Читать книгу Die Männer der Désirée - Hans-Peter Grünebach - Страница 11

ENGELBLITZ

Оглавление

Es war Frühling. Noch nicht so viele Menschen standen am Chinesischen Turm, am Kleinhesseloher See, in der Hirschau und am Aumeister nach Bier an. Wenige saßen schon auf den Klappbänken und hatten ihre Maß und die mitgebrachte Brotzeit vor sich. Einige waren mit ihren Hunden oder als Jogger unterwegs.

„Help – Hilfe!“, rief es, eine Frauenstimme. Klement trat in die Pedale, hielt an, um die Richtung zu bestimmen, kurvte um den Teich und war vor Ort.

Er hatte in der Mauerkircher Straße eine Diskette abgeholt und wollte auf dem Rückweg zur WG Hannelore besuchen. Weil es trocken war und er eine halbe Stunde zu früh dran war, überquerte er Isarkanal und Fluss am Oberföhringer Wehr, hielt sich rechts, bog beim Amphitheater nordwärts Richtung Aumeister ab und radelte gemütlich am Oberjägermeisterbach entlang.

Beim Schwammerlweiher hörte er den Hilferuf. Er sah niemanden, hielt an und rief „Wo?“

„Hier, hier!“ Die Stimme kam aus einer Buschgruppe auf der Rückseite des Weihers. Schnell war er dort.

Eine junge Frau trat aus dem Gebüsch: flammend rote Strähnen, verschwitztes Sommersprossengesicht mit verschmierter Wimperntusche, eingerissene grüne Jogginghose, Nike-Laufschuhe in Pink, Oberteilfetzen in einer Hand, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie fragte: „Haben Sie eine Jacke?“

Klement hatte seinen Blouson auf den Gepäckträger geklemmt. Er stellte, ahnend was passiert war, das Rad ab und reichte ihr den Blouson am langen Arm mit den Worten: „Ich werde Ihnen helfen. Ziehen Sie das an!“

„Danke, ich wurde überfallen!“

Sie hatte eine helle Stimme und wirkte überraschend gefasst.

„Ich nehme an, der Täter ist geflohen?“

„Ja, dorthin!“

Die rothaarige junge Frau zeigte Richtung Isar.

Eine Verfolgung war zwecklos.

„Kommen Sie! Ich bringe Sie zu meiner Mutter, sie wohnt ganz in der Nähe in der Osterwaldstraße. Sie wird uns zur Polizei begleiten. Ich heiße Klement. Und Sie?“

„Ich bin Freyja und komme aus Island!“

So hatte Klement Freyja, die Studentin der Soziologie und künftige Kriminologin, Fachgebiet Kritische Kriminologie, kennengelernt.

Vom Schwammerlweiher mussten sie ein Stück zurückgehen, auf der Westseite über den Schwabinger Bach und noch einige Meter die Osterwaldstraße entlang.

Mutter Hannelore war nicht erstaunt, dass Klement eine Freundin mitbrachte, aber eine solch ramponierte, die er siezte?

Sie reagierte schnell, holte Wäsche und einen Trainingsanzug von sich, zeigte Freyja das Bad, desinfizierte zwei blutige Schrammen und verpflasterte sie. Hannelore gab Freyja den Rat, sich nicht vor dem Besuch bei der Polizei zu waschen.

„Sie wollen doch Anzeige erstatten?“

„Oh ja!“, sagte Freya sehr bestimmt.

Trotz der Eile gab es erst Tee, Mineralwasser und Zwetschgenkuchen, von Hannelore gebacken. Freyja nahm zwei. Dann machten sie sich auf den Weg.

Da die Polizeiinspektion 13 hinter dem Ungererbad und fast an der Ingolstädter Straße lag, nahmen sie Klements Auto. Es stand wie so häufig vor der Tür.

In der Germaniastraße fanden sie einen Parkplatz und bei der Polizei eine besonnene Beamtin, welche die Anzeige aufnahm und Freyja die Papiertüte mit ihrer Joggingbekleidung abnahm. Sie sagte, dass der Verdacht auf sexuelle Nötigung in Tateinheit mit Vergewaltigung nach Paragraf 177 Strafgesetzbuch und Körperverletzung nach Paragraf 223 und Folgende des Strafgesetzbuchs vorläge.

Eine erste Täterbeschreibung musste Freya zu Protokoll geben. Sie tat dies mit einer solchen Sachlichkeit und Präzision, dass der gegenübersitzende Polizist aufhorchte.

Die Zeugenaussagen von Klement und Hannelore waren schnell aufgenommen. Freyja sollte sich unverzüglich zur weiteren Sicherstellung der Spuren ins Schwabinger Krankenhaus begeben. Sie würde dort erwartet. Ob Herr und Frau Frey sie hinfahren könnten?

„Selbstverständlich machen wir das!“, erklärte Hannelore.

