Читать книгу Die Männer der Désirée - Hans-Peter Grünebach - Страница 8
BADALONA
ОглавлениеEgmont Frey und Hannelore Frey-Hornung saßen beim Frühstück und lasen die Süddeutsche Zeitung.
„Hast du Töne“, kommentierte Egmond Frey eine Notiz aus den Vereinigten Staaten. „In Florida wurde ein Mafioso, der zur Ermordung von John F. Kennedy aussagen sollte, tot in einem Ölfass vor der Küste aufgefunden. Die Mörder haben ganze Arbeit geleistet. Sie wollten wohl nicht das mindeste Risiko eingehen. Er wurde erdrosselt und erschossen. Zudem waren seine Beine abgesägt, als hätten die Meuchler Angst gehabt, dass ihnen die Leiche im letzten Moment noch davonläuft.“
„Ich finde sein Schicksal, was immer er getan hat, bedauernswert und gar nicht lustig. Dass du dich über solche Nachrichten amüsieren kannst? Typisch Mann, empathielos und ignorant!“
Für Egmont Frey war solche Kritik seiner Frau eine, die er mit Stillschweigen ertrug. Er fragte sich jeweils, ob es sich lohnte zu intervenieren. Egal wie er antwortete, ein Streitgespräch wäre die Folge, das er nur verlieren konnte. Wenn der Streitwert für ihn hoch war, ließ er sich auf eine Debatte ein, dann aber mit Konsequenzen. Aber bei solch unsachlicher Rhetorik machte eine Auseinandersetzung für Egmont keinen Sinn. Er schwieg. Es vergingen Minuten, bis Hannelore Frey-Hornung, den Vorwurf der mangelnden Seriosität zurückgestellt, erneut das Wort ergriff: „Hast du den Bericht über das Münchner Ehepaar gelesen, das in Frankreich bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist?“
„Ja, gestern gab es dazu eine Schlagzeile. Das Kind soll einen mächtigen Schutzengel gehabt haben. Wenn ich richtig gelesen habe, dann war ‚das Wunder von Annecy‘ nicht angeschnallt gewesen, oder?“
„Dafür kann doch der Junge nichts.“
„Gilt nicht seit 1. Januar eine Anschnallpflicht?“
„Ja, sicher, aber willst du den Eltern deswegen einen Vorwurf machen? Das würde aus zweierlei Gründen keinen Sinn ergeben: Erstens könnte er sich ja von den Eltern unbemerkt selbstständig abgeschnallt haben. Zweitens hatte der Junge ein Riesenglück, dass er nicht angeschnallt war. Er scheint so rechtzeitig aus dem Auto gefallen zu sein, dass er den Crash gar nicht mitbekommen hat. Man fand ihn auf einer Wiese und nicht im Autowrack, heißt es im heutigen Bericht. Das Auto haben sie aus dem Fluss bergen müssen. Der Junge ist zehn Jahre alt und soll ins Freimanner Knabenheim. Nur Waisen und Halbwaisen gibt es dort, in riesigen Schlafsälen zusammengepfercht. Mir tut der Bub leid.“
Egmont Frey schwieg.
Seine Frau fragte, ohne ihn dabei anzusehen: „Erinnerst du dich? Wir hatten vor Jahren einmal eine Patenschaft dorthin und lassen dem Heim zu Weihnachten jedes Jahr eine Spende zukommen; sie läuft über das Unternehmen. Ich weiß gar nicht, wie hoch die Summe ist, weißt du es?“
„Nein, aber warum interessiert dich der Fall so sehr? Weil der Junge dir leidtut? Sag es frei heraus!“
„Die Firma Modenfrey wird irgendwann einen Erben benötigen“, sagte Hannelore ohne jegliche Sentimentalität; eher so, als handele es sich um eine Angelegenheit der Firmenraison.
Ihr Mann wurde hellhörig.
Ja, sie hatten keine Kinder und konnten keine bekommen. Die Möglichkeiten, ein Kind zu adoptieren, hatten sie des Öfteren schon erörtert, mit den Jahren auch weniger sentimental, pragmatischer. Was sie bislang von einer Adoption abgehalten hatte, war der unbestimmbare Ausgang. Die Adoption eines Kindes aus Asien war zwar leichter zu bewerkstelligen als die eines deutschen, aber das Ergebnis war schwerer vorhersehbar. Immer wieder hatten sie das Thema vertagt. Gegen eine schnelle Sache mit einem asiatischen Baby hatten sie einige Vorbehalte. Bei einem kulturell entwurzelten Kind wisse man nie, welchen Widerständen es später ausgesetzt sei. Sein Anderssein würde es ja nicht verstecken können. Und niemand könne seine Veranlagung vorhersagen – vom Wunderkind bis zu einem Kind mit geistiger Behinderung. Würde man in letzterem Fall das eigene Leben neuen Umständen anpassen, Lebensträume und berufliche Ziele zurückstellen? Was, wenn die Begabung nicht für eine höhere Schule und ein Studium ausreichte?
