Читать книгу Die Männer der Désirée - Hans-Peter Grünebach - Страница 9
CASSIOPEIA
ОглавлениеHasdrubal war ein Sohn des Hamilkar Barkas. Nach seinem Bruder Hannibal, dem Sieger der Schlacht von Cannae, war er der mutigste und tüchtigste der karthagischen Feldherren im Zweiten Punischen Krieg.
Als Klement zu seinem dritten Geburtstag 1969 ein achtwöchiges, schwarz-weißes Katerlein geschenkt bekam, schlug sein leiblicher Vater, ein Freund der klassischen Antike, vor, ihn Hasdrubal zu nennen. Klement hatte jedoch Schwierigkeiten mit dem s und sprach „Hadubal“.
„Hadubal ist kein Name!“, befand der Vater. Er heißt Hadubald. Das ist Althochdeutsch und verbindet ‚Kampf‘ mit ‚Kühnheit‘“. Dem kleinen Klement war es recht, kein Einwand von der Mutter, dabei blieb es.
Irgendwie passte Kampf und Kühnheit zu dem aufmüpfigen Kater, dem kein Baum zu hoch, kein Gegner zu frech, keine Maus zu flink sein konnte.
Den sechzehnten Geburtstag seines langjährigen Freundes sollte Hadubald nicht mehr erleben. Seine Reflexe waren nicht mehr die von einst. Beim nächtlichen Strawanzen wurde er ein Opfer seiner Kühnheit. Er hatte das Duell „Blaumetallic Suzuki RV 50 gegen Schwarz-Weiß Kampfkühn“ verloren. Die Katzenwelt Schwabings pries seine Taten. Hadubald fand seine letzte Ruhestätte im Schatten einer mächtigen Blutbuche auf dem Grundstück der Freys und nicht nur Klement weinte um ihn, sondern auch Eveline, ein Au-pair-Mädchen aus Île-Tudy in der Bretagne.
Da die sanfte Eveline nicht viel älter war als der frühreife Klement und 1413 Kilometer weg von ihrem Zuhause, saßen die beiden öfter zusammen und hörten den „Kommissar“ von Falco, „Femme que j’aime“ von Jean Luc Lahaye, „Ein bißchen Frieden“ von Nicole, „Chacun fait c’qui lui plaît“ von Chagrin d’Amour oder „It’s raining again“ von Supertramp.
Klement wäre nicht Klement, der lebensneugierige Junior von Modenfrey, wenn er nicht die Chance erkannt hätte, gegebenenfalls sein erstes amouröses Abenteuer auf heimischem Terrain einzufädeln. Dabei hoffte er auf Evelines Erfahrung und dass sie ihm Bereitschaft signalisierte. Als die Signale ausblieben, begann er eine Offensive und legte seinen Arm um ihre Schultern, wie zufällig. Sie saßen über seinen Französischhausaufgaben. Die Berührung brachte seinen ganzen Körper in Aufregung. Es begann mit einem Kribbeln.
Pech, dass sich die Sanftmütige in eine wehrhafte Bretonin mit Erwachsenenanspruch verwandelte, als er sie bedrängte. Wie zufällig hatte er eine Hand auf ihre Brust gelegt und erntete eine Ohrfeige. Es war eine leichte Ohrfeige, die ihr gutes Verhältnis nicht nachhaltig trübte. Aber sie stand zwischen ihnen. Eveline, deren Name sich ihrer Aussage nach von dem altfranzösischen Aveline ableitete, wusste um die Gefahren innerfamiliärer Beziehungen. Sie gehörte ja für ein Jahr zur Familie und wollte Deutsch lernen. Madame Frey hatte sie auch mit einem Schmunzeln vor Klements beginnendem „Sturm und Drang“ gewarnt.
Aber Eveline war oft allein, sie hatte wenige Kontakte und Heimweh stellte sich ein. Klement konnte zuhören, er war intelligent, vielseitig interessiert, sportlich, aus gutem Hause und er sah gut aus. Sie würde noch ein Dreivierteljahr in München sein und vielleicht hier auch studieren wollen. Nichts hatte Eile.
Auch Klement hatte Zeit. Zunächst brauchte er eine gute Französischnote.
Seinen Pragmatismus hatte sich Klement bei Egmont und Hannelore abgeschaut, wie er so vieles in den ersten sechs Jahren seines neuen Lebens von ihnen lernte.
Die erste Zeit war hart gewesen; Einstieg ins Gymnasium, neue Gesichter, neue Lehrer, erste Fremdsprache, die leiblichen Eltern tot. Das Schlimmste war aber, dass er so oft darauf angesprochen wurde. Mitleid wollte er nicht.