Am nächsten Tag solle Freyja ins Präsidium in die Ettstraße kommen und dort durch die Beauftragte für Kriminalitätsopfer befragt werden. Die würde sie zum Ablauf der Ermittlung, zu den Rechten von Opfern in Deutschland, zu anderen Hilfs- und Beratungsstellen und zur Vorbeugung allgemein und für den akuten Einzelfall beraten. Mit Freyjas Hilfe sollten ein Täterprofil und ein Phantombild erstellt und Fotos aus der Kartei der Sexualstraftäter gesichtet werden. Bis dahin hätten sie vielleicht auch schon die Ergebnisse der Untersuchungen von Kleidung und Körperspuren.

Freyja hatte überaus konzentriert zugehört. Sie nahm die Kontaktadressen an sich und bedankte sich.

In der Notaufnahme des nah gelegenen Krankenhauses wurde Freyja von der leitenden Ärztin persönlich untersucht. Hannelore und Klement warteten draußen.

Freyja hatte Hämatome an Armen, Hals und Beinen, ein paar Kratzer am Rücken, Rötungsspuren auf einer Gesichtshälfte und Abriebnachweise von dem Täter, berichtete sie. Ihr war es gelungen, den Angreifer ihre Fingernägel in die Augenpartie zu bohren und ihn just in dem Moment ein Knie mit aller Kraft in die Hoden zu rammen, als er versuchte, seine Hose zu den Knöcheln zu ziehen. Schließlich beherrschte sie Krav Maga, die wirkungsvollste Selbstverteidigung für Frauen. Allerdings kann man auch in solchen Kursen die Wirklichkeit nur bedingt üben; vor allem wenn der Gegner sehr kräftig ist. Das war er: etwa 1,85 Meter groß, mehr als 80 Kilogramm schwer; sie selbst wog nur 58, bei 1,69 Körperlänge. Allerdings sei sie zäh und normalerweise nicht ängstlich und schreckhaft. Aber von diesem Angriff war sie völlig überrascht worden.

Ein Mann mit einem alten Rad war ihr gefolgt, hatte sie überholt und ihr später hinter einem Baum aufgelauert. Der Überfall geschah blitzschnell. Er hatte sie ins Gebüsch gezogen, ihr dabei den Mund zugehalten und mit unterdrückter Stimme „Kehle durchschneiden“ oder Ähnliches gesagt. Ihr Top hatte er einfach in Stücke gerissen und das Gleiche mit der Hose versucht. Er war erregt. Doch dann hatte er einen Moment nur eine Hand an ihrer Schulter und sie konnte sich aus dem Klammergriff befreien. Er schrie vor Schmerz auf und fluchte in irgendeiner Sprache. Es könnte auch ein Dialekt gewesen sein. In diesem Augenblick bellte ein Hund. Er ließ los, schlug ihr mit der Außenhand ins Gesicht und stand auf. Sie schrie so laut sie konnte „Help, Hilfe!“.

Er erschrak sichtlich, zog seine Hose hoch, packte sein im Gebüsch verstecktes Rad und fuhr in Richtung Isar davon.

Sie rappelte sich auf und prüfte, ob das Top noch tragfähig war – Fehlanzeige.

Dann kontrollierte sie, ob sich Führerschein, Notgeld und Wohnungsschlüssel in der Hosentasche befanden. Ja, der Reißverschluss hatte das Malheur überstanden. Erst danach besah sie sich die blutenden Hautstellen. Ein Knie, ein Ellbogen. Und der Rücken tat weh. Er hatte sie auf den mit Zweigen und Steinen übersäten Boden geworfen.

Hannelore war perplex.

Freyja hatte ihr für nordeuropäische Insulaner typisches Selbstvertrauen wiedergewonnen und damit auch ihren persönlichen Humor. Sie lachte und klopfte sich auf die Schenkel. Ihre Sommersprossen verschwanden hinter Lachfalten, Grübchen bildeten sich an den Wangen und ihre himmelblauen Augen strahlten. Mit aufgesetzt knurriger Stimme sagte sie: „Ich hab ihn erledigt!“

Damit war der Bann gebrochen. Es war klar, dass die Isländerin weder äußerlich noch innerlich nachhaltige Schäden davongetragen hatte.

Hannelore und Klement waren erleichtert und fuhren die Zweiundzwanzigjährige nach Hause.

Freyja bewohnte nähe Emmeramsmühle ein Einzimmerapartment. Sie winkte die beiden hoch in den ersten Stock. Aus dem Kühlschrank holte sie drei Becher Skyr, eine Schale Obstsalat, den sie am Morgen geschnitten hatte, und Milch und legte Löffel dazu. Das müssten die Freys unbedingt probieren, eine isländische Spezialität: „Mit Milch oder Obst essen“, riet sie.

Während Freyja sich umzog, verständigte Hannelore ihren Mann, der sie wahrscheinlich schon auf die Liste der Vermissten gesetzt hatte.

