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Lydia

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Für Lydia war der Umzug nach Marburg wie das Betreten eines vorher für sie verbotenen Raumes, Marburg unterschied sich so sehr von Saelhuysen wie man es kaum beschrieben konnte und Lydia hatte zunächst Schwierigkeiten, sich in der für sie fremdartigen Umgebung zu orientieren. Das Erste, was sie tat, als sie die wunderbare Welt in Marburg betrat, war, sich einzuschreiben, und sie belegte die Fächer Erdkunde und Geschichte für das Gymnasium.

Insofern machte sie es so wie ihre Schwester, in vielem anderen unterschied sich ihr Weg aber doch deutlich von dem von Nora.

Sie waren auch zu Hause schon unterschiedliche Charaktere gewesen, Nora als die ältere Schwester war die Räsoniertere von beiden, sie war ein ruhender Pol, und nach außen hin wirkte sie immer solide und unangreifbar. Lydia dagegen war flippig und sprunghaft, sie war allem gegenüber aufgeschlossen und neugierig, allerdings war sie absolut verlässlich und belastbar, so wie Nora. Nachdem sie sich auf dem Studentensekretariat eingeschrieben und ihr Passbild für den Studentenausweis abgegeben hatte, ging sie im Zentralgebäude an das schwarze Brett, um nach Wohnmöglichkeiten für sich zu suchen, und sie stieß auf einen Zettel, auf dem nach einem Mitglied in einer Wohngemeinschaft mitten in Marburg gesucht wurde, es war eine Telefonnummer angegeben. Lydia zückte gleich ihr Handy und rief bei der Nummer an. Es meldete sich eine freundliche weibliche Stimme und Lydia sagte, dass sie sich wegen der Wohngemeinschaft meldete. Ihre Gesprächspartnerin, die sich mit Silvia vorstellte, lud Lydia zu sich ein, und Lydia begab sich gleich zu ihr, um sich an ihrem möglichen neuen Zuhause einmal umzusehen. Als Lydia bei Silvia schellte, öffnete sich gleich die Tür in dem sympathischen alten Gebäude, und Lydia stellte sich vor, Silvia gab ihr die Hand und bat sie hinein.

„Bist Du ein Erstsemester?“, fragte sie Lydia gleich, und Lydia antwortete:

„Ich habe mich soeben eingeschrieben und am schwarzen Brett den Anschlag mit der Wohngemeinschaft gelesen.“ Silvia war sehr nett, wie Lydia fand, und auch Lydia machte auf Silvia von Anfang an einen sehr angenehmen Eindruck. Kurze Zeit später betrat ein weiteres Mädchen die Küche, in der die beiden saßen, sie hieß Marita und gab Lydia auch die Hand. Marita setzte sich zu den beiden und sagte:

„Du bist also unsere neue Mitbewohnerin!“, aber soweit war Lydia noch nicht, dass sie sich schon als Mitbewohnerin fühlen konnte. Als aber auch Silvia sagte:

„Von uns aus brauchen wir gar nicht groß drumherum zu reden, ich glaube, dass Du uns beiden sympathisch bist, und wenn Du willst, kannst Du bei uns einziehen!“, war für Lydia alles klar, sie hatte sehr schnell eine Bleibe für sich in Marburg gefunden. Silvia und Marita waren zwei Mädchen, die schon mehrere Semester hinter sich hatten, wie sich im Gespräch herausstellte, beide hatten sie schon zweimal den Studiengang gewechselt, sie hatten schon Archäologie, Philosophie, Judaistik, Sinologie und Hebräisch studiert, ihr momentaner Studiengang war ein Lehramtsstudium für Französisch und Kunst. Beide studierten von Anbeginn an das Gleiche und waren im siebten Semester. Schon in ihrem Äußeren unterscheiden sie sich stark von den Mädchen, die Lydia bislang zu ihrem Bekanntenkreis gezählt hatte: sie hatten beide langes Haar, das sie offen trugen und sie trugen lange Kleider und Sandalen, von beiden ging ein Geruch nach Moschus aus, den Lydia zunächst befremdlich fand, an den sie sich aber schnell gewöhnte.

Die Wohnungseinrichtung glich einem IKEA-Katalog, es gab viel Hölzernes und auch dicke Teppiche, alles wirkte sehr gemütlich und einladend und Lydia wollte das Zimmer, das für sie vorgesehen war, ganz ähnlich einrichten. Allerdings war für ihre Einrichtungswünsche so viel Platz auch nicht mehr übrig, wenn sie einmal Bett, Schrank und Schreibtisch gestellt hätte. Die Wohnung hatte drei Zimmer und ein schönes großes Bad mit einer riesigen alten Badewanne. Eine Woche später hatte Lydia ihre Sachen in Marburg und war zu Silvia und Marita gezogen. Sie hatte ihre Zelte in Saelhuysen abgebrochen und war von zu Hause fortgegangen, was nicht so einfach war, wie sie sich das gedacht hatte. Vor allem ihre Mutter ertrug Lydias Auszug nur mit Schmerzen, und als Lydia mit einem Kleintransporter von Saelhuysen nach Marburg aufbrach, weinte sie heftig. So schlimm war die Trennung für Lydia nicht, aber sie konnte auch nicht sagen, dass sie das alles kalt gelassen hätte. In Marburg spielte sich für Lydia schnell ein Leben ein, wie sei es mochte, sie bestimmte ihren Tagesablauf selbst und war nur durch ihr Studium fremdbestimmt, aber das nahm sie gern in Kauf.