Vielleicht könnte man mit einem schon grundentwickelten deutschen Kind besser in die Zukunft schauen? Er oder sie hätten bereits Schulzeugnisnachweise und Erzieher, die Auskunft zu Charakter und Eignung geben können.
Egmont Frey war Pragmatiker. Wenn seine Frau in ein Thema so einstieg, hatte sie ihm Kenntnisse voraus.
„Können wir Näheres zu dem Jungen erfahren?“
„Du weißt ja, dass auf ein Kind sieben Bewerber kommen. Sollten wir eine Adoption wollen, gilt es keine Zeit zu verlieren. Wir müssten nachweisen, dass wir die ‚bestgeeigneten Adoptiveltern‘ sind. Deshalb hab ich im Heim angerufen und Auskunft bekommen, da wir dort bekannt sind. Der Knabe Klement hat gute Schulnoten und er ist technisch interessiert. Beim Jugendamt wäre man sehr glücklich über eine rasche Adoption, der Junge braucht neue Eltern und eine therapeutische Begleitung seines Traumas. Eine Elternschaft, die Zeit für ihn hat und für Ablenkung sorgt, täte ihm gut.“
„Du hättest mich vorher fragen sollen!“
„Sei nicht kleinlich. Es ist ja nichts passiert und ein Kontakt mit dem Jungen hat nicht stattgefunden. Ich habe nur recherchiert. Was ich noch herausgefunden habe: Den Jungen hat der ADAC in Annecy bereits abgeholt und ins Schwabinger Krankenhaus überführt. Wir könnten ihn besuchen. Er wird dort auf der Kinderstation mehr wegen des traumatischen Erlebnisses überwacht. Er hat offensichtlich keine Brüche, nur ein paar Schrammen und kann sich erinnern. Es liegt also keine Amnesie vor. Er sagt, er habe auf der Rückbank geschlafen und sich dazu in Decken eingewickelt. Ob die Eltern bemerkt hatten, dass er sich abgeschnallt hatte, das wisse er nicht. Der Bub macht sich Sorgen um seine Katze; sie heißt Hadubald. Woher der Name kommt? Ich weiß es nicht. Wir könnten das Tier in Pflege nehmen. Das würde einen ersten Kontakt schaffen. Noch eine Sache könnte für uns von Interesse sein: Die verstorbenen Eltern sind die Besitzer des großen Trachtenladens im Tal, du weißt schon. Grundsätzlich erlöschen ja bei Adoption die alten Verwandtschaftsverhältnisse des Kindes zu seiner Herkunftsfamilie und die damit verbundenen Rechte und Pflichten. Andere würden den Laden und das Vermögen erben. Es gibt keine Geschwister, aber die verstorbenen Eltern haben je eine Schwester. Man müsste den Verwandten ein gutes Angebot unterbreiten, das sie annehmen. Es gälte, eine Situation herzustellen, als wäre er Alleinerbe der Adoptiveltern. Alles würde dann zum Wohl des Kindes gereichen und das Jugendamt und den bestellten Vormund überzeugen. Als seine Adoptiveltern könnten wir diesen Erbteil so regeln, dass wir das Geschäft bis zu seiner Volljährigkeit für ihn weiterführen. Eventuelle Kredittilgungen müssen wir übernehmen. Die Geschäftsgewinne geben wir auf ein Treuhandkonto, auf das er am Tag seiner Volljährigkeit Zugriff hat, wie auch auf den Laden. Nach dem Abitur kann er bereits sein Studium selbst finanzieren. Die frühe Verantwortung wäre eine gute Schule für einen selbstständigen Unternehmer. Für den Eintritt in das Geschäftsleben bei Modenfrey hat er, in Verbindung mit einem Betriebswirtschaftsstudium und einem Volontariat, dann die passenden Voraussetzungen. Das wäre auch im Sinne des Unternehmens und für ihn eine fürsorgliche Lebensplanung. Was hältst du von der Idee?“
Egmont Frey hatte es die Sprache verschlagen. Was sollte er noch sagen? Seine Frau hatte ihm einen Plan ausgebreitet, wie er ihn nicht besser hätte strukturieren können.
„Lass uns eine Nacht darüber schlafen! Was ist, wenn er sich gegen das Unternehmen entschiede? Ich brauche Bedenkzeit.“
Egmont Frey wich einer sofortigen Entscheidung aus Prinzip aus. Er hatte mit dem Verfahren der Vierundzwanzig-Stunden-Denkpause gute Erfahrungen gemacht.
