Читать книгу Die Männer der Désirée - Hans-Peter Grünebach - Страница 10
DOLOROSA
Оглавление1987 war Klement 21 Jahre alt. Mit seinem Studium der Betriebswirtschaft kam er gut voran. Er hatte das Grundstudium abgeschlossen und beschlossen, sich eine Auszeit zu gönnen.
Tagebuch führte er noch und die düsteren Eintragungen dieses Jahres waren bisher: „Im belgischen Hafen Zeebrugge kentert am 6. März die britische Fähre ‚Herald of Free Enterprise‘. Mehr als 200 Menschen ertrinken.“ Dahinter hatte Klement Bemerkungen angefügt, die zynisch klangen; ein noch unbekannter Zug an ihm.
Zum Jahresende sollte es noch schlimmer kommen: Mehr als 4300 Menschen ertranken bei der Havarie einer philippinischen Fähre. Zuvor hatte es im eigenen Land einen Politskandal gegeben, der Aufsehen erregte und mit einem Suizid endete: der Fall Barschel.
Am 11. Oktober wurde der Ministerpräsident Schleswig-Holsteins in der Badewanne eines Genfer Hotelzimmers tot aufgefunden. An seinem Selbstmord blieben Zweifel. Auch Nachfolger Engholm hatte kein Glück. Er musste später aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit von allen Ämtern zurücktreten.
Klement hatte genug zu schreiben. Das Lebensrisiko hatte sich für ihn verschärft. Er glaubte der Statistik.
Seit Beginn des Studiums wohnte er in einer WG in der Türkenstraße. Die Mitbewohner wussten nichts von dem Geschäft im Tal, nichts vom Reichtum der Freys. Klement wollte leben wie andere Studenten auch.
Er tingelte mit ihnen durch die Studentenkneipen Tomate, Laila – später Alfonso’s, 111 Biere, zischte Bierchen und trank Persiko, hörte im Song Parnass Fredl Fesls Liedern zu und konnte nicht umhin, die eine oder andere Zigarette mitzurauchen. In den verqualmten Kneipen machte Rauchen und Nichtrauchen ohnehin keinen Unterschied.
Hannelore hatte vehement über seine stinkenden Klamotten geschimpft; mit ein Grund für Klement, auszuziehen und sich eine Bude zu suchen.
Natürlich gelangte er auch in Schwabinger Zirkel, in denen der selbst gedrehte Joint reihum ging. Er hielt das – wie Rauchen in Gruppen – eher für ein soziales Muss. Was, wenn man den Joint oder eine angebotene Zigarette ausschlug?
Einmal probierte er Meskalin, das ihm kanadische Hippies angedreht hatten. Klement hatte keine Ahnung von Drogen. Er fragte herum: Den Peyote-Kaktus konnte man kaufen, der Konsum war verboten. Das Verbotene lockte auch in Studentenkreisen, vor allem wenn es kostenlos war. Sein Kanadier hatte sich sogar eine Kapselmaschine gekauft. Zuerst schnitt er den Kaktus in hauchdünne Scheiben, trocknete diese auf Zeitungspapier auf dem Schrank und zerstampfte sie dann in einem Mörser zu Pulver. Mit der Waage berechnete er grob den Bedarf und füllte das Pulver in Kapseln. Die verschloss er maschinell.
Klement hatte die chemische Formel für Meskalin nachgeschlagen: C11H17NO3. Der Siedepunkt lag bei 312 Grad Celsius. Doch was nützte ihm das?
Nichts!
Diese Kapsel lag nun auf Klements Hand.
Da ihm der alleinige Konsum zu heiß schien, fragte er in seiner WG, wer bei einem Drogentest dabei sein wollte. Er brach die längliche Kapsel in zwei Teile und verteilte den pulvrigen Inhalt auf zwei Blätter Löschpapier.
Zu zweit wollten sie das Pulver schlucken. Der Dritte im Bunde sollte auf sie aufpassen, alles beobachten und hinterher berichten, was war.
Das Auflecken geschah ohne Wasser. Sofort setzte eine Betäubung des gesamten Mundraums ein. Sie konnten nur noch lallen. Die übrigen Erscheinungsmerkmale ähnelten den Erzählungen anderer, die Erfahrungen mit LSD gemacht hatten. Sie tanzten stundenlang und hatten das Gefühl zu fliegen. Pieter, der Beobachter, hatte die Tür versperrt und die Fenster verriegelt. Er verhinderte so, dass sie wegschwebten. Später berichtete er über vergebliche Telefonate mit Estebans Schwester. Der Spanier versuchte eine Verabredung mit ihr für den Nachmittag zu treffen, konnte sich aber nicht artikulieren. Obwohl der Trip schon vorbei sein sollte – es war bereits taghell – stammelte Esteban nur Unverständliches ins Telefon.