Die Adoptiveltern trugen große Verantwortung für viele Menschen, waren häufig unterwegs zu Konferenzen und Modewochen und nahmen Anteil am gesellschaftlichen Leben. Sie waren politisch interessiert und banden ihn in die Tagesereignisse ein, solange sie jugendfrei waren.
Früh lernte er, sich selbst zu informieren. Er fragte andere zum Thema aus, suchte in verschiedenen Zeitungen Berichte und hörte Nachrichten. So lernte er von den täglichen Ereignissen viel über die Vergänglichkeit. Er sah sich zunehmend kritisch inmitten einer fragilen Weltsituation mit Mord und Todschlag, Terrorismus, Katastrophen und Kriegen.
Die Vergangenheit war für ihn wichtig. Wichtig war auch die Zukunft. Das Wichtigste aber, fand er, war die Gegenwart. In der wuchs er auf und sie atmete er. Sie konnte aber auch jede Minute enden, sodass sie vor dem Ende für Schönes genutzt werden musste, so dachte er.
Egmont hatte ihm empfohlen, als Erinnerungsstütze das Wichtigste aufzuschreiben. Er hatte ihm dazu eine ledergebundene Kladde mit Schloss geschenkt.
Darin fand sich neben Persönlichem zum Beispiel für das Jahr 1977 der Eintrag: „Entführung der Landshut nach Mogadischu. Blutigstes Jahr des Terrors. 159 Opfer von Terroranschlägen, dabei 100 beim Absturz von Flug 635 der Malaysia Airline.“
Alles war in sauberer Handschrift niedergeschrieben.
Für 1978 war vermerkt: „Papst Paul VI. stirbt nach 15 Jahren Pontifikat. Nachfolger Papst Johannes Paul nach nur 33-tägiger Amtszeit tot. Nachfolger wird der bisherige Erzbischof von Krakau, Polen, Karol Wojtyła; er nennt sich Papst Johannes Paul II. Der italienische Ministerpräsident Aldo Moro wird von den Roten Brigaden entführt und umgebracht.“
Unter 1980 gab es nur zwei Notizen: „Oktoberfest-Attentat. 1. Golfkrieg zwischen Iran und Irak.“
Für 1981 hatte Klement festgehalten: „Der ägyptische Präsident wird bei einem Attentat getötet. Blume des Jahres ist die Gelbe Narzisse. Als Vogel des Jahres ist der Schwarzspecht gewählt worden. Gründung der Partei Die Grünen aus der Umweltschutz- und Atomkraftbewegung. Start des Space Shuttle Columbia. Interessiert mich sehr.“
Und für das laufende Jahr hatte er schon vermerkt, dass Helmut Kohl Bundeskanzler geworden ist und man auf den Falklandinseln und im Libanon Krieg führt.
Freimütig hatte er Eveline einmal sein Tagebuch gezeigt. Sie wollte erst nicht darin lesen und sagte: „Das ist dein kleines Geheimnis, Klement! Ich würde mein Tagebuch niemandem zeigen, nicht einmal meiner Mutter.“
„Das sind nur Notizen von Tagesgeschehnissen, von Vorgängen in der Firma und technische Details, keine Geheimnisse. Es ist kein Poesiealbum, dem man seine Träume anvertraut, in das kleine Mädchen Bilder und Texte aus der Bravo kleben und Gedichtchen von Klassenkameradinnen sammeln. Nicht dergleichen ist mein Tagebuch.“
Eveline staunte über die Ernsthaftigkeit des Inhalts; alle Eintragungen schienen für einen späteren Nutzen, wenn es sein musste für andere, bestimmt. Nichts war unnütz festgehalten.
In der Schule ließ Klement nichts anbrennen. Er passte im Unterricht auf und sparte sich so manches Nachlernen zu Hause. Ganz wichtig dabei war, dass er am Wochenende Zeit für seine Berge hatte. Sein Verhältnis zu den Adoptiveltern war auch deshalb ungetrübt, weil Egmont und Hannelore ihm jeden Weg ins Gebirge öffneten. Sie hatten ihn beim Alpenverein eingeschrieben und wenn sie einmal selbst keine Zeit hatten, mit ihm einen Gipfel zu besteigen, dann organisierten sie ihm die Bergtour auf andere Weise.
„Der höchste Berg der Bretagne, der Roc’h Ruz, ist nur 385 Meter hoch“, berichtete Eveline. Dort war sie gewesen und zweimal in Albertville zum Skikurs. Mehr Bergerfahrung hatte sie nicht. Trotzdem fand sie an den Gebirgswanderungen der Freys Gefallen. Sie war nicht unsportlich, doch lebte sie direkt am Atlantik und war die Höhe nicht gewöhnt. Also war sie oben kurzatmig. Die anderen mussten auf sie warten.