Silvias Freund hieß Peter, er war groß und schlank und studierte Jura, Maritas Freund hieß Klaus, war klein und füllig und studierte BWL. Beide waren sie sehr nett und mochten Lydia auch auf Anhieb, oft saßen sie zusammen in der Küche und aßen gemeinsam zu Abend, und bei solchen Gelegenheiten musste jeder erzählen, woher er kam. Es machte Lydia überhaupt nichts aus, zu erzählen, dass sie aus einer Bauernschaft stammte und in der Landwirtschaft groß geworden war.

„Da kannst Du uns doch einmal etwas Gutes zu essen mitbringen, wenn Du von zu Hause zurückkommst!“, sagte Peter. Wenn Lydia ihr Fenster offen stehen hatte konnte sie den Zug hören, wie er durch das Lahntal brauste, und sie hörte auch die Autobahn, aber das machte ihr schon bald gar nichts mehr aus. Immerhin hatte sie solche Geräusche in Saelhuysen nie hören müssen, es war erstaunlich, wie schnell sich der Mensch mit solchem Lärm arrangieren konnte. Marburg war eine typische deutsche Studentenstadt, etwa 30% der Stadtbevölkerung waren Studenten, und der Altstadtkern von Marburg war sehr schön anzusehen. Lydia hielt sich gern in ihm auf, da war besonders das Cafe „Vetter“, in das man sich nach so mancher Fete setzte und frühstückte, aber alle Kneipen und Studentengaststätten aufzuzählen, wurde zu lange dauern. Oft fuhr man nach Feten auch nach außerhalb Richtung Amöneburg, wo es ein Dorf gab, in dem die sogenannte Schnitzelfarm lag.

Dort gab es für ganz kleines Geld Schnitzel, die so groß waren wie der gesamte Teller, und man musste immer erst ein Stück abessen, bis Pommes Frites oder Salat auf den Teller passten. Lydia hatte sich schnell an das studentische Leben gewöhnt und genoss es, ihr Leben voll und ganz selbst bestimmen zu können. Ihre Beziehung mit Rene hatte sie abgebrochen, weil Rene für sie ein Mensch war, der zu ihrer Vergangenheit gehörte, und mit der war sie fertig. Sie orientierte sich auch bei den Jungen völlig neu und lernte auf einer Asta-Fete an der Hochschule Dominik kennen, der im vierten Semester Architektur studierte. Lydia machte nicht so viel Aufhebens um das Kennenlernen von Jungs wie ihre Schwester. Sie lud Dominik gleich zu sich ein und fand sich schnell mit ihm in ihrem Bett wieder. Als sie von Dominik genug hatte, machte sie wieder Schluss mit ihm, so wie das ihrem wankelmütigen Charakter entsprach und lernte schnell jemand anderen kennen. Auf diese Weise kam sie schon im ersten Semester mit vielen Jungs zusammen und trennte sich nach kurzer Zeit wieder von ihnen. Silvia und Marita kamen aus dem Staunen nicht heraus und sagten:

„Du wechselst ja Deine Bekanntschaften wie Deine Handtücher!“, aber Lydia tat, als wäre es das Normalste der Welt, dass man einen Jungen fortschickte, wenn man einen anderen kennen gelernt hatte.

„Ich finde, dass ich mir meinen Freund selbst aussuchen darf, und wenn er mir nicht mehr gefällt, schicke ich ihn eben wieder fort!“, sagte sie. Eines Tages feierten die drei in ihrer Wohnung eine Fete, Silvia und Marita hatten alle ihre Bekannten eingeladen, und auch Lydia kannte inzwischen viele Kommilitonen, die sie einlud. Die Mädchen hatten Getränke besorgt und die Bierkästen zu einem Turm vor der Wohnungstür aufstapelt. Zu essen musste jeder etwas mitbringen, aber das kannten sie ja nicht anders. Die Wohnung war irgendwann so voll, dass man sich kaum noch rühren konnte, dennoch fanden viele sogar noch einen Platz zum Tanzen und wenn es nur eine kleine Ecke in der Diele war. Lydia sah sich unter den Gästen um, als sie plötzlich angesprochen wurde:

„Ich bin der Siggi, willst Du mit mir tanzen?“ Lydia blickte den Typen an, der sie da angesprochen hatte und vor ihr stand, ein großgewachsener blonder schöner Mann, und er lächelte sie freundlich an.