Freyja kam in Jeans, den Rotschopf zum Pferdeschwanz gebunden, und tischte noch Snúður auf: „Snúður sind leckere Zimtrollen mit Zuckerguss. Alkoholika habe ich nicht an Bord. Ich rauche und trinke leider nicht.“

„Dafür brauchen Sie sich wirklich nicht zu entschuldigen, das ehrt Sie eher“, kommentierte Hannelore und blickte dabei Klement an.

„Ist es Ihnen bequem, dass ich die nächsten Tage verbeikomme, um Ihnen Ihre Kleidung zurückzubringen?“

„Gern“, sagte Hannelore, „wir sollten das aber telefonisch verabreden. Mein Mann und ich wechseln uns in der Firmenzentrale ab, damit immer ein Ansprechpartner anwesend ist. Das ist in Familienunternehmen üblich.“

„Das kenne ich von meinen Eltern. Sie haben in Reykjavik eine Firma, die Islandreisende betreut; Gruppen und Individualreisende.“

Freyja sprach gut Deutsch mit einem nordischen Akzent. Sie saß kerzengrade und stolz erhobenen Hauptes auf dem Küchenstuhl. Trotz Jeans und Pulli könnte sie auch eine Stammesfürstin aus dem Reich der Wikinger sein, empfand Klement, eine, die es gewohnt war, auf einem Schild getragen zu werden. Die ihr zustehende Sänfte würde sie für Krankentransporte zur Verfügung stellen.

Freyja erzählte ein wenig von ihrem Studium. Es tat ihr wohl gut, nicht allein zu sein.

„Früher wollte ich Polizistin werden, Verbrechern, von denen es in Island nicht allzu viele gibt, das Handwerk legen.“ Später hatte sie mehr der psychologische Hintergrund einer Straftat interessiert.

„Da es immer das soziale Umfeld ist, das die Menschen prägt, war für mich logisch, erst meinen Studiengang in Soziologie abzuschließen und dann in Kriminologie weiterzumachen. Weil es bei uns viele Touristen aus Deutschland gibt, habe ich von Klein auf Deutsch und Englisch gelernt. So gab es für mich nur die Wahl, nach England oder Deutschland zu gehen. Ich entschied mich für die ‚Weltstadt des Herzens‘, München. Nach sechs Semestern Soziologie an der LMU werde ich mich in Regensburg mit den Ursachen für kriminelles Verhalten und passende Präventivmaßnahmen beschäftigen. Heute hatte ich ein vorgezogenes Praxisseminar.“

Und wieder strahlte sie und lachte. Und wieder sagte sie stolz: „Ich hab ihn erledigt!“

Hannelore freute sich über Freyjas Freude, lächelte aber etwas gequält. Vorsichtig merkte sie an: „Es war doch auch Glück dabei. Der Mann hätte ein Messer oder eine Pistole haben können, nicht wahr?“

„Natürlich, es war auch Glück!“

Einen Augenblick sahen sie Freyja mit dem melancholischen Blick derjenigen, die nicht weiß, ob das Meer den Liebsten heute noch aus seinen stürmischen Fängen freigibt oder ob sie morgen um ihn trauern muss.

Im nächsten Moment lachte sie und noch einmal betonte sie mit drohender Stimme: „Ich hab ihn erledigt!“

Ging man so in Island mit Traumata aus Gewaltverbrechen gegen Frauen um? Steckte in Isländerinnen so viel mehr Selbstständigkeit und Selbstvertrauen, als man es aus Mittel- und Südeuropa kannte?

Hannelore war überrascht und nahm sich vor, mehr über Island zu lesen.

Klement wollte den Vulkan Freyja näher kennenlernen und den 2110 Meter hohen Öræfajökull obendrein.

Was er herausfinden musste: Hatte Freyja einen Freund? Es war wenig wahrscheinlich, dass eine so hübsche Studentin in München lange allein blieb. Andererseits konnten ihr analytischer Verstand und ihre selbstverständliche Autarkie Männer auch auf Abstand halten. Seine Neugier wuchs.

Als Freyja wieder bei Hannelore war, kam er wie zufällig vorbei. Freyja schien sich zu freuen. Er begleitete sie mit dem Rad nach Hause und durfte zum Abendessen bleiben.

Er versprach, ihr in Schwabing seine Kneipen zu zeigen.

In der Tomate war es ihr zu stickig, aber sie fand die Musik gut. Im Drug Store konnten sie sich in Ruhe austauschen. Im Käuzchen war Tanz und sie kamen sich näher. Aber es dauerte noch eine Weile, bevor Klement bei Hannelore vermelden konnte, er habe eine neue Freundin, sie hieße Freyja!

Freyas Studienzeit in München würde mit dem Sommersemester des Folgejahres enden. Dieses Jahr aber flog sie in den Semesterferien heim und Klement mit ihr. Freyjas Eltern wollten ihm ein Vulkan-Tracking ermöglichen.

So kam es, dass Klement Frey am Kraterrand des Öræfajökull fast über eine männliche Leiche gestolpert wäre und dadurch die postume Bekanntschaft mit dem dänischen Fotografen Olaf Johansson machte.

Die Männer der Désirée

Подняться наверх