Was übrig blieb, war ein fürchterlicher Kater. Vor allem die Lähmungen im Gesicht wirkten noch Stunden nach. Der mit dem Meskalin-Kaktus hatte vergessen zu erwähnen, dass man die Kapsel schlucken und keinesfalls ohne Wasser zu sich nehmen sollte. Nicht zum Nachmachen geeignet, so oder so! Klement schwor sich: nie wieder!
Den verdächtigen Zirkeln blieb er von da an fern und Rauschgift rührte er nicht wieder an.
Aber Klement tarierte sein Leben aus. Er wollte Bescheid wissen, alles wissen. Er besaß einen gebrauchten Kleinwagen für seine Ausflüge in die Berge. Wegen der Parkplatznot in der Türkenstraße hatte er ihn meist bei den Eltern in der Osterwaldstraße stehen, und in der Regel draußen.
Einmal, er war solo und fand Masturbieren fad, hatte er sich Mut angetrunken und fuhr zum Straßenstrich an die Freisinger Landstraße.
Mit Bangem kurbelte er das Fenster herunter.
Es war gleich die erste Dame, die an jener Parkbucht stand und ihn fragte, im Mantel, gar nicht aufreizend gekleidet, eher Hausfrau. Es war ein trüber Novembertag: „Na, junger Mann, nimmst du mich mit?“
Er hatte nicht die Courage zu sagen: „Nein, ich möchte erst mal mit allen Damen sprechen und dann auswählen.“
So öffnete er mehr oder weniger galant die Beifahrertür und ließ die Dame einsteigen.
Sie war vielleicht zehn Jahre älter als er, dunkelblond, schlank und lächelte ihn an.
Er fuhr mit rotem Kopf, während sie sprach und ihn in die Knorrstraße lotste, in ein Mietshaus in den zweiten Stock.
Sie fragte ihn ein bisschen aus, ob er denn eine Freundin hätte? Er erzählte zurückhaltend von vergangener Liebe und dass er derzeit trotz Wohngemeinschaft allein wäre. Er fragte sie, warum sie es mache. Sie brauche Geld. Ja, was denn sonst; er bereute, so dumm gefragt zu haben. Sie erwähnte, dass sie mit ihrem Freund ein Zeichen verabredet hätte; die Stellung des Vorhangs. Wenn er halb zu war, hatte sie Besuch.
Es kam die Sprache auf das Geld und er lernte, dass die Preise je nach Angebot gestaffelt waren. Sie fragte, ob er sich ein Pornoheft ansehen wolle, es läge auf dem Tisch. Nein Danke.
Damals in einem Stimmungstief und solo wollte er eigentlich nichts Besonderes, nur eine Umarmung und die wohltuende Wärme einer erfahrenen Frau.
Eveline tauchte für Momente auf und dann breiteten sich Endorphine in ihm aus. Er ließ das Auto stehen und lief bis zur Türkenstraße. Zeitweilig tanzte er. Die Leute mussten ihn für völlig überdreht gehalten haben.
Nun wusste er auch, wie Sex gegen Bezahlung geht. Er schämte sich nicht. Seine Gastgeberin war wirklich zuvorkommend gewesen. Er könne gern wiederkommen. Gegenüber seinen Kommilitonen verschwieg er das Abenteuer „Straßenstrich“.
Es war auch in der Anfangszeit in seiner WG gewesen, als seine Experimentierlust immer wieder neue Ventile suchte. Seine Neugierde führte ihn in ein Bordell. Es war spät und kurz vor Geschäftsschluss in jenem Haus. Er war müde, wollte aber nicht in sein ödes Zimmer zurück, wo er kaum Privatsphäre hatte und wo sie jetzt schon alle schliefen. Für zehn Mark bestellte er sich ein Bier und laberte die Bardame voll. Anfangs ging sie noch auf ihn ein, aber auch sie wollte abrechnen und heim. Als Klement partout an der Bar bleiben und nicht die einträglicheren Dienste einer Dirne in Anspruch nehmen wollte, nannte sie ihn „Wichser“, was er umgehend mit einer Watschn über die Theke hinweg quittierte.