„Ich bin die Lydia und tanze gern mit Dir!“, sagte sie und beide lächelten sich an und gingen zu einer Stelle in der Diele, wo sie einen halbwegs brauchbaren Tanz hinzukommen versuchten. Und es klappte, und sie tanzten in der Enge mit vielen anderen, die sich genauso abmühen mussten. Lydia und Siggi hatten ihr Lachen beibehalten und sahen sich beim Tanzen an, obwohl sie von den anderen hin und her geschubst wurden. Schließlich setzte aber langsame Musik ein, und die beiden tanzten eng zusammen.

Lydia legte ihren Kopf an Siggis Schulter und Siggi begann, sie zu streicheln, er fühlte Lydias Busen durch sein Hemd und wurde ganz erregt. Als die Musik geendet hatte, zog Lydia Siggi wortlos hinter sich her in ihr Zimmer und warf sich gleich mit ihm auf ihr Bett. Dort küssten und streichelten sich die beiden und sagten sich, dass sie sich mochten. Lydia hatte das erste Mal das Gefühl, mit jemandem zusammen zu sein, den sie respektierte, und zu dem sie aufblicken konnte. Schließlich zogen sie sich aus und schliefen intensiv miteinander, so intensiv wie es Lydia in den anderen Bekanntschaften, die sie gemacht hatte, nie kennengelernt hatte und auch Siggi war hin und weg von Lydia. Siggi studierte im dritten Semester Medizin, er stammte aus Hagen und wohnte im Studentenwohnheim.

„Komm mich doch mal auf den Lahnbergen besuchen!“, sagte er zu Lydia und Lydia antwortete:

„Das mache ich schneller als Du glaubst!“ und gab Siggi einen Kuss. Endlich war Lydia in einer Beziehung gelandet, die anzuhalten schien und die beiden etwas gab. Lydia fuhr oft auf die Lahnberge, und Siggi kam oft in die Stadt zu Lydia. Wenn Lydia nach Hause fahren wollte, stellte sich mit der Bahn das Problem, dass sie in Gießen, Frankfurt und Köln umsteigen musste, um nach Duisburg zu kommen und sie kam schnell auf den Trichter, sich im Internet Mitfahrgelegenheiten nach Duisburg zu suchen, die noch dazu viel schneller und deutlich billiger waren als die Bahn. Von Duisburg aus nahm sie den Bus nach Moers, wo sie sich von ihrem Vater abholen ließ.

Immer wenn sie so in ihre alte Heimat nach Saelhuysen kam, dachte sie, wie sehr sich doch ihr neues Zuhause von ihrem alten unterschied. Aber sie mochte es durchaus, von ihrer Mutter umsorgt zu werden und gut zu essen. Jakob freute sich immer riesig, wenn eine seiner Töchter zu Hause war, und er ließ es sich nie nehmen, mit ihnen zu seinen Tieren zu gehen und ihnen zu erzählen, wie gut Gerda und er es doch auf dem Hof hätten. Lydia glaubte, was er sagte, sie sah aber gleichzeitig, dass ihr Vater ja nichts anderes kannte, und er deshalb zu seinem Urteil kommen musste. Gerda machte auf Lydia den Eindruck von einer zufriedenen Hausfrau, die ihr Glück im Saubermachen ihres Hauses und im Kochen suchte.

„Seit ihr aus dem Haus seid, ist es hier viel ruhiger geworden“, sagte Gerda zu Lydia, „ich will nicht sagen, dass ich mich langweile, aber ab und zu könnte hier ein wenig mehr passieren, wenn ich nicht einmal in der Woche mit meinen Freundinnen nach Aldekerk zum Einkaufen fahren würde, würde ich glaube ich hier eingehen!“

„Aber hier habt Ihr doch alles, was Ihr braucht“, entgegnete Lydia, „Vater hat seine Tiere und Du Deinen Haushalt!“, und in dem Moment, in dem sie diese Worte sagte, war ihr klar, dass Gerda und Jakob vieles im Leben fehlte, was für sie heute in Marburg eine Rolle spielte. Man muss auch mal die eingefahrenen Bahnen verlassen, dachte Lydia und neue Wege beschreiten, aber das war leichter gesagt als getan und in dem Alter, in dem ihre Eltern waren, eigentlich gar nicht mehr möglich, und Lydia glaubte, dass sie das beide auch nicht mehr gewollt hätten. Sie hielt sich aber mit Äußerungen in diese Richtung zurück und fügte sich zu Hause in das Rollenbild der jungen Tochter, aß gut mit ihren Eltern und sah am Abend mit ihnen fern.

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