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FREDERICA

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Für den ersten Tag in Nepal hatte Klement eine Führung gebucht.

Er wurde von seinem Hotel, der Kora Lodge, abgeholt. Die Runde umfasste den zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Dubar Square. Am Königsplatz pulsierte das Herz Kathmandus. Er sah den Palast der Malla-Könige, den in den Himmel ragenden Taleju-Tempel, das Bergkloster von Swayambhunath – das mit den vielen fotogeilen Affen – und den Shiva-Tempel am Bagmati-Fluss. Zum Schluss umrundete er in Bodnath mit seiner kleinen Gruppe die ikonische Stupa und steckte bei der Kora einem Pilger in sein Handbrett ein paar Rupien-Scheine, bevor der auf Knien und Händen weiterrutschte. Nachmittags ließ er sich noch auf Empfehlung eines Freundes nach Swayambhu fahren, um im Benchen-Kloster einen persönlichen Gruß zu überbringen. Das tat er und bekam eine Gebetsmühle geschenkt. Die könnte er für sein Cho-Oyu-Vorhaben gut gebrauchen, doch war sie für eine Achttausenderbesteigung Sperrgepäck und musste im Hotel auf ihn warten. Abends konnte er dem Treiben um die Bodnath Stupa noch einmal von der Hotelterrasse zusehen.

In Kathmandu gab es alles zu kaufen, was man zum Besteigen eines Achttausenders brauchte. Klement hatte am Taxistand einen Guide „gemietet“, der ihn durch die Geschäfte der New Street lotste. Denen überließen die jährlichen Everest-, Manaslu-, Lhotse-, Makalu-Expeditionen nach getaner Arbeit ihre nicht mehr benötigte Ausrüstung. Sein Plan war, mit drei Tragekraxen, jede mit 20 Kilogramm beladen, zunächst mit dem Überlandbus von Kathmandu über Bhaktapur nach Lamosangu und von dort mit einem Jeep-Taxi nach Jiri zu fahren. Dort wollte er mit zwei Trägern zu Fuß über den Lamjura-Pass bis Namche Bazaar. Das in einem kesselförmigen Einschnitt oberhalb des Bhote Koshi zwischen zwei Sechstausendern auf 3440 Meter gelegene Sherpa-Dorf lag an einer wichtigen Wegekreuzung. Unten im Tal gabelten sich der Weg entlang des Flusses Bhote Koshi in Richtung tibetische Grenze und Cho Oyu, den Klement gehen wollte, und der entlang des Dudh Koshi flussauf zum Mount Everest. Die meisten Touristen, die in die Khumbu-Region kamen, deren Verwaltungsort der 1600-Seelen-Ort war, übernachteten in Namche Bazaar. Nur von dort aus konnte man telefonieren, ein Telegramm aufgeben, Rupien eintauschen, zum Zahnarzt gehen oder im Notfall per Hubschrauber ausgeflogen werden.

In Namche Bazaar wollte Klement sich mit Lebensmitteln und zusätzlichem Gerät wie Steigeisen, Eispickel, Seilen und Gaskartuschen eindecken und sich mit zwei Sherpas über Thame und den 5716 Meter hohen Nangpa-La-Pass über die Tichy-Route auf die 8200 Meter des Cho Oyu wagen.

Weil Modenfrey gute Handelsbeziehungen zur Volksrepublik China und deren Generalkonsulat in der Sendlinger Hofmannstraße pflegte, hatte Klement eine Sondergenehmigung zur Besteigung des Cho Oyu von tibetischer Seite erhalten. Die nepalesischen Behörden hatten ihm ein Trekking-Permit bis zur Grenze am Pass Nangpa La ausgestellt und die Genehmigung für zwei begleitende Sherpas.

Es war nur noch der am wenigsten geliebte Fensterplatz über der Hinterachse frei gewesen. Als er jetzt eingeklemmt in dem holpernden Bus saß, alle Gerüche der Welt um sich, sein Gepäck auf dem Dach, zog die noch grüne Mahabharat-Kette an ihm vorüber. Im Rhythmus der Busgeräusche döste Klement vor sich hin. Er dachte an seinen Besuch in Island zurück.