Nun war die Kacke am Dampfen. Er fürchtete die geballte Kraft der weiblichen Hausbesatzung und ihrer noch unsichtbaren Beschützer. Denen traute er Zimperlichkeit nicht zu. Der Überraschungseffekt war auf seiner Seite und seine Schnelligkeit kam ihm zupass. Mit ein paar Sprüngen war er am Jugendstiltreppenhaus und drei Etagen tiefer. Ein Holzstuhl traf ihn am Hinterkopf. Er sah ihn neben sich den Lichtschacht hinabstürzen und zerbersten. Er konnte die schwere Eingangstür aufreißen und entkommen.
Aufgrund seines Alkoholpegels ließ er das Kfz stehen. Als ihm sein Auto drei Tage später wieder einfiel und er es in die Osterwaldstraße fahren wollt, fand er gleich mehrere aufgeweichte Knöllchen am Scheibenwischer vor. Seine vielen Schwabinger Knöllchen bezahlte er immer bar und erzählte niemandem davon. Was blieb, war eine Beule am Hinterkopf und die Erinnerung an seine Lebensschule „Puff“. Er hatte Glück: Da er und der Stuhl in die gleiche Richtung unterwegs gewesen waren, hatte sich die physikalische Geschwindigkeit des Wurfgeschosses zu seinen Gunsten reduziert. Man hätte ja auch auf ihn schießen können. Als er später einmal Hamburg besuchte und mit zwei Freunden einen Streifzug durch Sankt Pauli unternahm, war er der Einzige, der schon Erfahrung im Rotlichtmilieu hatte.
Studentische Kneipentouren endeten oft spät, manchmal noch in einer Diskothek am Elisabethplatz oder im Alten Simpel.
Die Volks- und Betriebswirtschaftler waren eigentlich eher fleißig am Lernen und brauchten gerade für die mathematisch orientierten Vorlesungen einen wachen Geist. Vielleicht war er dort die Ausnahme. In seiner Wohngemeinschaft waren nur Geisteswissenschaftler. Besonders die Philosophen, die Romanisten, Psychologen und Germanisten suchten die Nacht und wollten sich auch morgens um 4 Uhr noch über Platons Wiedergeburtslehre, Gedichte von Baudelaire, die Tiefenanalyse von Freud oder die Bedeutung der „Nora“ von Ibsen unterhalten. Von einem Romanisten hatte er ein Baudelaire-Zitat behalten: „Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Arbeit weniger geisttötend ist als Amüsement …“ Das wollte er als Bereicherung in seinen studentischen Alltag einfließen lassen. Doch so leicht war das gar nicht, denn nach einem langen Tag und einer langen Nacht wollte der Geist nicht und suchte Ruhe. Die fanden Klement und seine Freunde am Eisbach, nur ein paar Schritte von der Uni entfernt; unkompliziert zu handhaben. Man zog sich aus und legte sich auf Hemd und Hosen, auf Bluse, Rock, Kleid, Slip und BH, das war völlig ausreichend, es sei denn, eine „Quietschie“, Erstsemestlerin, hatte vergessen, dass Minis out und für die Wiese am Schwabinger Bach denkbar unpraktisch waren.
So lag Klement im Sommersemester oft zum Sonnen mit den anderen der Clique nackt am Eisbach und ruhte aus. Am Kiosk holte man sich ein Sandwich und nahm es mit zum Monopteros. Dort saß man abends am höchsten Punkt des Englischen Gartens und lauschte den Interpreten der Epoche wie „Solang man Träume noch leben kann“ von der Band Münchener Freiheit, „I wanna dance with somebody“ von Whitney Houston, „Never gonna give you up“ von Rick Astley oder „Voyage, voyage“ von Desireless. Immer hatte irgendjemand eine Gitarre dabei. Mindestens einen Kassettenrekorder.
Unverändert waren die Berge der stärkste Magnet.
Vier- und Fünftausender waren für Klement keine Herausforderung mehr. Er hatte inzwischen seinen Adoptivvater Egmont übertrumpft und allein den Gran Paradiso, den Monte Rosa und den Mont Blanc bestiegen. Zusammen mit seinen Eltern war er in Afrika auf den 5895 Meter über Meereshöhe gelegenen Kilimandscharo gewandert, er hatte auf dem Jungfrau-Gletscher übernachtet und dort das Klettern im Eis trainiert.
Nun zog es ihn magisch nach Asien, in den Himalaja zu den Achttausendern.
Einen Achttausender wollte Klement unbedingt besteigen, ganz ohne Expedition, ohne die Hilfe von Sherpas, ohne Flaschensauerstoff und zu Low Cost. Er wollte seine Grenzen ausloten. Dazu brauchte er Zeit und die richtige Gelegenheit. Die Monsunphase musste vorbei sein, wenn er das Basislager erreicht hatte. Als Gipfel hatte er sich den Cho Oyu ausgesucht, mit seinen 8153 Meter den sechstgrößten, auf der Grenze von Nepal zu Tibet.
