, die ihnen auf den Nägeln brannten. Besonders Rosi war für Agnes eine Ansprechpartnerin, wenn es um ihre Freunde ging und Agnes einen mütterlichen Ratschlag brauchte. Bernd hielt sich da sehr zurück, aber auch er wandte sich mit Dingen, die ihn beschäftigten, an seine Eltern, besonders an Berthold. Einmal kam Agnes zu ihrer Mutter und war sichtlich mitgenommen, sie hatte gerade mit ihrem Freund Schluss gemacht, und Rosi sagte zu Agnes:

„Agnes, ich sehe Dir ganz genau an, dass Dich etwas tief bewegt, hast Du mit Deinem Freund Schluss?“, Agnes glaubte beinahe, eine Hellseherin vor sich zu sehen und antwortete ihrer Mutter in aller Kürze:

„Ja“.

„Komm, setz Dich und trink eine Tasse Kaffee mit mir!“, sagte Rosi zu ihr, „wer hat denn Schluss gemacht, Du oder er?“

„Er“, antwortete Agnes wieder kurz, und Rosi nahm ihre Tochter in ihre Arme und drückte sie. Agnes liefen einige Tränen ihre Wangen hinunter, und Rosi nahm ein Tempotuch und wischte sie ab.

„Manchmal hat so eine Trennung auch etwas Befreiendes“, sagte sie zu Agnes, „wenn nämlich schon vorher in der Beziehung etwas im Argen gelegen hatte, und sich die beiden nur nicht getraut hatten, sie zu beenden!“ Agnes schluchzte ein wenig und fand, dass ihre Mutter ihr aus der Seele gesprochen hatte, und Rosi merkte, dass sie mit all dem, was sie sagte, bei ihrer Tochter ankam und sie fuhr fort:

„Ich weiß, dass es im Moment der Trennung immer sehr hart für den Betreffenden ist, aber das dauert in der Regel nicht sehr lange, und man atmet wieder durch.“ Sie wusste, dass es Allgemeinplätze waren, die sie von sich gab, sie wusste aber auch, dass sie ihrer Tochter helfen würden, über ihren Trennungsschmerz hinwegzukommen, und kurze Zeit später fühlte sich Agnes auch wieder gut und dankte ihrer Mutter für die Anteilnahme, die sie ihr zuteil werden ließ. Das war eine Spezialität von Rosi, sich in die Notlagen anderer hineinzuversetzen und ihnen Trost zusprechen zu können.

Das konnte sie auch in ihrer Schule gut, wenn sie sah, dass Schüler durchhingen und es ihnen nicht so gut ging. Dann nahm sie sie in den Arm und gab ihnen ein paar warme Worte mit auf den Weg, und schon ging es den Schülern wieder besser. Auch Berthold war jemand, der sich den jungen Menschen anvertrauen und ihnen Mut zusprechen konnte, wenn sie sich in Notsituationen befanden. Er war an seinem Gymnasium seit Jahren Verbindungslehrer, und das kam nicht von ungefähr, denn die Schüler wussten von seiner Fähigkeit, ein Ohr für sie zu haben und Partei für sie zu ergreifen, auch gegen die Schulleitung. Wenn allerdings eklatante Verstöße gegen die Schulordnung vorlagen, waren auch ihm die Hände gebunden und er konnte dem Delinquenten nicht helfen, aber das wussten die Schüler natürlich auch. So war es im Fall Manfred Seier, als der „Vor dem Steintor“ von der Polizei mit Rauschgift aufgegriffen worden war, und die Polizei in das Gymnasium kam, um ein Gespräch mit der Schulleitung zu führen, bei dem Berthold als SV-Lehrer zugegen war. Manfred war zu diesem Zeitpunkt bei einer Vernehmung auf dem Präsidium und völlig in sich versunken. Die Polizei brachte keinen Ton aus ihm heraus, als sie in der Schule anrief und dort um Hilfe bat. Berthold wurde von der Schulleitung zum Präsidium geschickt, um Manfred zum Reden zu bringen, und als Berthold dort eintraf, fand er einen apathischen Jungen dort sitzen, der dem Heulen sehr nahe war.

