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I Klement Freys Leben und Sterben PROLOG
ОглавлениеDas Pflaster vor dem Polizeipräsidium war nass. Es nieselte. Schon konnte Hauptkommissar Beppo Steinbeis im Musikladen gegenüber dem Verkauf von Liederbüchern, Notenheften und Blockflöten zusehen. Die Straßenbeleuchtung spiegelte sich im Asphalt. Der November hatte etwas Unfreundliches an sich. Zu viel Grau, zu viel Regen, zu früh dunkel. Den Radlern mutete er zunehmend frostige Fahrten zu.
Steinbeis könnte für die vier Kilometer zum Dienst in die Ettstraße und abends zurück in sein Apartment in der Schwabinger Ainmillerstraße auch die U-Bahn nehmen. Doch weil er bei der Kripo viel Zeit am Bildschirm verbringen musste, gönnte er sich die tägliche Strampelei. Die Bewegung tat dem 42-Jährigen gut. Seit seiner Versetzung von Garmisch nach München vor zwei Jahren waren es nur dienstliche Einsätze, Blitzeis und unzumutbare Baustellen, die ihn daran hinderten. Sogar am Tag der Beförderung hatte er seinen Drahtesel entlang von Leopold- und Ludwigstraße und durch den verkehrsberuhigten Teil der Innenstadt zur Dienststelle gelenkt. Sehr praktisch, denn der Polizeipräsident gab ihm damals nach der Zeremonie frei. Weil eine Kollegin im Einsatz erschossen worden war, war niemandem nach Feiern zumute.
So erreichte Beppo Steinbeis an jenem Tag im April 2006 mit dem Rad sogar die 9.32-Uhr-Bahn, entrichtete bei der Kontrolleurin seinen Obolus und überraschte seine Frau Ilona noch vor 11 Uhr beim Sprachtraining „Chinesisch für Anfänger“.
Zusammen mit den Schwiegereltern Christian und Monika hatten sie sich von ihrem Zweifamilienhaus in Murnau-Weindorf aufgemacht und Sohn Tobias an der Schule aufgepickt.
Sie waren in der Fußgängerzone zusammen Pizza essen gegangen. Der achtjährige Tobi war überglücklich, nicht Schulbus fahren zu müssen und den „Wochenendpapa“, wie er seinen Vater oft nannte, früher als sonst um sich zu haben.
Der Schwiegervater des Kommissars, Christian, hatte damals gedankenvoll sein Weinglas erhoben und gesagt: „Wir gratulieren, Beppo! Hochverdient! Deine Eltern wären stolz auf dich!“
Beppo hatte sich mit einem Toast auf die Gratulanten bedankt und auch seiner Eltern gedacht. Die waren sechs Jahre zuvor bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Sie wollten unbedingt einmal mit einer Concorde über den Atlantik fliegen. Den Enkel konnten sie noch kennenlernen. Doch seinem Aufwachsen zuzusehen und es zu begleiten, das blieb ihnen verwehrt.
Es klopfte.
Beppo Steinbeis, derzeit allein im Büro – Kollege Fred Käferlein hatte Urlaub –, wandte sich vom Fenster zur Tür.
„Herein!“
Frau Bukowski brachte mit dem Handwagen die Post. Den „Rolli“ gab es noch im Präsidium, denn die Akten hatten manchmal beträchtliche Umfänge, Gewicht und Vertraulichkeit. Auch der nostalgische Paternoster hatte die Veränderungen auf der Welt überlebt. Er bot Platz für den Personentransport, für sensible Akten und ihre Bewacherin. Mit Augenmaß und einer gewissen Sportlichkeit konnte sie die Dienstpost zwischen den Stockwerken des Altbaus auf diese Weise schnell verteilen.
Es war Frau Bukowski, die zu Beppo Steinbeis mit nachhaltiger Ignoranz stets „Herr Steinbeißer“ sagte, obwohl der richtige Name auf der Post zu lesen war. Auch hatte er ihr einst geduldig erklärt, dass die Namen zwar den gleichen Ursprung hätten, beide kämen sie von „Steine beißen“, aber sein Name ohne scharfes oder doppeltes s geschrieben würde. Sogar den Verbreitungsraum, Deutschland–Österreich– Frankreich–Großbritannien, hatte er erwähnt – und dass es Blaublütige unter den Steinbeis’ gäbe.
„Leider nicht in Russland bekannt“, entschuldigte sie sich damals. Frau Bukowski war Russlanddeutsche und vertrat im Krankheitsfall Frau Schmidbauer. Der häufte sich, da Frau Schmidbauer 61 Jahre alt war und unter einer Hüftarthrose litt.
Frau Bukowski hatte diesmal nur einen einzigen Aktenordner, ein paar Briefe und eine Umlaufmappe in den Eingangskorb gelegt, der auf dem Sideboard zu seinem Schreibtisch auf Arbeitszugang wartete. Mit einem diensteifrigen „Einen schönen Tag, Herr Steinbeißer“, hatte sie das Zimmer verlassen und die Tür wieder geschlossen.
Der Kommissar nahm den neuen Aktenordner zur Hand. Er war für sein Referat gekennzeichnet. Darüber hinaus stand darauf: „Klement Frey“. Der Polizeipräsident hatte einen Vermerk angeheftet: „Wichtig – bitte Rücksprache!“