Egmont unterstützte Klement bei seinem Vorhaben und war sogar damit einverstanden, dass die Tour ihn ein Semester kosten würde.
Hannelore war skeptischer, wusste nicht, ob ihr Adoptivsohn sein Trauma von damals bis dato bewältigen konnte. Sie fragte ihn, ob es Todessehnsucht sei, die ihn antrieb.
Klement hatte ihr, wie immer, mit nachsichtiger Miene zugehört, einen Moment der Einkehr abgewartet und ihre Bedenken dann mit Zitaten vom Tisch gewischt. Sein überdurchschnittliches Merkvermögen half ihm dabei: „Ich halte es mit Tichy“, begann er, als wenn er den Schierlingsbecher in der Hand hielte.
„Der hat kürzlich in einem Interview seine Himalaja-Abenteuer als ‚Glück in sehr jungen Jahren‘ bezeichnet und seine Motive beschrieben mit ‚Suche nach Schönheit, fremden Menschen, nach Ausblicken‘. Seine Erstbesteigung des Cho Oyu hatte er im Rückblick nicht als ‚extreme Leistung‘ in Erinnerung, sondern als ‚Harmonie und Schönheit‘.“
Leute wie Hillary und Tichy hatten ihren Besteigungen von Mount Everest und Cho Oyu Bücher folgen lassen.
„Tichys Bücher sind für mich wie Bibel, Talmud und Koran für andere.“
Hannelore kannte „Cho Oyu“ von Tichy. Klement hatte es ihr geschenkt. Herbert Tichy hatte seinem Buch aus Respekt den Untertitel „Gnade der Götter“ gegeben. Beeindruckt hatte sie als gläubige Katholikin, dass der Österreicher am 19. Oktober 1954 um 15 Uhr, als er mit seinem Bergkameraden Sepp Jöchler und dem Sherpa Pasang Dawa Lama den höchsten Ort des „Throns der Göttin in Türkis“ erreicht hatte, als Dank für die „Gnade der Götter“ einer Tradition folgend Schokolade im Gipfelschnee vergrub. Tichy hatte sich danach neben dem beflaggten Eispickel niedergekniet und später geschrieben: „Das Erreichen des Gipfels ist großartig, aber die Nähe des Himmels überwältigend …“
Hannelore wusste natürlich über den Hype Bescheid, dem Generationen von Gipfelstürmern folgten. Ein Himalaja-Tourismus war entstanden. Der Vermüllung des „Dachs der Welt“ durch die vielen Touristen stand die wirtschaftliche Genesung Nepals entgegen. Auch Indien, Pakistan und China profitierten von der Kommerzialisierung des Bergsteigens.
„Ich werde in Nepal nicht allein sein, aber den Berg allein in Angriff nehmen“, argumentierte Klement.
„Sollte mir das Wetter einen Streich spielen, so kann ich es das Jahr darauf oder in einem anderen Jahr noch mal probieren. Sicherheit hat für mich absoluten Vorrang. Mach dir keine Sorgen um mich! Sollte ich aber – der unwahrscheinlichste Fall – von einem Eisblock getroffen werden oder mich eine Lawine verschlingen, werde ich es als Schicksalsschlag hinnehmen wie andere vor mir. Dann bitte ich euch, es mir gleich zu tun. Trauert nicht um mich. Ihr wisst mich am Berg, dort, wo meine Sehnsucht mich hintrieb. Der Himalaja ist für mich Erfüllung wie für andere die Haddsch nach Mekka oder das Pilgern nach Santiago de Compostela.“
Hannelore war beruhigt. Nach Todessehnsucht hörte sich das nicht an, was Klement sagte. Über sein Kindstrauma, den Autounfall vor elf Jahren, hatten sie lange nicht mehr gesprochen.
Dennoch war sie von seinem Vorhaben nicht vollends überzeugt. Ihr wäre lieber, er würde sich einer organisierten Expedition mit Führer und Unterstützung von erfahrenen Sherpas anschließen.
„Ich würde dir die Expeditionsauslagen erstatten“, hatte sie angeboten.
Genau das wollte Klement nicht.
Seine Adoptivmutter – er durfte sie seit der Volljährigkeit Hannelore nennen – wollte letztlich dem Plan nicht im Wege stehen. So wünschte sie ihm jetzt schon Glück und versprach, ein Auge auf den Laden zu haben und als „Kommunikationsdrehscheibe“ für seine Kommilitonen und Freyja, seine derzeitige Flamme aus Island, zur Verfügung zu stehen.