Als er Berthold erscheinen sah, hellten seine Gesichtszüge kurzzeitig auf, um sich aber im selben Augenblick wieder zu verfinstern. Als Berthold sich neben ihn setzte und ihn bat, die Fragen der Beamten zu beantworten, fragte Manfred:

„Was wollen die denn von mir wissen?“, und der Vernehmungsbeamte setzte sofort nach und fragte Manfred:

„Woher hast Du das Heroin, das wir bei Dir gefunden haben, bekommen?“ Manfred überlegte kurz und antwortete dann:

„Das hat mir ein Dealer gegeben, damit ich es in der Schule für ihn verkaufe, ich bekomme 30% des Verkaufserlöses von ihm.“

„Wo finde ich den Dealer, und wie heißt er?“, fragte der Beamte weiter. Aber da blockte Manfred ab und hüllte sich in Schweigen, und erst als Berthold ihn aufmunterte, doch weiter zu erzählen, nannte der den Namen des Dealers, der bei der Polizei hinlänglich bekannt war, und er nannte den Ort, an dem die Rauschgiftübergabe stattgefunden hatte:

„Ich stand vor dem „Piano“ gegenüber der Sparkasse Ecke „Fehrfeld/Vor dem Steintor“, als mich der Dealer ansprach und mir ein Geschäft vorschlug, es standen noch viele andere Leute vor dem „Piano“, er kam aber gezielt auf mich zu, als wüsste er, wer ich war.“ Der Vernehmungsbeamte zeigte Manfred daraufhin eine Fülle von Fotos, aus denen er den Dealer heraussuchen sollte, um sicher zu gehen, dass Manfred auf den zeigte, der bei der Polizei bekannt war.

Als der Beamte die Bilder auf seinem Monitor durchscrollte, sagte Manfred bei dem entsprechenden Bild „Stopp!“, und es war tatsächlich Sven Bormann, der schon sehr oft wegen kleinerer Rauschgiftvergehen auffällig geworden war, dieses Mal käme er aber wegen Dealerei für lange Zeit ins Gefängnis. Was aber würde mit Manfred werden, wie würde die Schule auf sein Fehlverhalten reagieren? Für Berthold war Manfred ein ganz lieber Schüler gewesen, den er über die Jahre seiner Gymnasialzeit bis zur Jahrgangsstufe 13 immer begleitet hatte, und der nie negativ aufgefallen war, er hatte ihn auch einige Male im Unterricht und war mit seinen Leistungen insgesamt zufrieden. Berthold begleitete Manfred zu ihm nach Hause und traf dort auf seine Mutter, die völlig ahnungslos und davon ausgegangen war, das ihr Sohn sich in der Schule aufhielt. Als Berthold berichtete, was vorgefallen war, ließ sie sich auf einen Stuhl niedersinken und fing an zu weinen.

„Frau Seier, die Sache ist schlimm, sicher, aber ich werde für Manfred in der Schule rausholen, was ich kann, das verspreche ich Ihnen!“, sicherte Berthold zu und Frau Seier hörte auf zu weinen.

„Manfred, Du bist bis auf Weiteres vom Unterricht suspendiert und hörst von mir, wenn die Schule sich um Deinen Fall kümmert!“, sagte Berthold und fuhr wieder zum Gymnasium.

Sofort kam der Schulleiter zu ihm uns war vollkommen außer sich, ihm war daran gelegen, dass der Fall nicht an die große Glocke gehängt und ein schlechtes Licht auf die Schule werfen würde.