Gerade einmal zwei Monate war es her, dass er dort Freyjas Familie kennengelernt hatte und mit Freyja in der Laugavegur schwofen war. Sie hatte ihm die ersten zwei Tage mit viel Leidenschaft Reykjavik gezeigt, die Hallgrimskirche, den Stadtsee Tjörnin und das Konzerthaus Harpa. Sie schleppte ihn durchs Nationalmuseum und zeigte ihm das einzigartige Phallusmuseum mit der weltweit größten Ausstellung von Penissen und Penisteilen. Die Sammlung umfasste 280 Exemplare von 93 Tierarten, dabei 55 Penisse von Walen, 36 von Robben und 118 von Landsäugetieren, darunter auch welche von Trollen und Huldufólk, beides mystische und lichtscheue Wesen der isländischen Fabelwelt.

Am Hafen lag das Reisebüro von Freyjas Eltern, „Special Island Tours“, das Klement eine Wunschroute zusammenstellte. Sie organisierten ihm einen Wal-Beobachtungs-Trip mit einem Zwölf-Meter-Boot, das zweiunddreißig Knoten machte und ihn ein Stück die Panoramaküste entlang brachte. Bei den Puffin-Inseln sah er sie, die Giganten des Meeres, neugierig, friedlich, Begeisterungsfontänen in den Himmel schnaubend.

Am anderen Tag brachte ihn ein kleiner Flieger nach Höfn, dem Hauptort der Gemeinde Hornafjörður im Südosten. Er übernachtete im gastlichen Dyngja. Von dort ging es mit Jeep und Schneemobil auf den höchsten Vulkangletscher. Alles Material, das er brauchte, bekam er gestellt, dazu einen Führer. Der hieß Björn. Auf dem gigantischen Gletscher des Öræfajökull konnte er dann wie seinerseits auf dem Jungfrau-Gletscher das Überleben in Eis und Schnee trainieren. Allein, mit Zelt, denn Björn wollte ihn drei Tage später erst an verabredeter Stelle wieder abholen. Zu ihm hatte er Funkkontakt.

Alles lief nach Plan, sogar das Wetter hatte mitgespielt und er konnte das Überqueren von Gletscherspalten testen und Polarlichter fotografieren. Doch als am zweiten Tag mehrmals die Sonne durch die schnell dahinziehenden Wolken blinzelte und er ein besonderes Fotografierlicht zu haben glaubte, fand er die Leiche von Olaf Johansson. Sie mochte dort, gut konserviert, schon einige Wochen gelegen haben.

Für Klement war die Ursache seines Hinscheidens nicht auf den ersten Blick erkennbar. Als er den Toten aber umdrehte, war dessen hinterer Schädel voll von gefrorenem Blut. Er glaubte an einen Hieb, an Mord.

Die Stelle war flach und alle früheren Spuren zugeschneit. Nur seine lief auf die Fundstelle hin.

Klement hatte bereits den Ausweis aus dem Parker des Toten geholt. Der hatte in der Brieftasche gesteckt. Überall waren nun seine Spuren, ein Desaster. Er funkte Björn an und schilderte das Malheur. Gott sei Dank, Björn kannte den zuständigen Inspektor und verhandelte mit ihm.

Wenig später kam über Funk: Er solle nichts anfassen, das Landekreuz auslegen, das man ihm mitgegeben hatte, dieses gut im Boden befestigen, auf Empfang bleiben und die Sachen packen. Der Inspektor käme mit dem Hubschrauber und nähme sowohl die Leiche als auch ihn mit.

So geschah es.

Der Helikopter war größer als von Klement erwartet und spuckte nicht nur den Inspektor aus, der sich als Einar vorstellte, sondern auch ein Dreierteam, das die Spuren sicherte.

Einar war freundlich zu ihm, musste ihn aber in Hornafjörður festhalten, bis die Laboruntersuchungen abgeschlossen waren.

Vom Guesthouse Dyngja konnte Klement Freyja in Reykjavik und „Special Island Tours“ verständigen.