Seine Frau Hannelore hatte aus Mimik und Art der Antwort längst entnommen, dass ihr Mann im Prinzip einverstanden war. Er wird wohl auf einer Pflegeprobezeit bestehen. Die ist sowieso verpflichtend. Ganz sicher wird er den Jungen ein Wochenende bei sich zu Hause haben wollen, bevor er zustimmt.
Am nächsten Morgen trat ein, was Hannelore Frey-Hornung von ihrem Mann erwartet hatte.
Es verging ein Monat. Dann kam das Wochenende, an dem sie aneinander Gefallen fanden.
Die Freys, beide Mittdreißiger, zeigten dem Jungen ihre Münchner Produktions- und Verkaufsstätten. Klement fand zur Freude von Egmont und der Belegschaft Interesse an den Webmaschinen. Er kannte ja nur die Produkte im Laden der Eltern.
Sie machten einen Ausflug nach Hellabrunn in den Tierpark. Den Kater Hadubald hatten die Freys schon in Pflege genommen, als Klement in den langen Fluren der Klinik herumsprang. Oft musste er von den Schwestern eingefangen werden wie in einem Versteckspiel. Die orthopädische Abteilung, die mit den vielen geschienten Beinen und Armen und dort besonders die Patienten mit einem Thorax-Gips nach einer Schulterverletzung, hatte es ihm angetan. Kurzzeitig wollte er Chirurg werden. Wenig später hatte er sich für den verantwortungsvollen Beruf des Pflegers entschieden, dann wieder besann er sich auf Geschäftsführer im Trachtenmodeladen der verstorbenen Eltern. Das würden Papa und Mama von ihm erwarten. Und sie sähen ihm ja aus dem Himmel zu.
Als Klement das erste Mal in der Frey-Villa zu Besuch war, begeisterte ihn, dass es Hauspersonal gab und er deshalb niemals mehr allein sein würde. Auch könne er von der Osterwaldstraße aus mit dem Rad in die Schule fahren, wenn er demnächst ins Gymnasium ging, erzählte er der Tante vom Jugendamt.
Als Klement später mit den neuen Adoptiveltern, dem amtlichen Vormund, der Tante vom Jugendamt, dem Hausnotar von Modenfrey und einem juristischen Erbenvertreter der verstorbenen Eltern beim Aushandeln von irgendwelchen Urkundentexten saß, langweilte er sich sehr.
Er hatte seinen Kater auf dem Schoß und blickte schon auf Erinnerungen mit den neuen Eltern zurück. Sie konnten ihm seine alten nicht ersetzen; oft noch war er sehr traurig. Aber der Trip mit ihnen nach Garmisch in der Limousine mit Chauffeur, die Fahrt mit der Kabinenbahn aufs Kreuzeck und die Bergtour zu den Osterfelderköpfen war Spitze. Mama Hannelore hatte ihn auf einem Felsen mit der dreieckigen Alpspitze im Hintergrund fotografiert. Das Bild hing jetzt in seinem Zimmer an der Wand. Er durfte in den Restschnee springen, mit Egmont Schneebälle werfen und auf der Suche nach seinem Echo „Klement“ rufen.
Diese Bilder standen auf dem Nachttisch und begleiteten ihn in den Schlaf. Vom Gipfel hatte er auf eine nie zuvor gesehene Welt von Bergspitzen, Kars und Tälern geblickt. Der Himmel war blau. Die Sonne wärmte und warf Farben und Schatten auf Felsen und Schneefelder. Mit dem Fernglas konnte er an der Riffelscharte Gämsen beobachten.
Das war es, was er wieder machen wollte: auf Berge steigen und die Welt dort oben erkunden.
In der Hochalm gab es feinen Kaiserschmarren.
Sie ruhten in hölzernen Liegestühlen aus Segeltuch.
Ein Raubvogel hatte über Klement seine Kreise gedreht. Verschwommen war die letzte Autofahrt mit Papa und Mama wieder aufgetaucht, mit dem Adler, am Pass.
Wie in einer Bobbahn glitt das Auto ins Tal. Wie von unsichtbarer Hand gehoben, flogen sie plötzlich dahin. Der Adler hatte das Auto in seine Fänge genommen. Für eine geraume Weile schwebten sie in einer Gondel. Der Adler krächzte, dass das Gummiboot zu schwer sei. Er müsse sie sofort loslassen. Sie stürzten und wieder hörte Klement den Schrei seiner Mutter.
Hadubald miaute. Klements Augen blickten erschrocken in die Runde.
Die Erwachsenen hatten ihre Urkunden unterzeichnet und lachten. Sie lachten über ihn.
Er war wieder hellwach.
Von nun an hieß er Klement Frey.