„Wegen der Schwere des Falles werde ich eine Lehrerkonferenz einberufen, die entscheiden soll, wie mit dem Schüler Seier verfahren werden wird!“, sagte er zu Berthold, und Berthold nahm den Entschluss seines Schulleiters zur Kenntnis. Es dauerte nicht lange, und der Fall Manfred Seier war bei der Presse gelandet, was sich auch nicht verhindern ließ. Aber als Journalisten der Regenbogenpresse das Schulgelände zu bevölkern begannen und Mitschüler zu Manfred ausquetschen wollten, ging Berthold dazwischen und verwies sie im Auftrag der Schulleitung vom Gelände. Danach stand in jeder Tageszeitung Bremens ein großer Artikel über den Rauschgiftfall Manfred Seier. Die Polizei verstärkte die Gruppe von Zivilbeamten, die sich an der Ecke „Fehrfeld/Vor dem Steintor“ aufhalten und versuchen sollten, Sven Bormann aufzugreifen und zu verhaften. Als der Tag der Lehrerkonferenz in der Schule gekommen war, zu der alle Lehrer erscheinen und ihren freien Nachmittag opfern mussten, hatte sich Berthold vorgenommen, für Manfred Partei zu ergreifen, ohne das Vergehen, dessen er sich schuldig gemacht hatte, in irgendeiner Weise abzumildern. Sein Ziel war es, dem Schüler nicht seine Schulkarriere zu verbauen, obwohl die Schwere seines Deliktes eigentlich dazu ausgereicht hätte, ihn der Schule zu verweisen.

Aber er kannte Manfred ja und wusste, dass es nicht seinem Charakter entsprach, mit Rauschgift zu dealen. Das sagte er auch auf der Lehrerkonferenz, als ihm das Wort erteilt worden war und er sagte weiter:

„Wir alle tun uns leicht damit, den Stab über einen Schüler zu brechen und ihn von der Schule zu weisen, ich möchte aber in speziell diesem Fall darauf hinweisen, dass ich den Jungen gut kenne und meine Hände für ihn ins Feuer legen würde!“ Er wusste, dass er damit sehr dick aufgetragen hatte, aber er wollte bei seinen Kollegen Wirkung erzielen und das gelang ihm letztendlich auch. Manfred Seier bekam ein umfangreiches Maßnahmebündel auferlegt, das umfasste insbesondere Nachmittagsarbeiten in der Schule und Nachhilfestunden für die jüngeren Jahrgänge, von einem Schulverweis blieb er aber verschont. Das Ergebnis der Gerichtsverhandlung, die seinetwegen anberaumt worden war, war, dass er zu 200 Sozialstunden verurteilt wurde. Die Richterin hatte ein Einsehen in die Situation des Schülers Manfred Seier und blieb in ihrem Urteil recht mild. Der Fall Manfred Seier war für Berthold ein Fall mit ganz besonderer Tragweite, wie man ihn im Leben nur äußerst selten erlebt, und er beobachtete Manfred während seiner gesamten restlichen Schulzeit, die er mit einem mittelprächtigen Abitur abschloss. Manfred kam unmittelbar nach der Lehrerkonferenz zu Berthold und dankte ihm über alle Maßen für seinen Einsatz, er bekam sich kaum noch ein, und auch Manfreds Eltern wollten sich erkenntlich zeigen. Aber Berthold wies sie ab und sagte:

„Ich habe nur getan, wozu ich als Verbindungslehrer verpflichtet gewesen bin!“ Auch bei ihm zu Hause hatte der Fall für einigen Wirbel gesorgt, Agnes und Bernd kannten Manfred natürlich und waren genau wie ihr Vater der Ansicht, dass Manfred ein völlig harmloser Mensch war, dem sie ein solches Vergehen nie zugetraut hätten. Rosi sagte:

„An meinem Gymnasium wäre ein solcher Fall undenkbar, ich will nicht sagen, dass es bei uns nur lammfromme Schüler gibt, aber einen Fall von solcher Schwere kann ich mir bei uns nicht vorstellen.“ Agnes hatte bald wieder einen Freund und war sehr glücklich mit ihm. Er kam von einem anderen Gymnasium und war ein Jahr älter als Agnes.