Einen Tag später war klar, dass der unglückliche Olaf Johansson schon etwa zwei Wochen tot war, bevor Klement ihn entdeckte. Der Däne war mit großer Wahrscheinlichkeit von einem braunen Eisbrocken erschlagen worden. Man hatte das Beweisstück im Schnee gefunden. Von einem Satelliten konnte es nicht heruntergefallen sein. Er war auch nicht vulkanischen Ursprungs, sondern stammte aus der Toilette eines Flugzeugs. Der Fotograf war, ob man es glauben mochte oder nicht, am Rande eines Vulkankraters von einem vereisten Stück Scheiße erschlagen worden. Welch ein zufälliges Zusammentreffen in einer Schnee- und Eiswüste, fragte sich Klement schaudernd.

Klement hatte gewusst, dass der Öræfajökull ein aktiver, subglazialer Schichtvulkan ist, der irgendwann wieder Lava schleudern wird, wie 1728 das letzte Mal. Olav und Klement hatten wissentlich auf einem aktiven Vulkan getanzt und Nordlichter fotografiert. Sie hatten gehofft, dass während ihres Aufenthalts in der Tiefe alles ruhig blieb.

Dass der Luftverkehr in dieser entlegenen Natur Gefahren mit sich brachte, das hatten beide nicht auf dem Radar.

Olafs Tod hatte Klements persönlicher Expedition und seinem Aufenthalt auf der Insel ein ungeplantes Ende gesetzt. Zu seinem Bedauern kam auch noch eine Nachricht aus der Heimat, die Klements baldige Anwesenheit in München erforderte: Hannelore hatte sich nach einem harmlosen Insektenstich am Fuß eine Sepsis zugezogen und musste im Schwabinger Krankenhaus stationär aufgenommen werden. Klement wurde in der Firma gebraucht. Es war das erste Mal gewesen, dass ihm Verantwortung übertragen wurde, das erste Mal, dass Modenfrey seinen Juniorchef in Aktion erleben konnte. Er hatte Semesterferien, Zeit, und es machte ihm Freude, Hannelore zu vertreten und als die rechte Hand von Egmont kleine Aufgaben wahrzunehmen wie Jahresstatistiken erstellen, Kataloge vorsortieren und Modefarben begutachten.

Klements Blick aus dem staubigen Fenster seines farbigen Klapperbusses hatte die Mahabharat-Kette verlassen. Die Straße wand sich über einen Pass, dann ins Sun-Kosi-Tal und mäanderte parallel zum Fluss bis Lamosangu. Folgte man Fluss und Straße, käme man irgendwann in der tibetischen Hauptstadt Lhasa an. Links sähe man den kleinsten der Achttausender am Horizont, den Shisha Pangma.

Klement aber nahm seine drei Rucksäcke am Busbahnhof in Lamosangu in Empfang und fragte nach einem Jeep-Taxi nach Jiri. Ein Junge war ihm behilflich und erhielt ein Trinkgeld für seine Dienste. In Jiri besorgte ihm das Hotel die zwei Träger, die ihn auf dem mehrtägigen Marsch mit schwerem Gepäck über den 3500 Meter hohen Lamjura-Pass nach Namche Bazaar begleiteten.

In Namche Bazaar zahlte er die Träger aus und erholte sich drei Tage.

Im Postamt telefonierte er mit Hannelore.

In Kathmandu hatte er beim Sherpa Service bereits seinen Bedarf angemeldet. Nun fand er in seiner Unterkunft die Kontaktadressen von zwei Cho-Oyu-erfahrenen Sherpas vor.

Pemba, der am Samstag Geborene, stammte aus der Familie des Hillary-Freundes Tenzing, wie er sagte. Er war etwa 40 Jahre alt, wortkarg und gelassen. Lhakpa, der Freitag-Sherpa, war jünger, temperamentvoller und hatte gute Englischkenntnisse. Wie sich herausstellen sollte, verstand Pemba alles, doch sprach er nur ungern Englisch.

