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Zeichen der Frömmigkeit
ОглавлениеDas verdeutlichen auch die kirchlichen und fürstlichen Sammlungen des Mittelalters. Sie bilden die unmittelbaren und historisch erfahrbaren Wurzeln des ästhetischen Sammelns der Neuzeit und stehen damit am Übergang zum Kunstsammeln der Neuzeit. Was seit dem frühen 19. Jahrhundert vornehmlich als Zeugnis mittelalterlicher Kunst in privaten Sammlungen und öffentlichen Museen gesammelt wurde, stammte oft aus Kirchenschätzen und wurde aus ihrem ursprünglichen Funktionszusammenhang oder Bewahrungsort herausgenommen. Was in den Kirchenschätzen als Reliquien und als Gaben frommer Stifter eher zufällig zusammengetragen worden war, galt in seiner Zeit zunächst als sichtbares und bleibendes Zeugnis der Fürbitte und Frömmigkeit bzw. der Erwartung auf Barmherzigkeit und Heilsvermehrung. Ein Medium in dem Dialog der Heiligen und der irdischen Sünder, der Toten und der Lebenden. Neben Reliquienbüsten und Knochenbehältern begegnen uns darum geschnittene Steine, die an geweihter Stelle als Schmuck an Reliquienkästen oder Schreinen angebracht sind. Zugleich kündigen die Kirchenschätze des Mittelalters künftige Formen des Sammelns und Zeigens an, auch wenn sie die Objekte zunächst deswegen aufbewahren wollten, weil sie das Wunderbare und Fremde verkörperten. Damit nahmen sie zugleich Elemente der späteren Kunst- und Wunderkammern vorweg, ohne freilich deren Ordnungskonzept zu teilen.
Reliquiarium de St. Louis. Reliquienschreine und heilige Gefäße dienten nicht nur dem liturgischen Gebrauch, sie gehörten zu den Kostbarkeiten, die in den Schatzkammern von Kirchen und Abteien, wie hier in St. Denis, von kirchlicher Macht und mittelalterlicher Frömmigkeit zeugten.
Ein glänzendes Beispiel für ein solches Nebeneinander des Heiligen und des Fremden bzw. Wunderbaren stellte der Schatz von S. Marco in Venedig dar, der als Folge der Kreuzzüge kunstvolle Raritäten und Kuriositäten wie Elfenbeinhörner und Narwalzähne aufbewahrte. Darüber standen in dem kirchlichen Wert- und Ordnungssystem freilich die Objekte des Heiligen. Edle Materialien aus der römischen Antike oder aus exotischen Welten wurden vor allem deswegen aufbewahrt und gepflegt, weil sie sich in hervorragender Weise zum Schmuck oder zur Nobilitierung von christlichen Kultgegenständen eigneten. Am Aachener Lotharskreuz, das um das Jahr 1000 von Otto III. gestiftet wurde, verleiht ein großer antiker Kameo mit dem Bild des lorbeergekrönten Kaisers Augustus, der auf der Rückseite eines Kreuzes angebracht ist, dem auf gleicher Höhe befindlichen Christus eine zusätzliche Bekräftigung seines Triumphes. Das antike Kunstwerk steht zudem symbolisch für die Legitimation weltlicher Macht. Denn mit der Ausgestaltung des Lotharskreuzes wird die Verschränkung von göttlicher und weltlicher Macht zum Ausdruck gebracht. Das antike Augustusbild steht für die Kontinuität der weltlichen Macht des mittelalterlichen Kaisers, dessen Ahnenreihe bis in die römische Kaiserzeit reicht. Das Kreuz ist zudem Zeichen göttlicher Souveränität.
Auch scheinbar banale Objekte wie Becher, Krüge oder Kästchen wurden als Reliquienbehälter Teil eines kirchlichen Schatzes; noch mehr die Reliquien selbst, die als sakrale Objekte zum Träger einer magischen Präsenz wurden und in Altären und Schreinen den Schatz einer Kirchengemeinschaft bildeten, unabhängig von der Art und Weise ihrer Materialität und ihrer gelegentlich auch gewaltsamen Aneignung. Sie wurden in der religiösen Praxis zu Medien einer dauerhaften Kommunikation mit den Heiligen und auf einer kulturellen Ebene zu Zeichen der Gottgefälligkeit und Frömmigkeit einer Kirchengemeinde. Zugleich wurde den fremdländischen Stoffen und Objekten auch eine gewisse Wunderkraft und bei Hofe wie bei Kirchenfürsten auch ein Schutz vor Vergiftungen zugeschrieben. Der Kirchenschatz trat nicht nur aus der Sphäre des Alltäglichen heraus, er wurde zugleich zum Medium zwischen dem Diesseitigen und Jenseitigen, zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren.
Zusammen mit dem liturgischen Gerät, den Bechern und Pokalen, den Leuchtern und geschmückten Codices, den Paramenten und Kleinodien, aber auch zusammen mit den Madonnen- und Wunderbildern und vielen anderen Gegenständen, die aus Stiftungen in den Besitz der Kirchen gelangten, waren sie Zeugnisse religiöser Frömmigkeit und kirchlicher Autorität. Der Kirchenschatz zeugte von göttlicher Fügung und war Sinnbild der Opfergabe für kommende Generationen. Durch die Überführung vieler Objekte aus dem Kirchenbesitz in das Museum vor allem im frühen 19. Jahrhundert, aber auch durch ihre Rettung vor der Zerstörung durch Bilderstürme und die Auflösung von Klöstern in der Säkularisation wurden sie, vielfach durch kenntnisreiche private Sammler aufbewahrt, zum Grundstock vieler Museen. Zu deren Beständen gehören ebenfalls Andachtsbücher und -bilder sowie Messtexte, die ursprünglich für die private Hausandacht geschaffen worden waren. Vor allem ihre oft künstlerisch anspruchsvolle Ausgestaltung trug unter den veränderten Bedingungen der beginnenden Moderne dazu bei, dass sie nun aufbewahrt und tradiert wurden.