Die beiden gluckten herum und unternahmen viel in ihrer Freizeit. Sein Name war Tommy, und wenn Tommy bei Agnes zu Hause war, unterhielt sich Rosi gern mit ihm. Nicht, dass sie sich in Agnes´ Angelegenheiten einmischen wollte, sie sprach nur gern mit jungen Menschen und versuchte immer, einen Kontakt zu ihnen aufrecht zu erhalten. Agnes hatte das auch sehr gern, wenn ihre Mutter mit ihrem Freund sprach, und Tommy war ein überaus sympathischer Junge, wie Rosi fand und auch Berthold sah es gern, wenn seine Tochter mit Tommy zusammen war.

Am Ende hatte auch Bernd eine Beziehung mit einem Mädchen, er tat sich deutlich schwerer damit als seine ein Jahr ältere Schwester, er war insgesamt reservierter und traute sich nicht so schnell aus seiner Deckung. Jasmin war ein liebes Mädchen und auch sie mochten Rosi und Berthold gern, weil Jasmin so viel Wärme ausstrahlte und sie auf Bernd übertrug. Jasmin und Bernd gingen oft zur Schlachte oder sie fuhren mit ihren Rädern zum Bürgerpark und spielten eine Runde Minigolf. Manchmal kamen Agnes und Tommy mit und spielten auch eine Runde, aber das kam selten vor. Beide jungen Pärchen machten einen glücklichen Eindruck und Rosi und Berthold freuten sich, dass es ihren Kindern gut ging, und sie sich mit ihren Partnern wohlfühlten. Als Rosi und Berthold an einem der nächsten Abende ins Cinema am „Ostertorsteinweg“ gingen, um sich den Film „Boyhood“ anzusehen, kamen sie auf dem Rückweg an der Ecke „Fehrfeld/Vor dem Steintor“ vorbei und blieben einen Augenblick stehen, um sich die Szenerie anzusehen. Berthold schlug Rosi vor, dass sie sich vor das „Piano“ setzten und etwas tranken. Von dort hatten sie einen ganz hervorragenden Blick auf das Geschehen im Viertel, dessen Hauptattraktionen sich genau dort abspielten. Sven Bormann war längst verhaftet und zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, weil sich bei ihm ein ganzes Bündel kleiner und kleinster Straftaten angehäuft hatte, dass noch zu seiner Dealertätigkeit addiert wurde.

Mit einem Mal konnten Rosi und Berthold beobachten, wie ein Passant einem anderen ein Päckchen mit einem weißpulvrigen Inhalt zuschob, und für die beiden war klar, dass dort gerade Rauschgift seinen Besitzer gewechselt hatte. Sie waren doch verblüfft, dass das so offen auf der Straße geschah. Zu ihrer Zeit, als sie noch in den Römer gegangen waren und dort zu Dave Brubecks Take Five Bier getrunken hatten, hat man so etwas nicht gesehen. Überhaupt hatte sich das Viertel mächtig verändert und Berthold fragte Rosi:

„Hast Du manchmal das Gefühl, dass wir woanders hinziehen sollten?“ Aber Rosi antwortete:

„Genauso wie sich das Viertel geändert hat, haben wir uns doch auch geändert, ich denke, wir müssen mit den Veränderungen zu leben versuchen, mit ihnen klarkommen, wir können nicht einfach vor den Verhältnissen kapitulieren und uns aufs Altenteil begeben!“ Berthold sah Rosi an und war erstaunt über ihre so klar vorgebrachten Worte, aber so kannte er sie, wenn sie ihre Meinung artikulierte, drückte sie sich unmissverständlich aus, und es gab an ihren Worten nichts zu erklären.

„Ich finde auch, dass wir in der Wielandstraße wohnen bleiben sollten, schon allein der Kinder wegen, die sich dort wohlfühlen und dort ihre Freunde haben“, entgegnete Berthold, „auch wenn sich quasi vor unserer Haustür schlimme Kriminalität abspielt, aber das gehört heute offensichtlich zum Erscheinungsbild der Gesellschaft, dass sich Rauschgiftdealer mehr oder weniger frei bewegen können.“