Gemeinsam kauften sie auf dem Wochenmarkt die Zusatzausrüstung, Zelte, drei Walkie-Talkies und Lebensmittel. Klement ließ sich von den Sherpas beraten und führte penibel Buch über Gegenstände, Vorräte und Gewichtsverteilung. Das Kochen wollte er ganz den Sherpas überlassen, sie wussten, was an Essen und Trinken notwendig war. Sie sollten ihn bis zum letzten Hochlager begleiten. Den Gipfel wollte er allein besteigen. Das war zwar entgegen der Lesart seiner Permits, aber die Sherpas waren einverstanden. Sie würden ihn bei Gefahr nicht ziehen lassen. Während der Marsch nach Namche Bazaar zum Teil durch ausklingenden Monsunregen erschwert war, sorgten die Wettervorhersagen für die nächsten zehn Tage für Optimismus. So wurde der Vertrag per Handschlag und mit einem Glas Chang, dem örtlichen Bier, besiegelt.

Mühsam war der Anmarsch über die letzte Ortschaft Thame und die im September nicht mehr genutzte Sommerweide Marulung, die bereits 4150 Meter Höhe über Meeresspiegel maß.

Pemba kannte die Schlafplätze und sorgte für ausreichend Pausen.

Als sie unterhalb des Lunag-Gletschers die 5000er-Marke überschritten hatten, die Luft spürbar dünner wurde und der Wind kalt durch die Kleider pfiff, wurden Klements Schritte im Schnee schleppender. Den Nächten in den Steinhütten der Sommerweiden folgten nur noch schlafarme im ewigen Eis. Pemba fand für sie Lagerplätze im Schutze von Felshöhlen, Wechten und Eisgrotten und schützte die Zelte gegen Sturm. Lhakpa warf den Gaskocher an und sorgte für Tee und nahrhafte Reisgerichte.

Die steilen Passagen den Nangpa-La-Gletscher hoch bis auf fast 6000 Meter forderten eiserne Willenskräfte. Während den Sherpas je 25 Kilo Gepäck nichts auszumachen schienen, drückten sie Klement derart ins Kreuz, dass er immer mehr Pausen brauchte. Er trank Unmengen, hatte ständig Hunger und es war das erste Mal, dass er an unerträglichen Kopfschmerzen litt. Die legten sich zum Glück wieder.

Am Grenzpass Nangpa La hatten die drei das ärgste Stück des Anmarsches hinter sich.

Pemba und Lhakpa steckten Gebetsfahnen in den Schnee, um zu danken und die Berggötter gewogen zu stimmen.

In bunte Wollgewänder gekleidete Tibeter kamen ihnen entgegen. Sie trieben mit Waren beladene Yaks durch die Gletscherzone. Die Karawane versorgte den Samstagsmarkt von Namche Bazaar mit Produkten aus China. Alles musste im Land der Sherpas unter härtesten Bedingungen durch Mensch oder Tier über weite Wegstrecken herangeschafft werden. Hausrat wie Teetopf und Pfanne waren beim Leit-Yak links und rechts aufs Gepäck geschnallt.

Nur nach dem Monsun und solange der Schnee gefirnt war, konnten Yak-Karawanen den Pass queren. Im tiefen Schnee kamen die genügsamen Yaks dagegen kaum vorwärts und verbrauchten unnütz Energie. Morgens trug der Schnee und lange noch hörten sie die Yak-Glocken und die Anfeuerungsrufe der Frauen und Männer in den traditionellen Gewändern und hohen Fellstiefeln.

An jenem Tag kämpften sich die drei Träger schwerer Lasten, Klement, Pemba und Lhakpa, über halbwegs windgepressten Schnee bis zur Moräne des Cho Oyu und schlugen dort ihr Lager auf.

Am nächsten Tag stiegen sie bis auf 6200 Meter und erreichten das Tichy Base Camp.

Dort sollte die Höhenanpassung erfolgen und von dort aus wollten sie das Advanced Camp und die Höhenlager eins bis vier erkunden und Zug um Zug einrichten. Vom Camp vier sollte Klement dann den Gipfelsturm wagen.

Alles hing vom Wetter ab und von Klements Kopfschmerzen, die ihn beunruhigten.

Die Männer der Désirée

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