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DER BETENDE MENSCH Verbunden und frei
ОглавлениеDer Mensch spürt in sich zwei Grundimpulse: Sich-Entwickeln und In-Verbindung-Sein. Irena ist mit ihrem kleinen einjährigen Mischko bei mir. Während wir miteinander reden, krabbelt er umher, hält sich am Tisch fest und steht auf, schaut, was wir tun. Dann gleitet er wieder auf den Boden zurück und packt die Tasche aus, die Mama mitgebracht hat. Da sind Holzstöckchen drin, ein Buch mit vielen Bildern, Salzstangen. Da gibt es etwas anzupacken, etwas zu schauen und etwas, das man in den Mund stecken kann. Mischko entdeckt die Welt um sich herum, probiert sie aus, erobert sie. Dann tappt er wieder zu Mama. Er braucht die Gewissheit, dass Mama da ist, auch und gerade, wenn sie mit mir spricht. Diese umarmt Mischko, streichelt ihn. Man sieht es ihm an: Er genießt die Verbindung mit Mama. So sind wir – nicht nur Mischko: Wir brauchen Handlungsspielraum und Hautkontakt, Freiheit und Verbundenheit. So ist es auch bei Jesus: Er ist bei den Leuten, spricht, handelt, berührt sie – und sucht die Verbindung zum Vater.
„Die einzige Beziehungsform, in der beides, also die Verbundenheit und Freiheit, gleichzeitig erlebbar wird, ist die Liebe … Um ein Liebender, eine Liebende werden zu können, bedarf es einer Transformation. So schwer ist diese Transformation gar nicht, denn wir alle sind ja bereits mit der Erfahrung auf die Welt gekommen, dass es möglich ist, gleichzeitig aufs Engste mit einem anderen Menschen verbunden und doch jeden Tag ein Stück über sich hinausgewachsen zu sein“ (Hosang M./Hüther G., Die Liebe ist ein Kind der Freiheit, 107). Der Mensch, der betet, lässt sich von Gott, der die Liebe ist und die Liebe der Menschen zueinander will, transformieren, verwandeln.
„Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch“ ist „als dialogisches Freiheitsverhältnis zu bestimmen, in dem Gott allein mit den Mitteln der Liebe versucht, die Liebe des Menschen zu gewinnen“ (Stosch K. v., Gott – Macht – Geschichte, 23; zitiert aus: Amor C. J., Die Verborgenheit Gottes, in: Theologie der Gegenwart 2012/4, 296). Zwischen Gott und Mensch besteht ein dialogisches Freiheitsverhältnis. Im Gebet bewegt sich der Mensch im Freiheitsraum zwischen seinem Selbst und Gott. Im Gebet kehrt sich der Mensch Gott zu, der sich seinerseits auf den Menschen zu bewegt. Im Gebet öffnet sich der Mensch Gottes entgegenkommender Liebe. Gott ist ein Gott aller. Er wünscht sich Mitliebende. In der Hinkehr zu Gott, die sich im Gebet vollzieht, lässt sich der Mensch in einen Mitliebenden verwandeln. Beten und Leben, Beten und Lieben gehören zusammen.
Wer bin ich im Gebetszustand? Es lassen sich unterschiedliche Gebetszustände wahrnehmen: sich öffnen, hören, sich aussprechen, in Fülle da sein, jammern … Was haben diese Zustände gemeinsam? Dass ich in Beziehung mit einer Wirklichkeit bin, die ich nicht sehe! Symbole, Bilder, Ikonen, Figuren, Räume, aber auch Schweigen, Körperhaltung und achtsames Atmen können Stützen für meine Sinne sein. Im Gebet bejahe ich mich als Wesen, das aus einer mich überschreitenden Beziehung lebt. Im Gebet lebe ich meine Tiefenwirklichkeit als Mensch: Ich bin Beziehung. Ich bin Beten. Ich realisiere im Beten mein Sein als Mensch und mein Sein als der konkrete „Hans“. Im Beten sage ich „Ja“ zu meinem Geworden-Sein aus der Entscheidung Gottes für mich gegen das Nichts und gegen das Nicht-Existieren dieses „Hans“.
„Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden …“ (Joh 1,12). Im Beten übe ich meine „Macht“ aus: Ich sage und spüre mit Jesus: „Abba“ (Papa). Sage ich es? Oder sagt es der Geist in mir? In meiner Seele und durch meine Sinne. – Ich bin Bruder Jesu. So habe ich die Voll-Macht, zu Jesus im Nächsten innerlich „Du“ zu sagen. Jesus ist das Geheimnis jedes und jeder Anderen: Jesus als Fremder und Bruder im Menschenbruder, in der Menschenschwester. Beten ist eine Form zu lieben – Gott und den Nächsten – und Lieben ist eine Form zu beten. Es gibt verschiedene Vollzüge des Betens: Beten kann heißen, in mir bei Gott zu sein – in Ihm „ruht meine Seele“ –, und kann heißen, in den Anderen bei Gott zu sein – im Paradies des Anderen.