„Ich glaube, dass die Polizei die im Auge hat, und wir nur nicht wissen, wo sich die Zivilpolizisten gerade aufhalten“, erwiderte Rosi. Berthold zahlte und er unterhielt sich auf dem Weg nach Hause noch mit Rosi über den Film, der beiden überaus gut gefallen hatte, trotz seiner Überlänge. Der Protagonist war während der zwölf Jahre seines Heranwachsens gefilmt worden, und er spielte seine Rolle sehr authentisch, das machte ihn glaubwürdig und der Film war an keiner Stelle langweilig. Rosi und Berthold kamen zu Hause an, und Rosi schenkte jedem noch ein Glas Wein ein, obwohl es schon beinahe Mitternacht war. Aber ihr war danach, und sie setzte sich mit Berthold noch ins Wohnzimmer und redete mit ihm über ihre momentane Situation.

„Bist Du eigentlich glücklich mit Deinem Leben?“, fragte sie Berthold frei heraus. Berthold war wie vor den Kopf gestoßen, er antwortete aber:

„Wenn Glück bedeutet, dass man ein Höchstmaß an subjektiver Zufriedenheit empfindet, dann bin ich glücklich!“ Rosi ließ seine Worte eine Weile im Raum stehen, bevor sie entgegnete:

„Für mich gilt das Gleiche!“ und sie gab Berthold einen Kuss.

„Warum sollten wir uns also verändern?“ fragte sie im Anschluss und verstand ihre Frage als rhetorische Frage. Plötzlich erschienen Agnes und Bernd aus ihren Zimmern und Agnes fragte:

„Was sitzt Ihr denn mitten in der Nacht hier herum und unterhaltet Euch, das habe ich bei Euch ja noch nie erlebt?“

„Warum dürfen Euer Vater und ich uns denn nicht unterhalten, auch wenn es mitten in der Nacht ist?“, fragte Rosi bewusst provokativ und Agnes entgegnete:

„Worüber redet Ihr denn, dass es so wichtig ist, dass Ihr es jetzt tut?“

„Wir unterhalten uns über die Frage, ob wir glücklich sind“, antwortete Berhold und Bernd fragte:

„Und, seid Ihr glücklich?“ Rosi sah ihren Sohn an und sagte ihm:

„Ja, Euer Vater und ich sind glücklich und wir wollen, dass dieser Zustand so lange wie möglich andauert!“

„Aber ich denke, dass wir jetzt alle ins Bett gehen sollten, wenn Ihr wollt, können Rosi und ich Euch Morgen etwas über den Film erzählen, den wir heute Abend im Cinema gesehen haben!“, sagte Berthold. Als alle nach oben verschwunden waren, ging er schnell in sein Arbeitszimmer, wo er einen in die Wand eingelassenen Safe hatte, öffnete ihn und sah nach, ob das Päckchen, das er darin verwahrte, noch drin war. Anschließend schloss er den Safe wieder zu und ging schlafen. Am nächsten Morgen saßen sie alle vier um 6.30 h in der Küche beim Frühstück, als Rosi wie beiläufig den Vorschlag machte, in den nächsten Herbstferien doch gemeinsam mit Tommy und Jasmin in den Urlaub zu fahren, wohin, müsste man dann sehen. Agnes und Bernd sahen sich vieldeutig an und Agnes sagte:

„Ich finde Deine Idee toll, und ich werde mit Tommy darüber reden!“ und Bernd schloss sich an:

„Auch ich werde mit Jasmin sprechen, ich finde Deine Idee auch toll!“ Und so kam es, dass sie nachdem sie sich kurz miteinander ausgetauscht hatten, alle für zwei Wochen nach Mallorca fuhren, Rosi hatte die Reise gebucht und drei Doppelzimmer in Alcudia reservieren lassen. Es war noch schön warm auf Mallorca, während es zu Hause in Bremen draußen allmählich ungemütlich wurde, und man sich wünschte, noch einmal Wärme abzubekommen. In Alcudia hatten sie ein schönes Hotel mit Halbpension direkt an der ausladenden Bucht, und sie gingen alle sehr oft ins Wasser. Die Wassertemperatur betrug im Herbst noch 25° C, und das war sehr angenehm. Sie hielten sich den ganzen Tag am Strand auf und machten dort Ballspiele, wenn sie nicht schwammen oder in der Sonne dösten. Zweimal liehen sie sich einen Wagen und fuhren einmal über die Tramuntana nach Soller und nach Palma und einmal suchten sie die Orte im Süden der Insel auf und besuchten auch Märkte in den Städten im Innern. Wenn abends im Hotel das Buffet freigegeben wurde, aß jeder von ihnen wie ein Scheunendrescher, denn über Tag hatten sie alle Hunger bekommen und dagegen höchstens einmal ein Sandwich gegessen. Tommy war ein begnadeter Fotograf und er schoss eine Menge Fotos mit seiner Digicam, sowohl am Strand als auch auf ihren beiden Exkursionen.