Höhepunkt ihres München-Aufenthalts sollte ein gemeinsames verlängertes Wochenende in den Alpen sein. Die Eltern hatten ein Panoramahotel am Reschenpass ausgesucht, von dem aus man beim Anblick des Ortlers Ausflüge auf die umliegenden Spitzen machte. Zudem konnten sie mit Leihrädern den See umrunden, den aus den Wassern ragenden Kirchturm von Graun fotografieren und von Graun aus auch die zehn Kilometer des Langtauferer Tals bis auf 1915 Meter hochfahren. Vom Talende aus hätte man einen gigantischen Rundblick auf die Ötztaler Alpen und ihre Gletscher. So hatte Egmont das Vorhaben angekündigt.
Die Zimmer waren gebucht, doch mussten Egmont und Hannelore im letzten Augenblick umplanen und einen Geschäftstermin wahrnehmen. Die Vorfreude der Jugend sollte nicht enttäuscht werden. Der Chauffeur fuhr Klement und Eveline nach Reschen und sollte sie dort drei Tage später wieder abholen.
Noch am Tag der Ankunft bestiegen sie die Cima Dieci, die Zehnerspitze. Es war oben eine steile und rutschige Angelegenheit und Eveline hatte Angst, aber Klement sicherte sie ritterlich am Seil. Eveline fasste Vertrauen. Klement war keine sechzehn mehr. Sie sah ihn plötzlich in einer anderen Rolle, als ihren Beschützer.
Am nächsten Tag strahlte die Sonne und sie brachen mit dem Rad auf, Schwimmsachen im Rucksack. Die Fotos am Grauner Kirchturm sollten Evelines Eltern überraschen und sie mit dem Frey-Erben zeigen. Die deutsche Touristin, die sie ablichtete, sagte: „Ein schönes Paar. Viel Glück zusammen!“
Sie lachten eine Weile über die Bemerkung und radelten zurück nach Reschen.
Unterhalb des Hotels war eine Badestelle.
Eveline war immer ein hübscher Anblick. Die fliehenden blonden Haare, das Sommersprossengesicht mit dem dunklen Teint, der wassergewohnte, mädchenhafte Körper im sportlich geschnittenen Arena-Badeanzug machten sie extrem anziehend.
Der Abendwind wehte kühl. Die Wassertemperaturen stiegen auch im Sommer nicht über siebzehn Grad. Demensprechend kurz fiel die Schwimmeinlage aus.
Klamm kletterten sie über das steinige Steilufer zum Lagerplatz. Es war ihnen kalt.
Ausgelassen schlugen sie sich mit den Hotelhandtüchern und rubbelten sich gegenseitig ab.
Sie beschlossen, ins Warme, in die hoteleigene Sauna zu gehen.
Auch in den Küstenorten der Bretagne war man in jenen Jahren nicht prüde. Obwohl man sich in Italien befand, wo normalerweise getrennt und mit Handtuch sauniert wird, gab es hier eine Gemeinschaftssauna. Um diese Tageszeit war sie leer. Die gesamte Saunalandschaft hatte eine verglaste Front mit Blick auf den See.
Dort schlug der Wind weiße Pfötchen und der Ortler-Gletscher schimmerte rötlich im letzten Sonnenlicht.
Als sie nach dem Saunagang im Ruheraum saßen, zog ein schmales Nebelband vom Pass und weiter am gegenüberliegenden Ufer entlang. Es wurde immer länger und fixierte ihre Blicke.
„Die Reschenschlange!“, stellte Klement vor.
Sie folgten gebannt ihrem Lauf. Schließlich verschwand die Schlange hinter der Staumauer, über die sie heute geradelt waren, und strömte hinunter ins Vinschgau Richtung Meran.
„Die Reschenschlange ist gefährlich. Sie verschlingt Touristen, die nur wegen eines Fotos ins Vinschgau kommen. Nur Liebespaare stehen nicht auf ihrer Speisekarte.“
Klement musste seinen Satz wiederholen. Als sie verstanden hatte, lachte Eveline lauthals und umarmte ihn.
Sie schlug vor, in ihrem Zimmer ein gemeinsames Nickerchen zu machen, bevor sie sich zum Vier-Gänge-Menü wieder unter die Leute mischten. Und sie ergänzte, sie nähme die Pille. Klements Herz begann zu hämmern.
Obwohl Klement seitdem die ein oder andere Nacht von Eveline träumte und ihm beim Gedanken an ihre Berührung heiß wurde, kam es immer noch vor, dass er schweißgebadet aufwachte, weil er gerade wieder einmal mit dem Auto die Serpentinen hinunterfuhr, die Bremsen versagten und das Auto unten im Fluss Fillière versank, begleitet vom Entsetzensschrei der Mutter.