Als sie nach den zwei Wochen wieder zu Hause waren, zog Tommy die 500 Fotos, die er hatte, auf seinen PC und schlug vor, doch einen Fotoabend zu veranstalten, er wollte sich dazu um einen Beamer kümmern. Rosi und Berthold sagten sofort, dass der Abend bei ihnen stattfinden sollte, sie würden etwas zu essen kochen, und anschließend könnte Tommy seine Fotos auf die Leinwand projizieren, die sie noch von alten Diashows im Keller stehen hatten. Als der Abend gekommen war, hatte Rosi Rumpsteaks gebraten und dazu Kartoffeln und Bohnen hingestellt. Die Steaks waren sehr zart und von ausgesuchter Qualität, zum Nachtisch gab es Tiramisu. Jasmin sagte:

„Das Essen ist so gut, dass ich mein Geschmacksempfinden kaum beschreiben kann, aber ich fand unser Essen in Alcudia auch in Ordnung!“ Sie räumten nach dem Essen schnell den Tisch ab und Tommy baute seine Utensilien auf, die er für die Fotovorführung brauchte – Leinwand, Beamer und Notebook. Beinahe wäre die Vorführung an einem fehlenden Kabel gescheitert, aber Tommy fand das Kabel noch in seiner Tasche und schloss es an. Als das erste Bild auf der Leinwand zu sehen war, bat Berthold darum, dass Tommy noch wartete, denn er wollte Getränke und Knabbereien holen. Er stellte Bier und Wein auf den Tisch und legte Nüsse dazu, dann konnte es endlich losgehen. Solche Fotovorführungen hatten immer etwas Kommunikatives, besonders, wenn die Betrachter selbst dabei gewesen waren und sich mit Leichtigkeit in die jeweils gezeigte Szene hineinversetzen konnten.

Es genügte immer nur ein Wort oder ein kleiner Satz, und jeder wusste sofort, worum es ging, wie es dort roch, welche Lautstärke dort geherrscht hatte, und wie warm es dort gewesen war. Bis Tommy seine 400 Fotos gezeigt hatte, 100 hatte er schon vorher aussortiert, weil sie teilweise doppelt und dreifach vorkamen, dauerte es an die drei Stunden und alle waren wie gerädert, als der Fotovortrag vorüber war. Sie fanden den Abend aber sehr schön und würden gern in dieser Runde noch einmal Fotos anschauen, vielleicht alte Dias von Rosi und Berthold.

Die beiden erklärten sich gleich bereit, unter ihren tausenden von Dias zu forschen und alte Schätzchen herauszusuchen, besonders solche, auf denen Agnes und Bernd als Kleinkinder zu sehen waren, und sie nahmen sich vor, im Laufe des kommenden Winters noch einmal einen solchen Fotoabend zu veranstalten.

Die Beziehungen von Agnes und Bernd bestanden noch über Jahre weiter und Tommy und Jasmin waren schließlich wie weitere Kinder für Rosi und Berthold, man fuhr noch mehrere Male gemeinsam in Urlaub und hatte immer viel Spaß miteinander. Rosi und Berthold blieben tatsächlich in der Wielandstraße wohnen, auch wenn sich die Wohnsituation immer weiter verschlechterte, aber sie konnten damit umgehen und fühlten sich weiterhin wohl in ihren Häuschen.

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